S 9 AS 146/06 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 9 AS 146/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. 2. Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt N. wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Die Antragsteller (ASt), geb. 1990 und 1993 sind Schüler. Sie leben gemeinsam mit ihrer Mutter und deren Lebenspartner N. D. in einem Haushalt. Bis 31.10.2006 bezogen alle vier Personen Leistungen nach dem SGB II.

Ab dem 01.11.2006 verneinte die Antragsgegnerin (Ag’in) einen Anspruch und lehnte den Fortzahlungsantrag der ASt ab (Bescheid vom 3.11.2006). Seit dem 1.8.2006 sei das Einkommen des Lebenspartners bei allen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft, also auch den ASt zu berücksichtigen. Dies führe zum Wegfall der Hilfebedürftigkeit.

Den Widerspruch begründeten die ASt unter Hinweis auf Art 6 des Grundgesetzes (GG). Der Lebenspartner werde zum Unterhalt für Kinder verpflichtet, denen er nicht unterhaltspflichtig sei. Die Ag’in wies den Widerspruch zurück (Bescheid vom 27.12.2006). Ein Klageverfahren ist bisher nicht anhängig.

Die ASt tragen vor, der Lebenspartner ihrer Mutter sei nicht bereit, ihnen Unterhalt zu leisten. Sie könnten den Unterhaltsanspruch auch nicht durchsetzen, da er nicht bestehe. Sie beantragen sinngemäß,

die Ag’in im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen Leistungen nach dem SGB II ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen des Herrn N. D. zu zahlen.

Die Ag’in beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Ohne Anrechnung des Einkommens von Herrn D. hätten die ASt einen Anspruch von 169,65 EUR (D. X.) bzw. 130,46 EUR (N. X. ). Die Ag’in habe aber geltendes Recht anzuwenden. Nach § 9 Abs. 2 SGB II sei das Einkommen von Herrn D. anzurechnen und bestehe kein Anspruch.

II.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sind nicht gegeben.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Haupt-sache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Ab-wendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen An-ordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungs-grundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Der geltend gemachte Hilfeanspruch (An-ordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund), die Eilbedürftigkeit, sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Ein Anordnungsanspruch ist nicht glaubhaft gemacht. Die Einkommensverhältnisse der Ast, ihrer Mutter und des Partners der Mutter sind geklärt. Nach zutreffender und von den ASt nicht bestrittener Berechnung besteht kein Anspruch, wenn das Einkommen des Herrn D. auf den Leistungsanspruch der ASt anzurechnen ist. Dies ist aber nach § 9 Abs 2 in der seit 1.8.2006 geltenden Fassung der Fall.

Nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 a) SGB II gehört zur sog. Bedarfsgemeinschaft als Partner der er-werbsfähigen Hilfsbedürftigen (hier: der Mutter der Ast.) eine Person, die mit dem erwerbs-fähigen Hilfsbedürftigen in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinan-der zu tragen und füreinander einzustehen (§ 7 in der ab dem 1. August 2006 geltenden Fassung, vgl. Art. 1 Nr. 7 a) und b) sowie Art. 16 Abs. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006, BGBl. I, 1706f, 1720). Bei un-verheirateten Kindern, die mit in der Bedarfsgemeinschaft eines Elternteils mit einem Part-ner leben, sind gemäß § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit auch das Einkommen und Vermögen des Partners des Elternteils zu berücksichtigen.

Nach der Rechtsprechung des BVerfG (Entscheidungen vom 17. November 1992 und 2. September 2004 - 1 BvR 1962/04) ist unter o.g. Beziehung eine Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau, die auf Dauer angelegt ist, daneben keine weitere Lebensgemeinschaft gleicher Art zulässt und sich durch innere Bindungen auszeichnet, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner füreinander begründen, also über die Bezie-hungen in einer reinen Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgehen, zu verste-hen. Vom Vorliegen dieser Voraussetzungen in Bezug auf die Mutter der ASt und Herrn D. ist auszugehen, da die Beteiligten insoweit übereinstimmend vortragen.

Die Anrechnung von Einkommen und Vermögen unter Partnern von sog. eheähnlichen Gemeinschaften ist mit dem Grundgesetz vereinbar (BVerfG, zB Urteil vom 17. November 1992 - 1 BvL 8/87 zum insoweit vergleichbaren Recht der Arbeitslosenhilfe, Sächsisches Landessozialgerichts, Beschlüsse vom 1. April 2005 - L 3 B 30/05 AS-ER und 1. August 2005 - L 3 B 94/05 AS-ER, ebenso SG Leipzig, 07.11.2006, S 19 AS 1571/06 ER). Dies gilt in gleicher Weise für die Fälle des § 9 Abs. 2 S. 2 SGB 2, denn für zu einer Einstandsge-meinschaft gehörende Kinder gilt nichts anderes.

Beim Zusammenleben mit gemeinsamen Kindern handelt es sich um den klassischen Fall einer eheähnlichen Gemeinschaft. Denn Kinder setzen in größerem Maße eine gemeinsa-me Lebensgestaltung und -planung voraus und schaffen Abhängigkeiten unterschiedlich-ster Art auch der Partner voneinander. Partner, die gemeinsam Eltern ihrer Kinder sein wollen, werden regelmäßig für die Familie, also auch füreinander sorgen wollen (vgl. zum vorstehenden SG Leipzig, 07.11.2006, S 19 AS 1571/06 ER mwN.).

Diese Überlegungen gelten aber auch für umgekehrte Fallkonstellationen wie die hier vor-liegende. Zur Bedarfsgemeinschaft iS des § 7 Abs 3 SGB 2 gehören zB. auch Stiefkinder, also Kinder nur eines Ehepartners. Auf das Bestehen einer gesetzlichen Unterhaltspflicht kommt es dabei nicht an, weil das Gesetz - wie auch bei eheähnlichen Partnern - davon ausgeht, dass die Partner einer Einstandsgemeinschaft zu deren Einkommen auch ohne rechtliche Verpflichtung beitragen (Sächsisches Landessozialgericht, 15.09.2005, L 3 B 44/05 AS-ERA). Diese Überlegungen treffen in gleicher Weise auf Lebenspartner in Ein-standsgemeinschaft zu, die mit Kindern nur eines von ihnen zusammen leben. § 9 Abs 2 S. 2 SGB 2 knüpft insoweit nicht an eine Unterhaltspflicht, sondern an als regelhaft ange-

nommene tatsächliche Verhältnisse an. Dass dies im individuellen Falle der ASt anders sein soll, sieht das Gericht nicht als glaubhaft gemacht an, auch wenn Herr D. sich nach dem Antragsvorbringen weigert, für den Unterhalt der ASt aufzukommen. Nach Aktenlage ist das Gegenteil der Fall (und insoweit angesichts der den ASt zusätzlich zufließenden Kindergeld- und Unterhaltseinkünfte auch ein Anordnungsgrund wohl nicht gegeben), denn nach den bisher der Ag’in gegenüber gemachten Angaben zahlt Herr D. die Hälfte der Miete und Heizkosten und geht im Wechsel mit der Mutter der ASt für alle einkaufen.

Worin bei dieser Sachlage, wie die ASt meinen, ein Verstoß gegen Art. 6 des Grundge-setzes liegen soll, wird von diesen nicht näher begründet und erschließt sich dem Gericht nicht. In der Literatur wird die Regelung für verfassungsrechtlich bedenklich gehalten, weil sie die Handlungsfreiheit des nicht unterhaltsverpflichteten Partners einschränke und die-sen womöglich selbst hilfebedürftig werden lasse (DGB-Bundesvorstand, Informationen zum Arbeits- und Sozialrecht, SGB II und SGB III, 31.8.2006). Das unterscheidet den un-verheirateten Partner aber nicht von einem betroffenen Ehepartner, dessen Einkommen im SGB II ebenfalls nicht nur in den Grenzen seiner familienrechtlichen Unterhaltsverpflich-tung oder bestehender Vollstreckungsgrenzen in Anspruch genommen wird. Eine staatli-che Fürsorgeleistung an tatsächliche Hilfebedürftigkeit zu knüpfen und diese dort zu ver-neinen, wo ein Eintreten Dritter aufgrund rechtlicher oder moralischer Verpflichtung typi-scherweise erwartet werden kann, begegnet aus der Sicht des erkennenden Gerichts keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Der hier zu entscheidende Sachverhalt gibt zu weitergehenden Überlegungen, ob Fallge-staltungen denkbar sind (z.B. im Verhältnis zu volljährigen Kindern), in denen diese Typi-sierung trotz festgestellten Bestehens einer Einstandsgemeinschaft eines Elternteils mit einem Partner bedenklich ist, keinen Anhaltspunkt.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG, die Ablehnung des Prozesskostenhil-feantrags wegen mangelnder hinreichender Erfolgsaussicht des Antrags (§ 114 ZPO), insbesondere mangels Glaubhaftmachung tatsächlich fehlender Unterstützung der ASt durch Herrn D.
Rechtskraft
Aus
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