L 12 AL 3541/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 9 AL 2081/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AL 3541/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 29.5.2006 wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist im Berufungsverfahren noch die Erstattung der von der Beklagten während des Arbeitslosenhilfebezugs des Klägers geleisteten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung.

Der Kläger bezog von der Beklagten vom 29.4.1997 bis 31.3.2003 Arbeitslosenhilfe (Alhi). In dem Anträgen vom April 1997, März 1998 und März 1999 hatte der Kläger jeweils angegeben, über kein Vermögen zu verfügen. Am 6.4.2004 erfuhr die Beklagte (Agentur für Arbeit R.), dass Ermittlungen des Finanzamts und und des Hauptzollamts S. ergeben hätten, dass der Kläger und dessen Ehefrau in den Jahren 1994 bis 2000 bei türkischen Banken über Kapitalvermögen in Höhe zwischen 304.000 DM (1994) und 46.000 DM (2000) verfügt hätten.

Nach vorheriger Anhörung hob die Beklagte mit Bescheid vom 23.3.2005 die Alhi-Bewilligung für die Zeit vom 29.4.1997 bis 31.3.2003 auf und forderte die Erstattung der in der Zeit geleisteten Alhi in Höhe von 22.294,49 Euro sowie in dieser Zeit geleisteter Beiträge zur Krankenversicherung in Höhe von 5617,59 Euro und zur Pflegeversicherung in Höhe von 703,29 Euro. Der Kläger habe in der gesamten Zeit über ein Guthaben in Höhe von umgerechnet 221.836,25 Euro bei der türkischen Nationalbank verfügt. Die Entscheidung über die Bewilligung von Alhi sei zurückzunehmen, da der Kläger in seinen Anträgen jeweils jedenfalls grob fahrlässig falsche Angaben gemacht habe. Die zu Unrecht geleistete Alhi sei zu erstatten. Die Anordnung der Erstattung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung beruhe auf § 335 Abs. 1 SGB III. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 7.7.2005 mit der Begründung zurück, der Kläger könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, weil er mindestens grob fahrlässig falsche Angaben gemacht habe. § 330 Abs. 2 SGB III verpflichte die Beklagte, den Bewilligungsbescheid für die Vergangenheit zurückzunehmen. Die Fristen für die Rücknahme seien gewahrt.

Gegen den am 11.7.2005 zugegangenen Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 11.8.2005 Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben. Er hat im wesentlichen wiederholend vorgebracht, ihm müsse Vertrauensschutz zugebilligt werden. Dies vor allem auch, weil der Bewilligungszeitraum bereits acht Jahre zurückliege. Es liege eine fehlerhafte Ermessensentscheidung der Beklagten vor. Nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Schreiben vom 10.1.2006 hat das SG durch Gerichtsbescheid vom 29.5.2006 den angefochtenen Bescheid insoweit aufgehoben, als darin die Erstattung von Beiträgen zur Krankenversicherung sowie zur Pflegeversicherung angeordnet ist. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Klage sei teilweise begründet. Der Bescheid vom 23.3.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7.7.2005 sei insoweit rechtswidrig, als darin die Erstattung geleisteter Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung angeordnet worden sei, da hierfür eine gesetzliche Grundlage fehle. Anders als in der bis 31.12.2004 geltenden Fassung sei in der seit 1.1.2005 geltenden Neufassung des § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III nur mehr von der Rückforderung von Krankenversicherungsbeiträgen der Bundesagentur für Bezieher von Arbeitslosengeld und Unterhaltsgeld, nicht mehr dagegen für Bezieher von Alhi die Rede. Nach dem eindeutigen Wortlaut bestehe daher eine Grundlage für die Rückforderung von Beiträgen zur Krankenversicherung und demnach gem. § 335 Abs. 5 SGB III auch für die Rückforderung von Beiträgen zur Pflegeversicherung seit dem 1.1.2005 nicht mehr. Zwar liege die Vermutung nahe, dass der Gesetzgeber, der die Änderung des § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III ausweislich der Begründung des Entwurfs des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt lediglich als redaktionelle "Folgeänderung zur Aufhebung der Vorschriften über die Arbeitslosenhilfe auf Grund der Einführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende im Zweiten Buch " (BT-Drucks. 15/1516, S. 71) angesehen habe, Fälle wie den vorliegenden, in dem nachträglich die Bewilligung von vor dem 1.1.2005 geleisteter Alhi aufgehoben und die Leistung zurückgefordert werde, nicht bedacht habe. Gleichwohl komme angesichts des eindeutigen Wortlauts der Norm eine erweiternde, auch die Bezieher von Alhi umfassende Auslegung des § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III nicht in Betracht. Für einen entsprechenden Willen des Gesetzgebers hätte sich im Wortlaut der Norm jedenfalls ein Anhaltspunkt finden müssen, dies sei jedoch nicht der Fall. Auch eine analoge Anwendung des § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III ggf. i. V. m. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II, der § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III für Fälle der Aufhebung von Bewilligungen von Arbeitslosengeld II für entsprechend anwendbar erkläre, komme "wegen des rechtsstaatlichen Gebotes einer klaren gesetzlichen Ermächtigung für belastende, in grundrechtliche Rechtspositionen (hier Art. 2 Abs. 1 GG) nicht in Betracht". Die Anordnung der Erstattung der Beitragszahlungen der Beklagten an Kranken- und Pflegeversicherung sei damit rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten, sie sei daher aufzuheben.

Im übrigen seien Rechtsfehler des angegriffenen Bescheids nicht ersichtlich. Die Aufhebung der Alhi-Bewilligung stütze sich zu Recht auf § 45 SGB X. Der Kläger habe zumindest grob fahrlässig unrichtige Angaben gemacht, die Beklagte sei damit nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X i. V. m. § 330 Abs. 2 SGB III zur rückwirkenden Rücknahme der Bewilligungen verpflichtet gewesen. Die Fristen, insbesondere die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 3 SGB X und die Zehnjahresfrist des § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X, seien gewahrt. Die Anordnung der Erstattung der zu Unrecht geleisteten Alhi finde ihre Grundlage in § 50 Abs. 1 SGB X, Bedenken gegen die Höhe der Erstattungsforderung seien weder vorgetragen noch ersichtlich.

Gegen diesen am 23.6.2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat (nur) die Beklagte am 14.7.2006 Berufung eingelegt. Sie tritt der Rechtsauffassung des SG, dass eine Rückforderung der Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträge auf der Grundlage des § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III in der seit 1.1.2005 geltenden Fassung hier nicht mehr möglich sei, entgegen. Es liege insoweit eine planwidrige Gesetzeslücke vor, die eine analoge Anwendung des § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III rechtfertige. Vorliegend sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber im Hinblick auf die Einführung des SGB II zum 1.1.2005 und die damit verbundenen redaktionelle Änderung des § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III - hier die Streichung des Begriffs Arbeitslosenhilfe - nicht bedacht habe, dass aus vorangegangenen Jahren noch Rückforderungen von Alhi auftreten könnten. Eine planwidrige Gesetzeslücke sei deshalb gegeben. Die Regelungen des § 335 Abs. 1 SGB III erlaube die Rückforderung von Krankenversicherungsbeiträgen, welche die Arbeitsagentur getragen habe, wenn eine Entgeltersatzleistung zurückgefordert werden könne. Auch die Alhi stelle wie das Arbeitslosengeld und das Unterhaltsgeld eine Entgeltersatzleistung dar. Die Interessenlage sei in Fällen der Rückforderung von Arbeitslosengeld oder Unterhaltsgeld nicht anders als bei der Rückforderung von Alhi. Zudem würde eine andere Interpretation der Norm des § 335 Abs. 1 SGB III insbesondere unter Beachtung verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte (Gleichheitsgrundsatz gem. Art. 3 GG) eine nicht zu rechtfertigende Privilegierung der Bezieher von Alhi darstellen. Es lägen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass es dem gesetzgeberischen Willen entspreche, ab dem 1.1.2005 die Bezieher von Alhi von der Regelung des § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III auszunehmen. Da bei der Neufassung des § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III zum 1.1.2005 ein gesetzgeberisches Versehen unterlaufen sei, sei eine analoge Anwendung der genannten Rechtsnorm bei der Rückforderung von Alhi geboten.

Die Beklagte stellt demgemäß den Antrag,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 29.5.2006 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid insoweit für zutreffend. Es gebe für die Beklagte keine Ermächtigungsgrundlage, die Sozialversicherungsbeiträge hier einzufordern.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist statthaft, form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet.

Das SG hat im angefochtenen Gerichtsbescheid die hier anzuwendenden Rechtsnormen zutreffend zitiert. Das SG hat auch ausführlich und zutreffend dargelegt, dass es keine Rechtsgrundlage für das Erstattungsbegehren der Beklagten bezüglich der im Überzahlungszeitraum geleisteten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung (mehr) gibt. Der Senat schließt sich dieser Begründung an, er nimmt auf die Entscheidungsgründe Bezug und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück (§ 153 Abs. 2 SGG).

Zum Berufungsvorbringen der Beklagten ist anzumerken, dass es nicht geeignet ist, die angefochtene Entscheidung als unrichtig erscheinen zu lassen. Auch nach Ansicht des Senats ist im vorliegenden Fall keine erweiternde oder analoge Anwendung der Rechtsnorm möglich. Der Beklagten ist zwar einzuräumen, dass dadurch, dass es nach dem 1.1.2005 keine Erstattungsforderung bezüglich Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen bei überzahlter Alhi mehr gibt, eine planwidrige Gesetzeslücke entstanden ist. Damit jedoch eine planwidrige Gesetzeslücke im Wege der Auslegung oder der Analogie "planvoll geschlossen" werden kann, muss es sich um eine unbeabsichtigte oder unbewusste Gesetzeslücke handeln. Davon kann hier keinesfalls die Rede sein. Der Gesetzgeber hat bei der Neufassung des § 335 Abs. 1 SGB III bewusst das Wort Arbeitslosenhilfe gestrichen und hat dies sogar ausdrücklich als "Folgeänderung zur Aufhebung der Vorschriften über die Arbeitslosenhilfe auf Grund der Einführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende im Zweiten Buch" begründet. Der Gesetzgeber wollte die Arbeitslosenhilfe aus § 335 Abs. 1 SGB III streichen und hat dies bewusst und begründet getan. Bei dieser Sachlage kann keinesfalls durch Rechtsauslegung oder Analogiebildung die Rechtsnorm so gelesen werden, als habe der Gesetzgeber die Änderung nicht vorgenommen.

Das SG hat auch darauf hingewiesen, dass eine erweiternde Auslegung oder eine Analogie hier nicht möglich ist, weil die von der Beklagten gewünschte Auslegung im Wortlaut des Gesetzes keinerlei Anklang gefunden habe. Das SG hat auch darauf hingewiesen, dass für Eingriffe in die Rechte Betroffener eine klare gesetzliche Grundlage gefordert werden muss, an der es hier gerade fehlt. Auch der Senat weist darauf hin, dass aus dem in Art. 20 GG normierten Rechtsstaatsprinzip ein allgemeiner Vorbehalt des Gesetzes bei staatlichen Eingriffen in grundrechtlich geschützte Positionen von Betroffenen folgt. Wenn eine staatliche Maßnahme in Grundrechte eingreift, gerät der Stufenbau der Rechtsordnung durcheinander, weil Grundrechte Verfassungsrang haben und auch durch einfaches Recht eingeschränkt werden können. Für Grundrechtseingriffe ist also stets eine spezielle Ermächtigung in der Form eines Gesetzes zu fordern (siehe hierzu Umbach/Clemens, Grundgesetz-Kommentar, Art. 20 Rdnr. 73 ff.).

Eine im übrigen gesetzmäßige Maßnahme bedarf lediglich dann keiner weiteren speziellen gesetzlichen Grundlage, wenn sie begünstigen soll, insbesondere durch finanzielle Leistungen. Denn Eingriffe schränken Handlungsmöglichkeiten ein, Leistungen erweitern sie. Mit der Einschränkung bestehender Handlungsmöglichkeiten muss niemand rechnen, auf ihre Erweiterung darf niemand hoffen. Leistungen stellen deshalb geringere Rechtfertigungsansprüche als Eingriffe (Umbach/Clemens, aaO, Rdnr. 76).

Dass die (frühere) gesetzliche Erstattungsforderung bezüglich Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung bei überzahlter Alhi einen Grundrechtseingriff mindestens in Art. 2 Abs. 1 GG darstellt, hat das SG bereits zutreffend ausgeführt. Ein solcher Grundrechtseingriff muss als Rechtfertigung eine klare und eindeutige gesetzliche Grundlage haben. Dies schließt es im vorliegenden Fall aus, die ausdrückliche Gesetzesänderung durch den Gesetzgeber so zu behandeln, als wäre sie nicht erfolgt. Auch die Kommentarliteratur hält demzufolge eine Auslegung in dem von der Beklagten gewünschten Sinne nicht für möglich. Z. B. weist Niesel in der 3. Auflage des SGB III-Kommentars darauf hin, dass ab dem 1.1.2005 keine Rechtsgrundlage für die Rückforderung von Beiträgen bei aufgehobener Alhi-Bewilligung besteht, auch wenn sich die Aufhebung auf Zeiträume vor dem 31.12.2004 bezieht; "Dieses wohl kaum beabsichtigte Ergebnis (das bei der Aufhebung der Uhg-Bestimmungen zum 1.1.2004 vermieden wurde, indem § 335 nicht geändert wurde) ist de lege lata nicht zu vermeiden".

Die Berufung der Beklagten ist aus diesen Gründen als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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