L 13 AS 5829/06 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 3 AS 3760/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AS 5829/06 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Beigeladenen wird der Beschluss des Sozialgerichts Ulm vom 15. November 2006 aufgehoben. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 2. Oktober 2006 bis 28. Dezember 2006 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch II zu gewähren.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten für das Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes vor dem Sozialgericht und die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist zulässig und im tenorierten Umfang auch sachlich begründet.

Der Antragsteller hat entgegen dem angegriffenen Beschluss einen im Wege der einstweiligen Anordnung durchsetzbaren Anspruch darauf, dass die Antragsgegnerin ab 2. Oktober 2006, dem Beginn der Rechtshängigkeit des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes, vorläufig verpflichtet wird, ihm bis zum 28. Dezember 2006, dem voraussichtlichen Ende der stationären medizinischen Rehabilitationsmaßnahme, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren. Der Beigeladene ist nicht leistungsverpflichtet.

Der Antragsteller befand sich vom 12. Januar bis 28. August 2006 in der Justizvollzugsanstalt H. (JVA; vgl. Entlassungsschein der JVA vom 28. August 2006). Nachdem die Deutsche Rentenversicherung Knappschaft - Bahn - See mit Bescheid vom 1. August 2006 auf seinen Antrag eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation für die Dauer von voraussichtlich acht Wochen in der Fachklinik F. St. in L. bewilligt hat, hält sich der Antragsteller seit 28. August 2006 zur Behandlung seiner Suchtmittelabhängigkeit in dieser Einrichtung auf. Die Therapie wird voraussichtlich am 28. Dezember 2006 enden. Am 28. August 2006 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Bei dem Beigeladenen ging ein entsprechender Antrag auf Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) am 25. September 2006 ein; dieser leitete den Antrag unverzüglich an die Antragsgegnerin weiter mit dem Hinweis, seine Zuständigkeit sei nicht gegeben. Mit Bescheid vom 7. November 2006 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab, da Leistungen nicht erhalte, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht sei; dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung sei der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Der Aufenthalt in der JVA und der Aufenthalt in der Rehabilitationseinrichtung F. St. seien deshalb zu addieren. Er sei deshalb bereits ab 12. Januar 2006 und somit länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht. Hiergegen erhob der Antragsteller am 17. November 2006 Widerspruch. Auf seinen Antrag vom 2. Oktober 2006 hat das SG im Wege der einstweiligen Anordnung den Beigeladenen mit Beschluss vom 15. November 2006 verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum 28. August bis 28. Dezember 2006 Leistungen nach dem SGB XII dem Grunde nach zu gewähren. Hiergegen hat der Beigeladene am 28. November 2006 Beschwerde erhoben.

Prozessuale Grundlage des im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes verfolgten Anspruches ist § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung als Regelungsanordnung setzt einen jeweils glaubhaft zu machenden (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]) Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch voraus (zum Folgenden vgl. Senatsbeschluss vom 31. August 2006 - L 13 AS 2759/06 ER-B m.w.N., abgedruckt in Juris). Die Dringlichkeit einer die Hauptsache vorwegnehmenden Eilentscheidung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG (Anordnungsgrund) kann bei Leistungen nach dem SGB II in aller Regel nur bejaht werden, wenn wegen einer Notlage über existenzsichernde Leistungen für die Gegenwart und nahe Zukunft gestritten wird und dem Antragsteller schwere schlechthin unzumutbare Nachteile entstünden, wenn er auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens verwiesen würde. Einen finanziellen Ausgleich für die Vergangenheit herbeizuführen, ist, von einer in die Gegenwart fortwirkenden Notlage abgesehen, nicht Aufgabe des vorläufigen Rechtsschutzes, sondern des Hauptsacheverfahrens. Der Anordnungsanspruch hängt vom voraussichtlichen Erfolg des Hauptsacherechtsbehelfs ab und erfordert eine summarische Prüfung; an ihn sind um so niedrigere Anforderungen zu stellen, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen wiegen, insbesondere eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung droht (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in NJW 2003, 1236 f. und Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - abgedruckt in Juris). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, hier also der Entscheidung über die Beschwerde.

Dem Antragsteller, der sämtliche Leistungsvoraussetzungen (vgl. §§ 7 Abs. 1, 8 Abs. 1 SGB II und § 9 SGB II) erfüllt, stehen grundsätzlich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum 2. Oktober bis 28. Dezember 2006 zu. Nicht erfüllt sind insbesondere die Leistungsausschlusstatbestände des § 7 Abs. 4 Sätze 1 und 2 SGB II in der seit 1. August 2006 geltenden Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende vom 20. Juli 2006, BGBl. I S. 1706 f. Nach § 7 Abs. 4 SGB Satz 1 SGB II erhält Leistungen nach diesem Buch nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters- oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Dies bedeutet, dass Personen, die in stationären Einrichtungen untergebracht sind oder sich in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufhalten, grundsätzlich vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen werden. Dabei kommt es nach der Neufassung des § 7 Abs. 4 SGB II seit 1. August 2006 auf die Dauer des voraussichtlichen Aufenthalts in der stationären Einrichtung oder in der Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung nicht mehr an. Der aufgrund der vorherigen Fassung des § 7 Abs. 4 SGB II entstandene Streit, ob zu den stationären Einrichtungen auch Justizvollzugsanstalten gehören und ob deswegen Zeiten der Straf- oder Untersuchungshaft und ein sich direkt im Anschluss an die Haft anschließender Aufenthalt in einem Krankenhaus oder in einer medizinischen Rehabilitationseinrichtung zusammenzurechnen sind (bejahend z.B. LSG Baden-Württemberg , Beschluss vom 27. März 2006 - L 8 AS 1171/06 ER-B - veröffentlicht in Juris; verneinend z. B. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 21. März 2006 - L 7 AS 1128/06 ER-B - veröffentlicht in Juris), besteht wegen der Neufassung von § 7 Abs. 4 Sätze 1 und 2 SGB II ab 1. August 2006 nicht mehr. Die Unerheblichkeit der Dauer des voraussichtlichen Aufenthalts in der stationären Einrichtung sollte nach der Begründung der Norm im Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD (vgl. BT-Drs. 16/1410 S. 20 zu Nr. 7c) die häufig langwierige Feststellung, ob im Einzelfall Erwerbsfähigkeit vorliegt, entbehrlich machen. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber die frühere Streitfrage, ob Justizvollzugsanstalten stationären Einrichtungen gleichstehen, bejaht mit der Folge, dass sich auch nicht mehr die Frage einer Addition der Aufenthaltszeiten in Justizvollzugsanstalten einerseits und stationären Einrichtungen andererseits stellt.

Allerdings nimmt das Gesetz in § 7 Abs. 4 Satz 3 SGB II bestimmte dort näher bezeichnete Personengruppen vom grundsätzlichen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II aus mit der Folge, dass diese Leistungen beziehen können. Nach § 7 Abs. 4 Satz 3 SGB II erhält abweichend von Satz 1 Leistungen nach dem SGB II, wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches (SGB V)) untergebracht ist (Nr. 1) oder in einer stationären Einrichtung untergebracht ist und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist (Nr. 2). Der Antragsteller gehört zum begünstigten Personenkreis des hier allein in Betracht kommenden § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II. Denn sein Aufenthalt in der Rehabilitationseinrichtung F. St., die eine Einrichtung im Sinn des § 107 Abs. 2 SGB V darstellt und welche nach dem im Gesetzgebungsverfahren zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers dem Krankenhaus gleichgestellt ist (vgl. Senatsbeschluss vom 26. Oktober 2006 - L 13 AS 4113/06 ER-B, veröffentlicht in Juris), dauert voraussichtlich weniger als sechs Monate, nämlich vom 28. August bis 28. Dezember 2006. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin und des SG ist es nicht mehr zulässig, zu diesem Aufenthalt in der Rehabilitationseinrichtung den vorherigen Aufenthalt in der JVA zu addieren, womit ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten erreicht würde. Nach dem klaren unübersteigbaren Wortlaut des Gesetzes sind vom grundsätzlichen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II lediglich Aufenthalte für voraussichtlich weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus im Sinn des § 107 SGB V oder - dem gleichgestellt - einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung des § 107 Abs. 2 SGB V ausgenommen.

Deutlich wird dies auch durch die Begründung des Gesetzgebers zur Neufassung von § 7 Abs. 4 SGB II (vgl. BT-Drs. 16/1410 S. 20). Dort hat der Gesetzgeber u.a. ausgeführt, dass Personen, die voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus untergebracht sind, Leistungen nach dem SGB II beziehen können, Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation in diesem Zusammenhang Krankenhäusern gleichgestellt und die Aufenthalte in beiden Einrichtungen zu addieren sind, sodass eine Person, die sich zunächst im Krankenhaus und im Anschluss daran in einer medizinischen Rehabilitationseinrichtung aufhält, vom Leistungsbezug ausgeschlossen ist, wenn der prognostizierte Aufenthaltszeitraum insgesamt sechs Monate übersteigt. Die vom Gesetzgeber gewählte Systematik des grundsätzlichen und nicht mehr von der Dauer des Aufenthalts abhängigen Leistungsausschlusses für in einer stationären Einrichtung oder in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneten Freiheitsentziehung untergebrachte Personen und die Beschränkung der Ausnahme auf bestimmte zeitlich begrenzte Aufenthalte in Krankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen sowie zeitlich unbegrenzte, jedoch mit einer Erwerbstätigkeit in bestimmtem Rahmen einhergehende Aufenthalte in stationären Einrichtungen und die damit beabsichtigte Verwaltungsvereinfachung schließen die von der Antragsgegnerin vorgenommene Auslegung, die Haftzeit und der Aufenthalt in der Rehabilitationseinrichtung müssten zusammengezählt werden, aus. Da der Antragsteller somit unter die Ausnahmeregelung des § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II fällt, ist für ihn die Antragsgegnerin leistungspflichtig.

Der Senat hat die Anordnung gegenüber der Antragsgegnerin, vorläufig Leistungen nach dem SGB II zu gewähren, auf den Zeitraum 2. Oktober bis 28. Dezember 2006 beschränkt. Einen Ausgleich für die Vergangenheit herbeizuführen, ist, von einer in die Gegenwart fortwirkenden Notlage abgesehen, nicht Aufgabe des vorläufigen Rechtsschutzes, sondern des Hauptsacheverfahrens. Da der Antragsteller das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes am 2. Oktober 2006 beim SG rechtshängig gemacht hat, hätte der Anordnungsgrund für die vor diesem Zeitpunkt begehrten Leistungen nur bejaht werden können, wenn er einen Nachholbedarf behauptet und glaubhaft gemacht hätte. Diesen hat er jedoch in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 28. September 2006 nicht behauptet; er hat in der eidesstattlichen Versicherung angegeben, er müsse dringend zum Zahnarzt. Damit hat keine medizinisch dringend notwendige ärztliche oder zahnärztliche Behandlung vor dem 2. Oktober 2006 stattgefunden, die im Hinblick auf die Kostentragung einen Nachholbedarf hätte begründen können.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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