L 1 KR 308/04

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 12 KR 1071/03
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 308/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Für die Ausübung des Wahlrechts ist keine bestimmte Form vorgeschrieben. Es kann schriftlich oder mündlich, ausdrücklich oder konkludent - z.B. in einem Leistungsantrag gegenüber der Agentur für Arbeit - ausgeübt werden.
Es ist ausreichend, wenn der Versicherte seinen Willen unmissverständlich kundtut und dieser Wille der gewählten Krankenkasse bekannt wird.
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 14. Juli 2004 sowie die Bescheide der Beklagten vom 20. Februar 2001 und 21. Mai 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. April 2003 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger ab 13. September 2000 in die Pflichtversicherung aufzunehmen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Im Übrigen haben sich die Beteiligten keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger rückwirkend ab 13. September 2000 wegen des Bezuges von Arbeitslosenhilfe in die gesetzliche Krankenversicherung aufzunehmen.

Der 1976 geborene Kläger war bis zum 26. Mai 2000 bei der beigeladenen Barmer Ersatzkasse versichert und bezog bis 12. September 2000 Sozialhilfe. Am 13. September 2000 beantragte er bei dem Arbeitsamt (jetzt: Agentur für Arbeit) X. Arbeitslosenhilfe. Unter 6. "Angaben für die Sozialversicherung bei Leistungsbezug" gab er an: "Ich habe bei Beginn des Leistungsbezuges eine andere Krankenkasse gewählt." Als neue Krankenkasse nannte er die AOK. Dies meldete das Arbeitsamt an die AOK. Nach entsprechender Überprüfung teilte die AOK dem Kläger mit Bescheid vom 20. Februar 2001 mit, dass aufgrund seiner fehlenden Mitwirkung die Anmeldung des Arbeitsamtes storniert werde. Zuständig sei die Barmer Ersatzkasse.

Nach weiteren Ermittlungen teilte die Beklagte dem Kläger mit weiterem Bescheid vom 21. Mai 2001 mit, dass eine Wahlrechtserklärung gegenüber der Beklagten abzugeben gewesen sei. Die Erklärung gegenüber dem Arbeitsamt sei unzureichend. Hierin könne keine wirksame Mitgliedschaftserklärung gesehen werden. Die entgegenstehenden Ausführungen der Beigeladenen im Schreiben vom 15. März 2001 seien unrichtig. Mit Widerspruchsbescheid vom 30. April 2003 wies die Beklagte den Widerspruch vom 5. Juni 2001 als unbegründet zurück.

Gegen den am 7. Mai 2003 zugestellten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 3. Juni 2003 bei dem Sozialgericht Kassel Klage erhoben und erneut ausgeführt, dass die Beklagte als neu gewählte Krankenkasse zuständig sei.

Mit Urteil vom 14. Juli 2004 hat das Sozialgericht Kassel die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Die Beklagte habe ihre Zuständigkeit zu Recht verneint. Ein wirksames Ausüben des dem Kläger zustehenden Kassenwahlrechts allein durch das Ausfüllen des Antrages auf Arbeitslosenhilfe liege nicht vor. Vielmehr sei das Arbeitsamt verpflichtet gewesen, den Kläger bei der Barmer Ersatzkasse als seine bisherige Krankenkasse anzumelden. Daran ändere auch nichts, dass die Beklagte dem Kläger zunächst eine Mitgliedsbescheinigung übersandt habe, da es sich dabei nicht um einen Verwaltungsakt handele.

Gegen dieses dem Kläger gegen Empfangsbekenntnis am 21. September 2004 zugestellte Urteil hat er am 8. Oktober 2004 bei dem Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt.

Der Senat hat die Leistungsakten der Agentur für Arbeit X. beigezogen und mit Beschluss vom 20. Juli 2005 die Barmer Ersatzkasse zum Verfahren beigeladen.

Der Kläger, der sein Begehren weiterverfolgt, beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 14. Juli 2004 sowie die Bescheide der Beklagten vom 20. Februar 2001 und 21. Mai 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. April 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn ab 13. September 2000 in die Pflichtversicherung aufzunehmen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beigeladene führt aus, es werde im Interesse von Versicherten regelmäßig akzeptiert, wenn innerhalb von zwei Wochen nach Eintritt der Krankenversicherungspflicht das Wahlrecht gegenüber der zur Meldung verpflichteten Stelle (hier: Agentur für Arbeit) ausgeübt werde.

Einen eigenen Antrag hat sie nicht gestellt.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt Bezug genommen sowie auf den der Akten der Beklagten und Beigeladenen sowie der Leistungsakten der Agentur für Arbeit X., der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und begründet (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Entgegen der Auffassung der Beklagten und des Sozialgerichts hat der Kläger einen Anspruch auf Aufnahme in die Pflichtversicherung der Beklagten.

Nach § 173 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) - sind Versicherungspflichtige und Versicherungsberechtigte Mitglied in der von ihnen gewählten Krankenkasse. Nach § 175 Abs. 1 S. 1 SGB V ist die Ausübung des Wahlrechts gegenüber der gewählten Krankenkasse zu erklären.

Die Wahlrechtsausübung erfolgt durch eine einseitige empfangsbedürftige öffentlich-rechtliche Willenserklärung. Eine bestimmte Form ist nicht vorgeschrieben. Sie kann konkludent (z.B. durch einen Leistungsantrag) oder ausdrücklich erklärt werden sowie schriftlich oder mündlich erfolgen (Kokemoor, Die gesetzlichen Regelungen zum Krankenkassenwahlrecht gem. §§ 173 ff. SGB V in: SGb 2003, 433 ff; Peters in: Kasseler Kommentar, 2006, § 175 Rdnr. 7). Zu fordern ist daher lediglich, dass der Versicherte seinen Willen unmissverständlich kundtut und dieser Wille der gewählten Krankenkasse bekannt wird. Diese Auslegung des § 175 Abs. 1 S. 1 SGB V entspricht auch den allgemeinen Grundsätzen des SGB I. Nach § 2 Abs. 2 letzter Halbsatz SGB I ist sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Nach § 16 Abs. 1 SGB I sind Anträge auf Sozialleistungen beim zuständigen Leistungsträger zu stellen. Sie werden auch von allen anderen Leistungsträgern entgegengenommen. Anträge, die bei einem unzuständigen Leistungsträger gestellt werden, sind unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten (§ 16 Abs. 2 SGB I). Diese Vorschrift regelt zwar in erster Linie Anträge auf Sozialleistungen. In ihr kommt jedoch zum Ausdruck, dass das Sozialgesetzbuch keine formalen Hürden aufbauen will, sondern dem Rat- und Hilfesuchenden möglichst unkompliziert geholfen werden soll.

Zu Unrecht vertreten die Beklagte und das Sozialgericht die Auffassung, dass die Erklärung persönlich gegenüber der Krankenkasse vorgenommen werden müsse und eine "mittelbare" Erklärung gegenüber der Agentur für Arbeit in einem Leistungsantrag nicht ausreiche (vgl. auch Jahn, 2003, SGB V, § 175, Rdnr. 10; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 2006, § 175, Rdnr. 3).

Aus der Formulierung in § 175 Abs. 1 S. 1 SGB V ergibt sich nicht, dass die Wahlrechtserklärung höchstpersönlich gegenüber der gewählten Krankenkasse abzugeben ist. Dies wird teilweise auch in der Literatur so gesehen, wonach die Wahlrechtserklärung auch durch Dritte, allerdings mit nachgewiesener Vertretungsmacht, erfolgen kann (Jahn, a.a.O.). Auch aus den Gesetzesmaterialien lässt sich für eine persönliche Erklärung nichts herleiten. In der Begründung zu § 175 Abs. 1 heißt es lediglich: "Absatz 1 stellt klar, dass die Krankenkasse die Mitgliedschaft eines Wahlberechtigten - z.B. aus Risikogründen - nicht ablehnen darf." Ebenfalls gibt die Begründung zu den Absätzen 2 und 3 keinen Hinweis auf eine persönliche Erklärung des Versicherten (vgl. BT-Drucksache 12/3608, Seite 113).

In der Rechtsprechung ist bisher lediglich die Erklärung des Sozialhilfeträgers (ohne Vertretungsmacht) beziehungsweise die Meldung des Arbeitgebers (nach § 28 a Abs. 1 Nr. 1 SGB IV, § 198 SGB V) gegenüber der Krankenkasse als nicht ausreichend angesehen worden (BSG, Urteile vom 19. Dezember 1991 - 12 RK 24/90SozR 3-5910 § 91a Nr. 1; vom 11. Juni 1992 - 12 RK 59/91SozR 3-2200 § 313 Nr. 1; vom 8. Oktober 1998 - B 12 KR 11/98 RSozR 3-2500 § 175 Nr. 2; Landessozialgericht Hamburg, Urteil vom 10. September 2003 - L 1 KR 32/00 - JURIS).

Unter Anwendung dieser Grundsätze hat der Kläger sein Wahlrecht wirksam ausgeübt. In seinem Antrag auf Arbeitslosenhilfe vom 13. September 2000 hat der Kläger ausdrücklich die AOK als seine gewählte Krankenkasse benannt. Diese Erklärung hat die Agentur für Arbeit an die AOK weitergeleitet und sie ist dieser unstreitig auch zugegangen. Der Kläger hat damit die Voraussetzungen erfüllt, die § 175 Abs. 1 S. 1 SGB V von dem Versicherten fordert (vgl. auch Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 22. August 2005 - L 8 KR 113/05 ER).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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