S 2 AS 4528/06 ER

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Reutlingen (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 2 AS 4528/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Rückerstattungsbescheide von Leistungen nach dem SGB II haben aufschiebende Wirkung.
2. Die Behörde kann nur mit Rückerstattungsforderungen aufrechnen, die bestandskräftig oder sofort vollziehbar sind.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Das einstweilige Rechtsschutzverfahren betrifft die Gewährung und die Rückzahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II.

Die Antragsgegnerin bewilligte dem Antragsteller, seiner mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Frau sowie den vier minderjährigen Kindern mit Bescheid vom 11. Mai 2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 1. Mai 2006 bis zum 31. Oktober 2006 in Höhe von monatlich 747,55 EUR. Dabei wurde Einkommen der Ehefrau des Antragstellers aus unselbständiger Arbeit in Höhe von monatlich 716,87 EUR angerechnet.

Die Ehefrau wurde zum 31. Juli 2006 arbeitslos. Ihr wurde von der Agentur für Arbeit ... mit Bescheid vom 2. August 2006 Arbeitslosengeld ab dem 1. August 2006 bewilligt. Für die Zeit vom 1. August 2006 bis zum 7. August 2006 wurde ein Leistungsbetrag in Höhe von täglich 0 EUR bewilligt aufgrund einer Sperrzeit wegen verspäteter Arbeitssuchendmeldung und für die Zeit vom 1. August 2006 bis zum 18. August 2006 wegen Urlaubsabgeltung. Ab dem 19. August 2006 bis zum 10. August 2007 wurde eine Leistung in Höhe von täglich 25,50 EUR bewilligt. Dies entspricht einem monatlichen Zahlbetrag in Höhe von 765 EUR.

Die Ehefrau des Antragstellers erhielt im August 2006 Urlaubsabgeltung in Höhe von 612,51 EUR sowie eine Abfindung in Höhe von 2.200 EUR.

Mit Schreiben vom 8. November 2006 wurde der Antragsteller durch die Antragstellerin angehört. Sie teilte ihm mit, dass er nach ihren Erkenntnissen in der Zeit vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Oktober 2006 Arbeitslosengeld II in Höhe von 511,88 EUR zu Unrecht bezogen habe. Durch das Einkommen und das Arbeitslosengeld I seiner Ehefrau habe im August 2006 kein Anspruch auf Leistungen bestanden. Für die Monate September und Oktober sei jeweils der (durch Division mit zwölf ermittelte) Teilbetrag aus Abfindung und Urlaubsgeld sowie das Einkommen aus Arbeitslosengeld I anzurechnen. Damit bestehe eine Rückforderung von insgesamt 1.228,75 EUR. Da der Antragsteller im Juli 2006 kein Einkommen erhalten habe, ergebe sich eine Nachzahlung in Höhe von 716,87 EUR. Durch die Verrechnung der beiden Beträge verbleibe noch eine Rückforderung in Höhe von 511,88 EUR.

Mit Bescheid vom 8. November 2006 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 1. November 2006 bis zum 30. April 2007 in Höhe von monatlich 507,95 EUR. Dabei wurde das Einkommen aus Urlaubsgeld und der Abfindung der Ehefrau des Antragstellers durch zwölf Monate geteilt und ab September 2006 mit 222,47 EUR als sonstiges Einkommen angerechnet.

Mit Bescheid vom 16. November 2006 hob die Antragsgegnerin die Bewilligung von Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Oktober 2006 in Höhe von 1.288,75 EUR auf. Durch das Einkommen der Ehefrau des Antragstellers und das Arbeitslosengeld I bestehe im August 2006 kein Anspruch mehr auf Leistungen. Für die Monate September und Oktober sei der Teilbetrag aus der Abfindung und des Urlaubsgeldes sowie das Einkommen aus Arbeitslosengeld I angerechnet worden. Da der Antragsteller im Juli 2006 kein Einkommen erhalten habe, ergebe sich eine Nachzahlung in Höhe von 716,87 EUR. Die Nachzahlung von 716,87 EUR werde voll mit der offenen Rückforderung verrechnet. Der Rückforderungsbetrag betrage somit 511,88 EUR. Der Betrag werde gegen die Ansprüche des Antragstellers in Höhe von 103 EUR (monatlich) aufgerechnet.

Mit Bescheid vom 13. Dezember 2006 änderte die Antragsgegnerin die Bewilligung für die Zeit vom 1. Juli 2006 bis zum 31. Juli 2006 und bewilligte nunmehr 1.464,42 EUR.

Mit Bescheid vom 13. Dezember 2006 hob die Antragsgegnerin die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. August 2006 bis zum 31. August 2006 ganz auf. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Ehegattin des Antragstellers während des genannten Zeitraums Einkommen aus dem Erwerbseinkommen und Arbeitslosengeld I erzielt habe, sodass der Antragsteller und die mitgewährte Bedarfsgemeinschaft nicht hilfebedürftig seien.

Mit weiterem Bescheid vom 13. Dezember 2006 änderte die Antragsgegnerin auch die Bewilligung für die Zeit vom 1. September 2006 bis zum 31. Oktober 2006 und bewilligte nunmehr Leistungen in Höhe von monatlich 506,95 EUR. Dabei wurde das Einkommen aus Urlaubsgeld und Abfindung der Ehefrau des Antragstellers durch zwölf Monate geteilt und ab September 2006 mit monatlich 222,47 EUR als sonstiges Einkommen angerechnet.

Am 4. Dezember 2006 stellte der Antragsteller bei Gericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Er habe gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. November 2006 Widerspruch eingelegt. Über den Widerspruch sei jedoch noch nicht entschieden worden. In der Folge sei er in dem Bescheid vom 16. November 2006 zur Rückzahlung von Leistungen in Höhe von 1.288,75 EUR verpflichtet worden. Dieser Betrag würde nun bei seinen monatlichen Leistungen einbehalten. So habe er für den Monat Dezember nur noch einen Betrag in Höhe von 403,95 EUR erhalten. Es sei ihm jedoch nicht möglich, mit den gekürzten Leistungen zu leben, auch wenn seine Frau weitere Leistungen in Höhe von 765 EUR erhalte, da die Familie schon allein 800 EUR für die Miete aufbringen müsse und sie vier Kinder hätten.

Der Antragsteller beantragt,

die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Rückzahlungspflicht aus dem Bescheid vom 16. November 2006 aufzuheben und die vorgenommene Kürzung der Leistung für den Monat Dezember wieder rückgängig zu machen.

Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,

den Antrag abzulehnen.

Der Antrag sei nicht begründet. Die Aufrechnung der bewilligten Leistungen mit dem Rückforderungsbetrag von monatlich 103 EUR ab dem 1. Dezember 2006 sei bis zur Entscheidung in diesem Gerichtsverfahren ausgesetzt. Ab dem 1. Januar 2007 erhalte der Antragsteller seine ungekürzten Leistungen. Der Antragsteller habe bisher gegen den Bescheid vom 16. November 2006 keinen Widerspruch erhoben. Der Antragsteller habe am 8. November 2006 ohne Termin bei der Antragsgegnerin vorgesprochen. Bei dieser Vorsprache habe er keinen Widerspruch eingelegt. Beim Termin am 10. November 2006 habe der Antragsteller nur Unterlagen abgegeben. Diese Termine hätten zeitlich vor Erlass des Aufhebungsbescheides vom 16. November 2006 gelegen. Die Rückforderung des Betrages durch die Antragsgegnerin erfolge zu Recht. Ein Anordnungsanspruch des Antragstellers scheide daher aus. Im übrigen sei die Widerspruchsfrist noch nicht abgelaufen. Der Antragsteller habe die Möglichkeit, noch Widerspruch zu erheben und die Rechtsmäßigkeit des Aufhebungsbescheides vom 16. November 2006 überprüfen zu lassen. Folglich fehle es hier dem Antragsteller auch an dem für den einstweiligen Rechtsschutz erforderlichen Anordnungsgrund.

II.

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unzulässig. Das Gericht hat in jeder Phase des Verfahrens von Amts wegen das Bestehen der Zulässigkeitvoraussetzungen zu prüfen (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer [Hrsg.], SGG, 8. Aufl. 2005, vor § 51 Rn. 20). Zu diesen Zulässigkeitsvoraussetzungen zählt auch, dass es für das an das Gericht gerichtete Begehren ein Rechtsschutzbedürfnis gibt (vgl. Keller, a.a.O., vor § 51 Rn. 16a m.w.N.); dies gilt auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (Keller, a.a.O., § 86b Rn. 7). An diesem Rechtsschutzbedürfnis fehlt es aber unter anderem dann, wenn der Antragsteller sein Ziel auch einfacher, insbesondere ohne gerichtliche Hilfe, erreichen kann (vgl. Keller, a.a.O., vor § 51 Rn. 16a).

a) Soweit der Antragssteller die Verpflichtung begehrt, die Rückzahlungspflicht aufzuheben, fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis. Die vorläufige Suspendierung dieser Rückzahlungspflicht kann der Antragsteller auch durch die Erhebung des Widerspruchs bzw. der Anfechtungsklage gegen den Erstattungsbescheid vom 16. November 2006 erreichen. Widerspruch und Anfechtungsklage haben in dieser Konstellation gemäß § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.01.2006, Az.: L 3 ER 128/05 AS; LSG Hamburg, Beschluss vom 29.05.2006, Az.: L 5 B 77/06 ER AS; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.06.2006, Az.: L 13 AS 2298/06 ER-B; Conradis, in: Münder [Hrsg.], SGB II, 2005, § 39 Rn. 7; Pilz, in: Gagel [Hrsg.], SGB III mit SGB II, § 39 SGB II [2005] Rn. 9; a.A. Bayerisches LSG, Beschluss vom 31.08.2005, Az.: L 7 B 389/05 AS ER; Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 05.07.2006, Az.: L 6 B 196/06 AS ER; Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz [Hrsg.], SGB, § 43 SGB II [2004] Rn. 46). Insbesondere steht der aufschiebenden Wirkung nicht entgegen, dass gemäß § 39 Ziffer 1 SGB II Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung haben. Bei der verwaltungsaktmäßigen Titulierung eines Erstattungsanspruches handelt es sich nämlich anders als bei Bescheiden über eine Leistungsbewilligung, eine Leistungsversagung oder eine Leistungsänderung schon begrifflich nicht um eine Entscheidung über eine "Leistung" (ähnlich LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17.01.2006, Az.: L 3 ER 128/05 AS; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.06.2006, Az.: L 13 AS 2298/06 ER-B; SG Reutlingen, Beschluss vom 06.12.2006, Az.: S 12 AS 3174/06 PKH-A; Conradis, in: Münder [Hrsg.], SGB II, 2005, § 39 Rn. 7). Letzteres aber verlangt bereits der Wortlaut des § 39 Ziffer 1 SGB II, der insoweit die Grenze der Auslegung bildet. Der Bescheid über eine Rückerstattungsforderung ist auch nicht die bloße Kehrseite der Leistungsgewährung; diese Kehrseite stellt vielmehr die Aufhebung einer Leistungsbewilligung dar (so auch LSG Hamburg, Beschluss vom 29.05.2006, Az.: L 5 B 77/06 ER AS; SG Reutlingen, Beschluss vom 06.12.2006, Az.: S 12 AS 3174/06 PKH-A, m.w.N.). Die behördliche Rückerstattungsentscheidung ist demgegenüber ein wesensverschiedenes Aliud (so auch LSG Hamburg, Beschluss vom 29.05.2006, Az.: L 5 B 77/06 ER AS). Sie soll zwar mit der Aufhebungsentscheidung in einem Bescheid ergehen (§ 50 Abs. 3 Satz 2 SGB X); gleichwohl handelt es sich um zwei verschiedene Verwaltungsakte (vgl. Waschull, in: Diering/Timme/Waschull [Hrsg.], SGB X, § 50 Rn. 48), die jeder auf einer anderen Ermächtigungsgrundlage (§§ 44-48 SGB X einerseits bzw. § 50 SGB X andererseits) beruhen.

b) Soweit der Antragsteller die Aufhebung der Kürzung der Leistung für den Monat Dezember begehrt, fehlt es ebenfalls am Rechtsschutzbedürfnis. Der Antragsteller hat es – wie dargelegt – selbst in der Hand, die aufschiebende Wirkung des Erstattungsbescheides herbeizuführen. Dadurch wäre auch – zumindest vorübergehend – die Rechtsgrundlage für die von der Antragsgegnerin durchgeführte Aufrechnung beseitigt. § 43 SGB II kann nämlich nur dann von der Antragsgegnerin zur Grundlage ihrer Aufrechnung gemacht werden, wenn die Aufrechnungsforderung durch einen sofort vollziehbaren Verwaltungsakt festgestellt worden ist (ebenso Pilz, in: Gagel [Hrsg.], SGB III mit SGB II, § 43 SGB II [2006] Rn. 5; grundsätzlich so auch Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz [Hrsg.], SGB, § 43 SGB II [2004] Rn. 45; vgl. zur Parallelnorm des § 26 SGB XII Streichsbier, in: Grube/Wahrendorf [Hrsg.], SGB XII, 2005, § 26 Rn. 16 m.w.N.). An der Vollziehbarkeit mangelt es aber gerade dann, wenn eine aufschiebende Wirkung besteht. Gleiches gilt auch für den von der Antragsgegnerin im Erstattungsbescheid angeführten § 51 SGB I (vgl. Steinbach, in: Hauck/Noftz [Hrsg.], SGB, § 51 SGB I [18. Erg.-Lfg. 1999], § 51 Rn. 10), der freilich – worauf es hier aber nicht ankommt – als lex generalis gegenüber § 43 SGB II nicht zur Anwendung kommen dürfte.

c) Gerichtlicher Rechtsschutz kann in der vorliegenden Konstellation allenfalls dann in Betracht kommen, wenn die Antragsgegnerin der aufschiebenden Wirkung eines eingelegten Widerspruchs bzw. einer erhobenen Anfechtungsklage zum Trotz den Rückerstattungsbescheid – und sei es nur im Wege der Aufrechnung – vollziehen würde. Insofern wird die Antragsgegnerin auch zunächst in eigener Zuständigkeit zu prüfen haben, ob in der Stellung eines Antrages auf einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutz konkludent die Einlegung eines Widerspruchs zu sehen ist.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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