S 8 AS 89/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
8
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 8 AS 89/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1.Der Bescheid des Beklagten zu 2) vom 06.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.10.2006 wird aufgrund des Teilanerkenntnisses des Beklagten abgeändert. Der Beklagte zu 2) wird verurteilt, Leistungen der Sozialhilfe für die Zeit vom 28.07.2006 bis zum 31.07.2006 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage gegen den Beklagten zu 2) abgewiesen. 2.Der Bescheid der Beklagten zu 1) vom 14.08.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2006 wird aufgehoben. Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ab 01.08.2006 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen. 3.Die Beklagte zu 1) hat die Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um einen Anspruch des Klägers auf Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe.

Der am 00.00.1977 geborene Kläger befand sich vom 29.09.2004 bis zum 25.07.2006 in Strafhaft. Seit dem 25.07.2006 befindet der Kläger sich in einer stationären Drogenentwöhnungsbehandlung in der Fachklinik M, F, die voraussichtlich bis zum 22.01.2007 dauern wird. Die Drogenentwöhnungsbehandlung wurde durch die Deutsche Rentenversicherung Rheinland mit Bescheid vom 26.06.2006 zunächst für voraussichtlich 13 Wochen bewilligt.

Am 28.06.2006 beantragte der Kläger bei dem Beklagten zu 2) Sozialhilfe.

Mit Bescheid vom 06.07.2006 lehnte der Beklagte zu 2) den Antrag ab. Er meinte, er sei nicht zuständig, weil der Aufenthalt in der JVA nicht als Aufenthalt in einer stationären Einrichtung i. S. d. § 7 Abs. 4 SGB II anzusehen sei und die Entwöhnungsbehandlung nur 13 Wochen andauere. Damit sei ein stationärer Aufenthalt von über 6 Monaten nicht gegeben und das SGB XII für den Kläger nicht einschlägig.

Im Widerspruchsverfahren teilte der Kläger mit, die Beklagte zu 1) habe den Leistungsantrag ebenfalls abgelehnt. Er legte eine Bescheinigung der Fachklinik M vor, wonach eine Verlängerung der medizinischen Reha-Behandlung auf 26 Wochen möglich sei.

Mit Bescheid vom 12.10.2006 wies der Beklagte zu 2) den Widerspruch zurück. Er meinte, die Gesamtdauer des Klinikaufenthaltes betrage selbst dann weniger als 6 Monate, wenn die Therapie nachträglich auf 26 Wochen verlängert würde.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 20.10.2006 erhobene Klage gegen den Beklagten zu 2).

Am 11.08.2006 beantragte der Kläger Grundsicherungsleistungen bei der Beklagten zu 1). Er führte aus, er sei zwar in Therapie, aber arbeitsfähig.

Mit Bescheid vom 14.08.2006 lehnte die Beklagte zu 1) den Antrag wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit ab.

Im Widerspruchsverfahren wies der Kläger darauf hin, dass er sich nur vorübergehend in M aufhalte und einen Wohnsitz bei seinen Eltern in B habe.

Mit Bescheid vom 21.09.2006 wies die Beklagte zu 1) den Widerspruch zurück. Sie bestritt nicht mehr ihre örtliche Zuständigkeit, meinte jedoch, dass der Kläger länger als 6 Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht sei. Der Aufenthalt in der JVA sei als Aufenthalt in einer stationären Einrichtung anzusehen, gleiches gelte für den Aufenthalt in der Fachklinik M. Beide Zeiträume seien zusammenzurechnen.

Hiergegen richtet sich die am 20.10.2006 erhobene Klage.

Das Gericht hat die Klagen gemäß § 113 Abs. 1 SGG zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Der Kläger meint, eine der beiden Beklagten sei auf jeden Fall leistungspflichtig.

Er beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

1.den Bescheid der Beklagten zu 1) vom 14.08.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2006 aufzuheben und die Beklagte zu 1) zu verurteilen, Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ab 01.08.2006 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen,

hilfsweise,

2.den Bescheid des Beklagten zu 2) vom 06.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.10.2006 aufzuheben und den Beklagten zu 2) zu verurteilen, Leistungen der Sozialhilfe über den 31.07.2006 hinaus nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.

Die Beklagte zu 1) beantragt,

die Klage gegen die Beklagte zu 1) abzuweisen.

Der Beklagte zu 2) beantragt,

die über das Teilanerkenntnis hinausgehende Klage gegen den Beklagten zu 2) abzuweisen.

Die Beklagten wiederholen und vertiefen die Begründungen der angefochtenen Bescheide. Der Beklagte zu 2) hat in der mündlichen Verhandlung aus prozessökonomischen Gründen seine Zuständigkeit für die Zeit vom 28.07.2006 bis zum 31.07.2006 anerkannt. Er hat gemäß § 43 SGB I vorläufig Leistungen erbracht.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Beklagte zu 2) war seinem Teilanerkenntnis gemäß zu verurteilen (§§ 202 SGG, 307 Satz 1 ZPO).

Im Übrigen ist die Klage gegen den Beklagten zu 2) unbegründet, der Bescheid der Beklagten zu 1) ist hingegen rechtswidrig i. S. d. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, die Beklagte zu 1) ist für die Zeit ab 01.08.2006 leistungspflichtig.

Der Kläger erfüllt die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten.

Der Kläger unterfällt nicht dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 4 SGB II. Leistungen nach dem SGB II erhält nach dieser Vorschrift nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Abweichend hiervon erhält Leistungen nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II, wer voraussichtlich für weniger als 6 Monate in einem Krankenhaus untergebracht ist.

Der Kläger ist i. S. d. § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II voraussichtlich für weniger als 6 Monate in einem Krankenhaus untergebracht. Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation sind Krankenhäusern gleichgestellt (§ 107 SGB V, vgl. hierzu auch die Gesetzesbegründung zum Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07 2006 - BT-Drucksache 16/1410 S. 20). Für die Beurteilung der Frage, wann eine voraussichtlich länger als sechsmonatige Unterbringung stattfindet, ist eine Prognoseentscheidung zu treffen (Bayerisches LSG, Urteil vom 29.09.2006 - L 7 AS 130/06 -). Da die Deutsche Rentenversicherung Rheinland zunächst nur eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation für voraussichtlich 13 Wochen bewilligt hat, war der Kläger ab dem 25.07.2006 für voraussichtlich weniger als 6 Monate in einem Krankenhaus untergebracht.

Der Aufenthalt in der JVA ist zu der Dauer der medizinischen Rehabilitationsbehandlung nicht hinzuzurechnen. Allerdings bestimmt § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II in der seit 01.08.2006 geltenden Fassung (Artikel 16 Abs. 1 i. V. m. Artikel 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006, BGBl I, 1706 ff.) dass dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt ist. Damit beantwortet das Gesetz die bis zum 31.07.2006 umstrittene Frage, ob es sich bei einer JVA um eine stationäre Einrichtung i. S. v. § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II handelt (bejahend: LSG NRW, Beschluss vom 06.08.2006 - L 9 B 70/06 AS ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.03.2006 - L 8 AS 1171/06 ER-B; Bayerisches LSG, Urteil vom 29.09.2006 - L 7 AS 130/06 -; abweichend: SG Konstanz, Beschluss vom 30.01.2006 - S 3 AS 171/06 ER).

Indes sind die Zeiten der Haft und des sich anschließenden Aufenthalts in einer therapeutischen Einrichtung zum Drogenentzug nicht zusammenzurechnen (abweichend: LSG NRW, Beschluss vom 08.08.2006 - L 9 B 70/06 AS ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.03.2006 - L 8 AS 1171/06 ER-B; SG Aachen, Urteil vom 29.11.2006 - S 19 SO 40/06 -; wie hier: Bayerisches LSG, Urteil vom 29.09.2006 - L 7 AS 130/06). Dem steht zum einen der Wortlaut des § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 1 SGB II entgegen, der allein auf den Krankenhausaufenthalt abstellt. Mit dem Bayerischen LSG (a.a.O.) ist die Kammer zudem der Meinung, dass durch den Wechsel von der Haft in die therapeutische Einrichtung ein Wechsel in den Beurteilungsgrundlagen vorliegt, denn die Aufenthalte haben unterschiedliche Zielrichtungen. Damit liegt ein Sachverhaltswechsel vor, der nicht von einer Prognose zu Beginn des ersten Aufenthaltes abgedeckt werden kann. Bei einer neuen Sach- und Erkenntnislage - wie hier dem Ende der Haftzeit - ist erneut eine Prognose hinsichtlich der Dauer der Unterbringung zu stellen. Die Kammer sieht diese Auffassung durch Gesetzesmaterialien gestützt. In der Begründung zu Artikel 1 Nr. 7c des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006 (BT-Drucksache 16/1410 S. 20) wird ausdrücklich ausgeführt, dass der Aufenthalt in einem Krankenhaus und der Aufenthalt in einer Einrichtung der medizinischen Rehabilitation zu addieren sind. In der Gesetzesbegründung heißt es ausdrücklich: "Das heißt, eine Person, die sich zunächst im Krankenhaus und im Anschluss daran in einer medizinischen Rehabilitationseinrichtung aufhält, ist vom Leistungsbezug ausgeschlossen, wenn der prognostizierte Aufenthaltszeitraum insgesamt 6 Monate übersteigt". Eine Addition des JVA-Aufenthaltes mit dem Krankenhaus-Aufenthalt wird nicht angesprochen. Hieraus entnimmt die Kammer den Willen des Gesetzgebers, eine derartige Addition nicht vorzunehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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