L 7 B 860/06 AS ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 AS 591/06 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 B 860/06 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Regensburg vom 12. Oktober 2006 abgeändert. Es wird die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs und der Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 14. Juni 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. August 2006 angeordnet, soweit die Beschwerdegegnerin die Leistungsbewilligung um mehr als 1.388,45 EUR aufgehoben hat und die Erstattung von mehr als 1.388,45 EUR verlangt. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat den Beschwerdeführern zwei Drittel der außergerichtlichen Kosten des Beschwerde- und Antragsverfahrens zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beschwerdeführer (Bf), d.h. die in Bedarfsgemeinschaft le-bende bevollmächtigte Ehefrau, ihr Ehemann und die drei minder-jährigen Kinder, begehren die Anordnung der aufschiebenden Wir-kung ihres Widerspruchs und der Klage gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Beschwerdegegnerin (Bg) vom 14.06.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.08.2006.

Die Bg bewilligte den Bf mit Bescheid vom 30.11.2004 Arbeitslo-sengeld II (Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für Januar 2005 in Höhe von 796,35 EUR, für Februar 2005 in Höhe von 826,35 EUR und für die Zeit vom 01.03. bis 31.05.2005 in Höhe von monatlich 865,35 EUR. Dem lag das bei der Antrag-stellung genannte Erwerbseinkommen des Bf zu 2) von brutto 892,99 EUR bzw. netto 695,29 EUR zugrunde. Bei dem Fortzahlungsantrag vom 23.05.2005 gab die Bf zu 1) ein vom Bf zu 2) im April 2005 erzieltes Erwerbseinkommen von brutto 3.527,92 EUR bzw. netto 2.553,58 EUR an. Mit Bescheid vom 26.07.2005 wurde der Antrag auf Fortzahlung der Leistungen abgelehnt, weil keine Hilfebedürftigkeit mehr vorliege. Dieser Bescheid ist bestandkräftig geworden.

Nach einer Anhörung der Bf zu 1) hob die Bg mit einem an diese gerichteten Bescheid vom 14.06.2006 die Leistungsbewilligungen für die Zeit vom 01.01. bis 28.02.2005 teilweise und für die Zeit vom 01.03. bis 31.05.2005 ganz auf. Die erbrachten Leistungen seien von den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft in Höhe von 4.019,09 EUR zu erstatten. Die Aufhebung finde ihre Rechtsgrundlage sowohl in § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 als auch in Nr. 3 SGB X. Die Erstattungsforderung ergebe sich aus § 40 Abs. 2 SGB II i.V.m. § 50 Abs. 1 SGB X. Da die gesamte Bedarfsgemeinschaft Empfänger der zu Unrecht erbrachten Leistungen gewesen sei, habe sie als Gesamtschuldnerin im Sinne des BGB gehandelt.

Mit ihrem Widerspruch vom 27.06.2006 machten die Bf geltend, durch den langen Zeitablauf habe die Bg das Recht, Erstattung zu verlangen, verwirkt. Sie hätten am 16.06.2005 alle Verdienstbescheinigungen abgegeben. Die Bg habe seit 16.06.2005 Kenntnis von den Einkommensverhältnissen der Bedarfsgemeinschaft gehabt. Hinsichtlich der vorherigen formlosen Übersendung dieser Bescheinigungen, die der Bf zu 2) an Eides statt versichern könne, könne nicht ausgeschlossen werden, dass sie nicht der jeweils richtigen Akte zugeordnet worden seien. Infolge des Zeitablaufs von fast zehn Monaten habe die Bedarfsgemeinschaft darauf vertrauen dürfen, dass keine Rückforderungsansprüche mehr geltend gemacht würden. Sie hätten das Geld für den Lebensunterhalt ausgegeben, es sei Entreicherung eingetreten. Es werde die Einrede der Verjährung erhoben.

Die Bg hat den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30.08. 2006 zurückgewiesen. Verwirkung sei nicht eingetreten. Angesichts der besonderen Situation beim Vollzug des SGB II durch eine neu gegründete Behörde mit neuem Personal und neuen Sach-mitteln habe die Bf zu 1) nicht davon ausgehen können, dass evtl. Überzahlungen unverzüglich zurückgefordert würden. Schlichtes Nichtstun reiche als Verwirkungsverhalten nicht. Auf die Frage der Entreicherung komme es bei Anwendung der §§ 48 und 50 SGB X nicht an. Verjährung sei gemäß § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X nicht eingetreten.

Zur Begründung ihrer am 26.09.2006 zum Sozialgericht Regensburg (SG) erhobenen Klage nahmen die Bf im Wesentlich auf ihren bis-herigen Sachvortrag Bezug. Gleichzeitig beantragten sie unter Bezugnahme auf die Vollstreckungsankündigungen des Hauptzollam-tes die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Be-scheid vom 14.06.2006 anzuordnen.

Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 12.10.2006 abgelehnt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, soweit der Bescheid vom 14.06.2006 davon ausgehe, dass das tatsächliche Erwerbseinkommen des Bf zu 2) die Hilfebedürftigkeit der Bf teilweise bzw. ganz beseitigt habe, werde dies von diesen nicht in Abrede gestellt. Durch das erzielte Einkommen sei eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten, die zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruches geführt habe. Damit seien die Voraussetzungen des § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II, § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X erfüllt. Die Bg habe das Recht, die insoweit betroffenen Leistungsbewilligungen aufzuheben, nicht verwirkt. Nach diesem auch im Sozialrecht anerkannten Rechtsinstitut entfalle eine Leistungspflicht, wenn der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraumes unterlassen habe und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Solche die Verwirkung auslösenden Umstände lägen nur vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmen Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde, der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut habe, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde und sich infolge dessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet habe, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde. Vorliegend fehle es bereits an einem Verwirkungsverhalten der Bg; denn bloße Untätigkeit reiche regelmäßig nicht aus. Es sei ein konkretes Verhalten des Berechtigten erforderlich, aus dem geschlossen werden könne, dass von dem Recht kein Gebrauch mehr gemacht werde. Der im Rahmen der Aufhebung von Verwaltungsakten mit Dauerwirkung gemäß § 48 Abs. 4 SGB X anwendbare § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X, wonach eine Aufhebung (nur) innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der relevanten Tatsachen erfolgen kann, zeige, dass der Gesetzgeber dem Leistungsträger grundsätzlich ein Jahr zur Geltendmachung seines Rechtes einräume. Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X könne dahingestellt bleiben, ob die Bf im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X grob fahrlässig ihrer Verpflichtung zur Mitteilung wesentlicher für sie nachteiliger Änderungen der Verhältnisse nicht nachgekommen seien. Es komme auch nicht darauf an, ob die Bedarfsgemeinschaft die Leistungen zwischenzeitlich verbraucht habe. Gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X seien, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden sei, bereits erbrachte Leistungen zu erstatten. Dieser Anspruch sei nicht verjährt; denn gemäß § 50 Abs. 4 SGB X verjähre der Erstattungsanspruch in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der schriftliche Verwaltungsakt unanfechtbar geworden sei. Dem im streitgegenständlichen Bescheid vom 14.06.2006 enthaltenen Hinweis auf ein gesamtschuldnerisches Handeln der gesamten Bedarfsgemeinschaft komme keine Bedeutung zu. Das BGB sehe zwar eine gesamtschuldnerische Haftung vor, nicht jedoch ein gesamtschuldnerisches Handeln. Bei diesen Gegebenheiten komme dem Interesse der Bg am Vollzug des Bescheides höheres Gewicht zu als dem Interesse der Bf an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung.

Die Bf haben gegen den am 16.10.2006 zugestellten Beschluss am 30.10.2006 Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 30.10.2006). Zur Begründung machen sie im Wesentlichen gelten, das SG gehe von einem falschen Bruttoeinkommen des Bf zu 2) aus. Die Miete betrage 1.000 EUR.

Die Beschwerdeführer stellen sinngemäß den Antrag, den Beschluss des Sozialgerichts Regensburg vom 12. Oktober 2006 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung des Wider-spruchs und der Klage gegen den Bescheid vom 14. Juni 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. August 2006 anzuordnen.

Die Bg. stellt den Antrag, die Beschwerde zurückzuweisen.

Das SG habe den Sachverhalt zutreffend dargestellt.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig und sachlich teilweise begründet.

Nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben (hier gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II), die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.

Dem Interesse der Bf an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung kommt teilweise ein höheres Gewicht zu als dem Interesse der Bg am Vollzug der angefochtenen Bescheide; denn die Bg hat den Bewilligungsbescheid vom 30.11.2004 zu Unrecht gegenüber der Bf zu 1) in Höhe von 4.019,09 EUR aufgehoben und die Erstattung dieses Betrages gefordert. Sie hätte die Bewilligung aber allenfalls in Höhe von 1.388,45 EUR aufheben dürfen (ob die Bg im Hinblick darauf, dass die Bg auch die Bewilligung der Kosten für die Unterkunft aufgehoben hat, zur Aufhebung in Höhe dieses Betrages berechtigt war, wird das SG im Hauptsacheverfahren noch zu prüfen haben, dazu drittletzter Absatz des Beschlusses). Adressat eines Bescheides, mit dem eine Leistungsbewilligung aufgehoben wird, kann nämlich immer nur derjenige sein, dem eine Leistung bewilligt wurde. Die Leistungsbewilligung hätte von der Bg gegenüber der Bf zu 1) allenfalls nur in Höhe von 1.388,45 EUR aufgehoben werden dürfen. Da die Bf zu 1) nach Ansicht der Bg nur diesen Betrag zu Unrecht erhalten hat und sie den Differenzbetrag zu den von der Bg geforderten 4.019,09 EUR den übrigen vier Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft bewilligt hat, hätte sie die Bewilligung des Differenzbetrages nur diesen gegenüber aufheben und nur von diesen die Erstattung fordern dürfen.

Dass die Leistungsbewilligung gegenüber allen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft individuell aufgehoben werden muss, steht die Regelung des § 38 SGB II nicht entgegen. Diese Vorschrift regelt zwar die Vertretung der Bedarfsgemeinschaft und stellt die Vermutung auf, dass ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft als bevollmächtigt gilt, Leistungen für die anderen Mitglieder zu beantragen und entgegenzunehmen. Diese Vermutung der Bevollmächtigung gilt aber nach dem eindeutigen Wortlaut nur für die Beantragung und die Entgegennahme der Leistungen, nicht aber für die Aufhebung eines Bewilligungsbescheides; denn dieser Sachverhalt lässt sich nicht unter die Begriffe Leistungen beantragen und entgegennehmen subsumieren. Das SGB II kennt nur einen individuellen Anspruch jedes einzelnen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft, nicht aber einen Anspruch der Bedarfsgemeinschaft als solche. Bescheide über die Aufhebung von Leistungsbewilligungen müssen deshalb gegenüber dem jeweiligen Leistungsempfänger ergehen. Erstatten muss der Leistungsempfänger auch nur die an ihn erbrachten Leistungen (so auch Eicher in: Eicher/Spellbrink, Komm. zum SGB II, § 40 RdNr 108).

Bezüglich des Betrages in Höhe von 1.388,45 EUR ist die Be-schwerde nicht begründet. Das SG hat es insoweit zu Recht abge-lehnt, die aufschiebende Wirkung anzuordnen, da das Interesse der Bf zu 1), die Wirksamkeit des Aufhebungsbescheides bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu hemmen, nicht das Interesse der Bg am sofortigen Vollzug überwiegt. Der Senat folgt insoweit den Ausführungen des SG und sieht gemäß § 142 Abs. 2 Satz 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Zudem ist bei einer Vollstreckung zu berücksichtigen, dass den Bf das für den Lebensunterhalt Benötigte verbleiben muss, so dass keine Eilbedürftigkeit besteht.

Allerdings wird das SG im Hauptsacheverfahren zu prüfen haben, ob die Bf zu 1) bösgläubig im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X war; denn dies ist gemäß § 40 Abs. 2 Satz 2 SGB II entscheidend dafür, ob die Bg ggf. von der Bf zu 1) die Erstattung der Leistungen für die Kosten der Unterkunft in voller Höhe verlangen kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit einem weiteren Rechtsmittel anfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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