L 13 RJ 112/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 39 RJ 28/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 RJ 112/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 12/07 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten wird unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 15. September 2004 mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass Ghettobeitragszeiten erst ab 1.1.1941 zu berücksichtigen sind. Die Beklagte trägt auch die der Klägerin im zweiten Rechtszug entstandenen außergerichtlichen Kosten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Altersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung (AR). Streitig ist noch, ob es sich bei der Beschäftigung der Klägerin von November 1940 bis Januar 1943 in Bendzin um solche in einen Ghetto im Sinne des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto vom 20.6.2002 (ZRBG) handelt.

Die am 00.00.1924 in Bendzin/Polen geborene Klägerin war in ihrer Heimat der nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt. Sie ist deshalb als Verfolgte im Sinne des § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt und hat eine Entschädigung für den in der Zeit vom 1.1.1941 bis zum 5.5.1945 erlittenen Freiheitsschaden erhalten. Nach ihren Angaben im Entschädigungsverfahren hatte sie sich von Ende 1940 bis Anfang 1943 im "Ghetto Bendzin" aufgehalten und war von dort in das Lager Gogolin sowie anschließend in das Lager Langen-Bielau verbracht worden. Nach ihrer Befreiung im Jahre 1945 kehrte sie zunächst nach Bendzin zurück und siedelte später nach Dzierzonow über, von wo sie im Jahre 1957 nach Israel auswanderte, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und in dessen Rentenversicherung sie zwischen 1.4.1960 bis 30.11.1984 versichert war.

Am 27.5.1998 beantragte die Klägerin AR unter Berücksichtigung von Fremdbeitragszeiten nach § 17 a des Fremdrentengesetzes (FRG) und gab dazu unter dem 9.7.1998 an, sie habe von Ende 1940 bis Anfang 1943 im Ghetto Bendzin gearbeitet.

Die Beklagte zog die Entschädigungsakte der Klägerin bei. Darin findet sich u.a. eine eidesstattliche Versicherung vom 12.2.1967, in der die Klägerin u.a. angegeben hatte, sie habe nach der Besetzung ihrer Geburtsstadt Bendzin den Judenstern tragen müssen und Zwangsarbeiten verrichten müssen. Sie habe in der Fabrik "F" bei der Herstellung von Büroartikeln gearbeitet. Nachdem das Ghetto in Bendzin errichtet worden sei, sei sie dort bis Anfang 1943 geblieben. Eidesstattlich bestätigt wurden diese Angaben von N L (28.3.1967) und S O (12.2.1967).

Mit Bescheid vom 3.11.2000 lehnte die Beklagte die Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung und die Zahlung einer AR nach dem Zusatzabkommen zum Abkommen vom 17.12.1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über soziale Sicherheit (DISVA) ab: Die Klägerin erfülle nicht die Voraussetzungen des § 17 a FRG. Die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (dsK) sei nicht glaubhaft, da die Klägerin trotz Aufforderung keine Sprachprüfung abgelegt habe. Die behaupteten Beschäftigungen im Ghetto Bendzin von Dezember 1940 bis Januar 1943 seien zudem als Zwangsarbeiten im Rahmen von Verfolgungsmaßnahmen zu beurteilen, für die Versicherungspflicht weder nach deutschen noch nach polnischen Rechtsvorschriften bestanden hätte. Den dagegen eingelegten Widerspruch der Klägerin, der ohne Begründung blieb, wies die Beklagte mit Bescheid vom 15.3.2001 zurück.

Mit der am 29.3.2001 beim Sozialgericht Düsseldorf (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Rentenbegehren weiterverfolgt und auf den im Klageverfahren erteilten Bescheid der Beklagten vom 28.1.2004 erstreckt und später hierauf beschränkt. Mit diesem Bescheid hatte die Beklagte den Antrag auf Bewilligung einer AR nach dem ZRBG mit der Begründung abgelehnt, dass die behauptete Beschäftigungszeit im Ghetto Bendzin vom 1.12.1940 bis zum 31.12.1942 nicht berücksichtigt werden könne, da das Ghetto Bendzin erst im Januar 1943 errichtet worden sei.

Die Klägerin hat weiterhin die Berücksichtigung von Beitragszeiten in Bendzin (Zeitraum zunächst: Januar 1940 bis März 1943) begehrt. Zur Glaubhaftmachung hat sie Erklärungen der E O1 und U O1 vom Mai 2002 eingereicht, die bestätigt haben, dass die Klägerin von Januar 1940 bis März 1943 im Ghetto Bendzin in der Herstellung für Büroartikel gearbeitet und für ihre Arbeit in der Werkstätte wie auch für ihre Arbeit im Ghetto Bendzin ein Gehalt erhalten habe. Sie hat die Ansicht vertreten, der Ghetto-Begriff des ZRBG könne nicht im Sinne der Beklagten ausgelegt werden. Das ZRBG habe bei der Verwendung des Begriffs "Ghetto" auf die bisherige Praxis zur Auslegung von Beschäftigungen innerhalb und außerhalb eines Ghettos Bezug nehmen wollen. Ein Ghetto im Sinne des ZRBG sei dann anzunehmen, wenn eine jüdische Selbstverwaltung eingerichtet worden sei, die auch für die Arbeitsbeschaffung zuständig gewesen sei. Das Ghetto Bendzin habe, wie sich aus zahlreichen historischen Werken ergebe, spätestens ab dem 1.7.1940 bestanden. Wie die andern großen Judenviertel Ostoberschlesiens in Sosnowitz und Dombrowa sei das Ghetto Bendzin als "offenes Ghetto" weder eingezäunt noch bewacht gewesen.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.1.2004 zu verurteilen, ihr - der Klägerin - Altersrente unter Berücksichtigung einer glaubhaft gemachten Beitragszeit von November 1940 bis zum 31.1.1943 und Ersatzzeiten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, von einer Ghetto-Bildung in Ostoberschlesien könne erst ab Herbst 1942 gesprochen werden. Dazu hat sie auf das Gutachten des Historikers Bodek vom 31.12.2002 (L 3 RJ 69/99 LSG NRW, Blatt 32 ff.) verwiesen. Das ZRBG enthalte für den Begriff "Ghetto" keine Legal-Definition. Nach dem Verständnis der NS-Machthaber sei mit dem Begriff "Ghetto" eine vollständige hermetische Abriegelung der jüdischen Bevölkerung von der nichtjüdischen Umgebung gemeint (geschlossene Ghettos). Das wichtigste Merkmal eines Ghettos im Sinne des ZRBG sei demnach das Nichtvorhandensein einer nichtjüdischen Bevölkerung in dem betreffenden Wohngebiet. Ein zwangsweiser Aufenthalt in einem (offenen) Ghetto liege daher erst ab dem Zeitpunkt vor, in dem das Ghetto von den NS-Machthabern in den eingegliederten und besetzten Gebieten erstmals errichtet worden sei mit dem Ziel, die Juden örtlich zu konzentrieren. Im gesamten Gebiet von Ostoberschlesien sei mit der Errichtung von Ghettos erst im Herbst 1942 begonnen worden. Für Bendzin gelte der Zeitpunkt Januar 1943.

Das SG hat die geschichtswissenschaftlichen Gutachten des Andrzej Bodek vom 25.7.1997 (S 4 (3) J 105/93 SG Düsseldorf (Gutachten l)), vom September 2002 (LSG NRW L 14 RJ 74/01(Gutachten II)) und vom 31.12.2002 (LSG NRW L 3 RJ 69/99 (Gutachten III)), zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.

Mit Urteil vom 15.9.2004 hat es SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.1.2004 verurteilt, der Klägerin eine AR unter Berücksichtigung einer Beitragszeit vom 1.11.1940 bis 31.1.1943 und Ersatzzeiten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen nach dem ZRBG ab dem 1.7.1997 zu gewähren.

Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe Anspruch auf Gewährung von AR gemäß § 35 SGB VI ab dem 1.7.1997 unter Berücksichtigung einer Beitragszeit vom 1.11.1940 bis zum 31.1.1943 sowie anzurechnenden Ersatzzeiten. Sie habe glaubhaft gemacht, dass sie in diesem Zeitraum in der Firma "F" eine aus eigenen Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung gegen Entgelt im Sinne des § 1 ZRBG ausgeübt habe. Diese Zeit sei gemäß § 55 SGB VI, § 2 Abs.1 Nr. 1 ZRBG auf die Wartezeit in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung anzurechnen, denn es handele sich um eine Beschäftigung einer Verfolgten "in einem Ghetto" im Sinne des § 1 ZRBG. Der Begriff "Ghetto" sei unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck des ZRBG als Abgrenzungsmerkmal zu Beschäftigungen in Zwangsarbeitslagern und Konzentrationslagern zu verstehen. Ob ein Beschäftigungsverhältnis in einem "Ghetto" im Sinne des ZRBG vorliege, sei unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung zur Annahme eines freiwilligen Beschäftigungsverhältnisses zum Beispiel für das "Ghetto Bendzin" zu ermitteln (z.B. BSG - B 13 RJ 67/98 R; LSG NRW, L 8 RJ 52/97 und zahlreichen erstinstanzlichen Entscheidungen des Sozialgerichts Düsseldorf). Der Gesetzgeber habe in Kenntnis der genannten Rechtsprechung in § 1 ZRBG den Begriff "Ghetto" verwandt. Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber von der bisherigen Auslegung der Rechtsprechung für die Annahme einer Beschäftigung in einem Ghetto abweichen wollte, seien nicht ersichtlich. Entgegen der Ansicht der Beklagten setze der Anwendungsbereich des § 1 ZRBG nicht die Unterbringung in einem räumlich von anderen Stadtgebieten abgrenzten und entsprechend äußerlich gesicherten Stadtbezirken im Sinne der NS-Machthaber voraus. Im Falle eines "offenen Ghettos" sei nicht zu fordern, dass dieses von den NS-Machthabern in den eingegliederten und besetzten Gebieten erstmals mit dem Ziel errichtet wurde, Juden örtlich zu konzentrieren. Auch für das von der Beklagten als entscheidend angesehene Nichtvorhandensein einer nichtjüdischen Bevölkerung in den betreffenden Wohngebieten lasse sich weder im Wortlaut, der Entstehungsgeschichte noch nach Sinn und Zweck des ZRBG eine Stütze finden. Der Sachverständige Bodek, auf den sich die Beklagte stütze, lege einen zu engen Ghetto-Begriff zugrunde. Bodek orientiere sich nämlich in seinen Gutachten zu Ostoberschlesien an der Beschreibung eines Ghetto als eines räumlich abgegrenzten Stadtbezirks, welcher auch nach außen gesichert ist. Unter Zugrundelegung der obigen Ghetto-Definition bejahe er den Beginn einer Ghetto-Errichtung in Bendzin erst im Herbst 1942 (vgl. Bodek G III, Seite 34 ff.; Bodek G l, Seite 6 und 88 ff., insbesondere Seite 113), ebenso die Errichtung eines Ghetto in Sosnowitz im Herbst 1942. Den Ausführungen Bodeks sei jedoch auch zu entnehmen, dass vor der behördlichen Organisation der Ghetto-Errichtung im Sinne der NS-Machthaber jüdische Wohnbezirke bzw. Judenviertel sowohl in Bendzin als auch in Sosnowitz bestanden (vgl. Gutachten III, Seite 35 zu Bendzin und Gutachten l, Seite 113 zu Sosnowitz). Diese jüdischen Wohnbezirke hätten zum Teil schon vor der deutschen Besetzung Ostoberschlesiens im Sinne einer selbst gewählten Separierung der jüdischen Bevölkerung in Ostoberschlesien existiert. Die selbstgewählte Separierung in Judenwohnbezirken habe sich jedoch mit der deutschen Besetzung Ostoberschlesiens durch die zunehmende Beschränkung der Bewegungsfreiheit der jüdischen Bevölkerung geändert (Einführung des so genannten Judenbanns Anfang 1941 sowie die "Anordnung über den Aufenthalt der Juden" vom 31.07.1941). Diese behördlichen Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, zunehmende Verdrängungsmaßnahmen und der Zustrom weiterer Juden aufgrund von Vertreibungsaktionen in anderen Orten Ostoberschlesiens hätten zu einer Ghettoisierung in den Judenwohnbezirken geführt. Es sei zunehmend eine aufgezwungene und kontrollierte Separierung der jüdischen Bevölkerung, mit der Folge entstanden, dass diese die Lebenssituation in den Judenwohnbezirken als Ghetto wahrgenommen hätten. Dies beschreibe auch Bodek, indem er ausführe, die so entstehenden Judenviertel seien zwar (Anm.: gemessen an Definition und Zielsetzung der NS-Behörden) "de jure" keine Ghettos gewesen, aber viele jüdische Menschen hätten diesen Zustand "de fakto" als Ghettoisierung empfunden (vgl. Bodek, Gutachten III, Seite 35).

Gegen das am 8.11.2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 18.11.2004 Berufung eingelegt. Die Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten im Sinne des ZRBG komme ihres Erachtens nur insoweit in Betracht, wie nach den historischen Erkenntnissen die Verhältnisse im Ghetto Bendzin denen im Ghetto Lodz vergleichbar seien. Denn der Gesetzgeber habe ersichtlich die Verhältnisse im Ghetto Lodz vor Augen gehabt. Letzteres sei für Bendzin aber erst ab Januar 1943 zu begründen. Das SG berücksichtige auch nicht hinreichend, dass ein zwangsweiser Aufenthalt im Ghetto gefordert werde. Die Beklagte sieht ihre Auffassung auch in der Niederschrift der Sitzung des 3. Senats des LSG NRW vom 29.5.2006 (L 3 RJ 28/03) bestätigt, in welcher darauf hingewiesen worden ist, dass nach den Gutachten Bodek und Golczewski aber auch nach der Schilderung von Szternfinkel das Ghetto Sosnowitz erst im Herbst 1942 gegründet worden sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19.9.1004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise die Zeugen O1 und O1 als Zeugen zum Beschäftigungsverhältnis der Klägerin sowie zum Bestand des Ghettos Bendzin zu vernehmen, hilfsweise Herrn Bodek und Herrn Prof. Dr. Golczewski als Sachverständige zu befragen, hilfsweise ein Obergutachten einzuholen und zu dem Bestand des Ghettos Bendzin, hilfsweise die Revision zuzulassen.

Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Auf Anfrage des Senats hat sie in einem undatierten persönlichen Schreiben erläutert, weshalb sie im Entschädigungsverfahren von der "Verbringung ins Ghetto Benzin" gesprochen habe und was für sie selbst damit verbunden gewesen sei.

Zum Ghetto-Begriff des ZRBG führt sie aus, weder dieses Gesetz noch das Urteil des BSG zum Ghetto Lodz enthielten eine Definition dieses Begriffs. Das BSG habe nicht entschieden, dass nur Beschäftigungsverhältnisse in völlig abgeriegelten Ghettos wie Lodz Berücksichtigung finden könnten. Das Ghetto Lodz habe bereits zum Zeitpunkt seiner Gründung einen Sonderfall dargestellt, denn es sei von Anfang an abgeriegelt gewesen und Beschäftigungsmöglichkeiten für Juden hätten sich erst später ergeben. Das ZRBG stelle keine "Lex- Lodz" dar. Für eine zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto werde nicht verlangt, das die Voraussetzungen des § 43 BEG (Freiheitsentziehung) vorliegen, es genüge, dass der jüdische Verfolgte durch hoheitliche Anordnung oder hoheitliche Praxis gezwungen war, seinen Lebensmittelpunkt in einem Ghetto oder sonst bezeichneten Bezirk zu nehmen. Bodek verwende einen an § 43 BEG orientierten und deshalb unzutreffenden Ghettobegriff. Eine völlige Separierung sei nicht zu fordern. Auch der Aufenthalt in einem offenen Ghetto könne ein zwangsweiser sein. Die historische Literatur spreche teilweise davon, dass die Deutschen in der ersten Phase ein moralisches Ghetto geführt hätten, angelehnt an rechtliche Beschränkungen und dass in der zweiten Phase ein physisches, territoriales Ghetto realisiert worden sei. Bestätigt sieht die Klägerin ihre Auffassung u.a. durch die Entscheidung des 14. Senats des LSG NRW vom 1.9.20906 (L 14 R 41/05) zum Ghetto Krenau/Ostoberschlesien.

Die Klägerin bezieht sich ferner auf das Gutachten von Prof. Dr. Golczewski, Universität Hamburg, vom 10.11.2005 (SG Hamburg S 35 RJ 737/00 u.a.) zur Region Ostoberschlesien und verweist auf einen (Internet-)Bericht des Verfolgten Jakub Sander über die Besetzung Benzins durch die Deutschen. Sie hat ferner zahlreiche Kopien mit Aussagen Verfolgter vorgelegt, in denen die Rede von der Errichtung von Ghettos bzw dem Aufenthalt in verschiedenen Ghettos Ostoberschlesiens vor dem von der Beklagten angenommen Zeitpunkt ist.

Der Senat hat die die Klägerin betreffenden Unterlagen des Art. 2 Fund der Claims Conference, die bereist erwähnten Gutachten von Bodek und Golczewski sowie die Auskünfte Yad Vashems und des Archivs Katovice aus L 13 RJ 167/05 und die Übersetzung aus dem von Yad Vashem zur Verfügung gestellten Gemeinderegister Polen, Band VII, Bezirke Lublin, Kielce (L 4 RJ 48/02) beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf den Inhalt der Streitakten, der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der die Klägerin betreffenden Entschädigungsakten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist überwiegend unbegründet. Das SG hat zu Recht den nach § 96 SGG zum Gegenstand des Verfahrens gewordenen Bescheid der Beklagten vom 28.1.2004 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1.7.1997 AR zu gewähren. Eine Ghetto-Beitragszeit ist jedoch begrifflich erst ab dem Monat Januar 1941 gegeben.

Die Klägerin hat ab 1.7.1997 Anspruch auf AR gemäß § 35 SGB VI, weil sie zu diesem Zeitpunkt das 65. Lebensjahr vollendet hatte und mit "Ghetto-Beitragszeiten" gemäß §§ ZRBG, 55 SBG VI, Ersatzzeiten (§ 250 SGB VI) und ihren in Israel zurückgelegten Abkommenszeiten die für diese Leistung erforderliche Wartezeit (§ 50 SGB VI) in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung erfüllt.

Sie hat von Januar 1941 bis Januar 1943 in Bendzin eine Ghetto-Beitragszeit (Art 1 § 1 Abs.1 ZRBG) zurückgelegt.

Gemäß Art. 1 § 1 Abs. 1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zu Stande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem sich Systemen der sozialen Sicherheit erbracht wird.

Zunächst ist es zur Überzeugung des Senats nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens überwiegend wahrscheinlich und damit glaubhaft gemacht, dass die Klägerin als Verfolgte in Bendzin jedenfalls ab "Ende 1940" einer abhängigen Beschäftigung nachgegangen ist, die im Sinne des ZRBG aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen war und gegen Entgelt verrichtet wurde. Hierfür sprechen insbesondere die Angaben der Klägerin im Entschädigungsverfahren zur Arbeit für die Fa. F, die schriftlichen Bekundungen ihrer Gewährspersonen und die Erkenntnisse aus den verschiedenen den Beteiligten bekannten Gutachten von Bodek und Golczewski zu den Verhältnissen in Ostoberschlesien während des zweiten Weltkrieges. Das SG hat alle für die Glaubhaftmachung der Arbeit und ihrer Bedingungen bedeutsamen Umstände unter Anlegung des richtigen Beweismaßstabes der Glaubhaftmachung überzeugend gewürdigt. Da auch die Beteiligten die Würdigung der Beweise durch das SG teilen, verzichtet der Senat dazu auf nähere Ausführungen und nimmt insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug.

Ab Januar 1941 erfüllt die Beschäftigung der Klägerin in Bendzin die weiteren Voraussetzungen, unter denen das ZRBG seine Geltung (§ 1) und die Fiktion der Beitragszahlung (§ 2) anordnet. Ab diesem Zeitpunkt ist die Beschäftigung nämlich von der Klägerin als einer Verfolgten "in einem Ghetto, in dem sie sich zwangsweise aufgehalten hat" ausgeübt worden (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG). Bendzin, der Ort der Beschäftigung der Klägerin, gehörte im streitigen Zeitraum ferner zu den dem Deutschen Reich eingegliederten Gebieten.

Das ZRBG definiert den Begriff Ghetto nicht und nimmt auch nicht auf ältere Normen (§ 43 BEG; § 11 Abs.1 EVZStiftG) Bezug, in denen dieser Begriff Verwendung gefunden hatte. Im Allgemeinen Sprachgebrauch ist Ghetto (auch Getto geschrieben) Synonym für "abgetrenntes Wohnviertel; Judenviertel" (vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 24.Auflage, Berlin u. New York 2002 S. 354 zur Entlehnung aus it. ghetto, der ursprünglichen Bezeichnung des Judenviertels in Venedig (seit dem 16. Jh.)). Für die zwischen den Beteiligten streitige Auslegungsfrage lässt sich aus dem Begriff unmittelbar und vom Kontext gelöst nichts Entscheidendes herleiten, weil die historischen Verhältnisse in den verschiedenen Ghettos im Laufe der Jahrhunderte, insbesondere vor und nach der Aufklärung evident zu unterschiedlich gewesen sind, um auf eine bestimmte begrifflich vorgegebene Ausprägung des Wohn- und ggf. auch Aufenthaltszwanges und der Vollständigkeit der Absonderung von anderen Bevölkerungsgruppen schließen zu können.

Die Formulierung "in einem Ghetto" selbst zwingt nicht zur der Annahme, es müsse sich immer um einen geschlossenen oder gar abgeriegelten und bewachten Raum/Bezirk handeln. Der Wortlaut des § 1 ZRBG spricht vielmehr eher gegen die von der Beklagten angenommene Reduzierung des Anwendungsbereiches des ZRBG auf abgeschlossene und bewachte Ghettos. Wenn dort dem Begriff des Ghettos die Abriegelung und Bewachung immanent wäre, würde sich der Sinn des weiteren Tatbestandsmerkmals des "zwangsweisen Aufenthalts" nicht erschließen. Denn wer ein in einem hermetisch abgeriegelten und bewachten Ghetto eingesperrt war, dessen Aufenthalt darin wird typischerweise ein zwangsweiser gewesen sein. Der Wortlaut der Norm deutet mithin darauf, dass der Begriff des Ghettos im ZRBG weiter ist, als die Beklagte annimmt.

Der Beklagten ist andererseits zuzugeben, dass es nicht die Funktion des Tatbestandsmerkmals Ghetto trifft, wenn das SG ausführt, der Begriff des Ghettos sei (sinngemäß: nur) als "Abgrenzungsmerkmal zu Beschäftigungen in Zwangsarbeitslagern und Konzentrationslagern" zu verstehen. Die regelmäßig in ZRBG-Verfahren entscheidende Frage der Trennung zur nichtversicherten Zwangsarbeit (z.B. in einem Konzentrationslager) erfolgt nicht über den Begriff des Ghettos, sondern über die Tatbestandsmerkmale "aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen" und "gegen Entgelt" sowie ggf. über den Begriff der Beschäftigung. Des Tatbestandsmerkmals Ghetto bedürfte es hierzu nicht. Die Frage, ob eine glaubhaft gemachte aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung gegen Entgelt im Ghetto (dann Beitragszeit) oder etwa im Konzentrationslager (dann keine Versicherungszeit) ausgeübt worden ist, wäre dann lediglich theoretischer Natur. Sie stellt sich aus tatsächlichen Gründen nicht. Das Merkmal Ghetto wäre nahezu ohne Bedeutung, wenn der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, dass für jede "freiwillige" und entgeltliche Beschäftigung in den besetzten oder eingegliederten Gebieten ab der Besetzung oder Eingliederung die Beitragsfiktion Platz greifen sollte. Hat der Begriff des Ghettos also bezüglich der Trennung zur Zwangsarbeit faktisch keine Bedeutung, so hat er doch - jedenfalls zusammen mit der weiteren Qualifizierung des Aufenthalts im Ghetto als eines zwangsweisen - zumindest auch die Funktion, von der Beitragsfiktion und Zahlbarmachung nach dem ZRBG solche "freiwilligen" und entgeltlichen Beschäftigungen auszuschließen, die in den besetzten oder eingegliederten Gebieten z.B. vor Errichtung eines Ghettos oder zwar in einem Ghetto aber bei nicht zwangsweisem Aufenthalt ausgeübt worden sind. Schließlich konnten durch in Ostoberschlesien ausgeübte Beschäftigungen Verfolgter schon vor Erlass des ZRBG Ansprüche in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung unabhängig vom Aufenthalt in einem Ghetto begründet sein, was die Klägerin i.ü. zum Anlass ihres ursprünglichen Rentenantrags genommen hatte. Hinzuweisen ist insoweit auch auf die Erläuterung in der Begründung des Gesetzentwurfs zu § 2 (BT- Drucksache 14/8583, S.6), dass ein wertmäßiges Mitziehen von Beitragszeiten, die außerhalb des Ghettos erworben worden sind, ausgeschlossen sei. Auch hieran wird deutlich, dass die eigentliche Bedeutung des Begriffs Ghetto im ZRBG nicht in einer Abgrenzung von Zwangsarbeitslager und Konzentrationslager liegen kann.

Die Gesetzgebungsmaterialien tragen zur weiteren Ausfüllung des Begriffs des Ghettos nicht entscheidend bei. Die Begründung der Gesetzentwürfe verdeutlicht, dass das Augenmerk darauf lag, Beitragszeiten aufgrund "freiwilliger" Arbeiten "im Ghetto", auf deren Möglichkeit der Gesetzgeber durch die Rechtsprechung des BSG zum Ghetto Lodz aufmerksam gemacht worden war, von Zwangsarbeiten abzugrenzen. Dabei folgen nach der Begründung des § 1 des Entwurfs (BT- Drucksache 14/8583 S. 6), die in der Vorschrift genannten Kriterien der Rechtsprechung des BSG. Dort wird aber die Abgrenzung zur nichtversicherten Zwangsarbeit ohne nähere Beleuchtung des Begriffs des Ghettos vorgenommen.

Eine Diskussion des Ghettobegriffs hat im Gesetzgebungsverfahrens nicht stattgefunden. Die Erkenntnis, dass die Verhältnisse in den besetzten und eingegliederten Gebieten äußerst unterschiedlich gestaltet waren, war damals noch nicht vorhanden. Die zu Protokoll gegebenen Reden (vgl. Stenografischer Bericht der 233. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 25.4.2002- Plenarprotokoll 14/233) lassen zwar wie die Gesetzentwürfe erkennen, dass im Bundestag der entschädigungsrechtliche Zusammenhang gesehen worden ist ("Schließung einer Lücke im Entschädigungsrecht") und dass das Beispiel (z.B.) des (geschlossenen) Ghettos Lodz vor Augen gestanden hat. Damit ist aber weder eine begriffliche Ausformung im Sinne des § 43 BEG vorgenommen noch sind damit die Verhältnisse im - geschlossenen- Ghetto Lodz zum gesetzlichen Maßstab gemacht worden. Hiervon abgesehen würde auch der Rückgriff auf das BEG und die zu diesem ergangene Rechtsprechung nicht zwingend für den Ghettobegriff der Beklagten sprechen. Nach dem BEG war allerdings nach den verschiedenen Phasen der Ghettoisierung zu differenzieren und der entsprechende Entschädigungstatbestand verlangte im Grundsatz die Abriegelung des Ghettos in dem von der Beklagten auch für das ZRBG geforderten Sinne eines geschlossenen Ghettos. Die Klägerin kann aber mit Recht darauf hinweisen, dass es in § 43 BEG um die Abgrenzung der Freiheitsentziehung in einem Ghetto, der Ghettohaft, von der (bloßen) Freiheitseinschränkung ging. Im Übrigen ist die Entschädigungsrechtsprechung dazu übergegangen, das mit der Todesstrafe versehene Verbot, das Ghetto zu verlassen (für das Generalgouvernement ab Okt. 1941), einer Umzäunung des Ghettos gleichzusetzen (vgl. OLG Stuttgart vom 26.4.1951, EGR 111, RzW 1951,238). Es ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass die Beklagte einen Ghettoaufenthalt im Falle der Klägerin selbst für einen Zeitraum verneinen möchte, für den der Klägerin eine Entschädigung wegen Freiheitsentziehung nach dem BEG zugesprochen worden ist (ab 1.1.1941).

Vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse in den eingegliederten oder besetzten Gebieten, die trotz der ganz erheblichen Unterschiede insbesondere zwischen dem Generalgouvernement und der Region Ostoberschlesien in den gemeinsamen Zusammenhang der Pläne zur Ausbeutung und Vernichtung der Juden zu stellen sind, sind für die Begriffsdefinition unter Berücksichtigung der Zielsetzung des ZRBG und der oben beschriebenen Abgrenzungsfunktion des Ghettobegriffs folgende Umstände entscheidend:

Kennzeichnend für die Ghettoisierung der Juden in den vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten oder ihm eingegliederten Gebieten ist, dass die dortige jüdische Bevölkerung unter Anwendung von Zwang abgesondert, konzentriert und in Zwangsquartieren interniert wurde. Dies ist in den verschiedenen Gebieten auf sehr unterschiedliche und wechselnde Weise und zu unterschiedlichen Zeitpunkten geschehen. Die Merkmale der Konzentration, der Absonderung und der internierungsähnlichen Unterbringung müssen zur Überzeugung des Senats in jedem Fall einer Beitragszeit wegen einer Beschäftigung in einem Ghetto im Sinne des ZRBG erfüllt sein. Sie müssen dies jedoch nicht stets in der Ausprägung sein, wie sie im Generalgouvernement oder speziell im besetzten Lodz vorgefunden worden ist. Vielmehr können sie auch im eingegliederten Ostoberschlesien gegeben sein.

Für Bendzin lassen sich dem Begriff des Ghettos bzw des zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto im Sinne des ZRBG entsprechende Konzentration, Absonderung und internierungsähnliche Unterbringung ab Januar 1941 feststellen.

Das Merkmal der Konzentration der jüdischen Bevölkerung Ostoberschlesiens war bereits vor diesem Zeitpunkt dadurch gegeben, dass die jüdische Bevölkerung aus anderen Orten durch die Verfolger in bestimmten Städten, u.a. Bendzin, zusammengefasst wurde. Keine Bedeutung hat insoweit, dass die Klägerin schon vor der Besetzung in Bendzin gelebt hat.

Ferner ist die Klägerin bereits im Jahr 1940 innerhalb der Stadt Bendzin zwangsumgesiedelt worden. Eine bloße Zwangsumsiedlung schafft zwar noch kein Ghetto. Der Klägerin und den anderen Juden aus Benzin war aber nicht allein aufgegeben worden, ihre bisherige Wohnung zu verlassen. Ihnen wurde auch das neue Wohngebiet zugewiesen. Hierbei handelte es sich um ein Wohngebiet für Juden. Die Wohn- und Lebensumstände dort entsprachen, wie sich u.a aus den Schilderungen der Klägerin und den von ihr vorgelegten Unterlagen aus anderen Entschädigungsverfahren ergibt, denen einer Internierung.

Ab Januar 1941 hatte auch die Absonderung der jüdischen Bevölkerung ein Ausmaß erreicht, dass trotz fehlender Umzäunung der für die jüdische Bevölkerung vorgesehenen Wohngebiete für die dort lebenden Juden ein zwangsweiser Aufenthalt in einem Ghetto angenommen werden muss.

Zur Absonderung der jüdischen Bevölkerung rechnet bereits deren Verpflichtung, ein Kennzeichnen zu tragen, das sie als Juden von der übrigen Bevölkerung unterscheidet. Eine entsprechende Anordnung zur Kennzeichnung der Juden war für Ostoberschlesien bereits zwischen 21.12.1939 und Januar 1940 eingeführt worden (vgl. Golczewski S. 4/5).

Wesentliches Element der zu fordernden Absonderung ist ferner die Zuweisung bestimmter Wohngebiete für die jüdische Bevölkerung und deren dortiges Zusammendrängen, weil damit der jüdische Bevölkerungsanteil dort zwangsläufig dominierte. Dieser Prozess ist durch die Schilderungen der Klägerin und die von ihr vorgelegten Berichte Verfolgter aus Entschädigungsverfahren für das Jahr 1940 belegt, wobei das Variieren der Angaben zur Terminierung darauf beruhen dürfte, dass die Verfolgten zu unterschiedlichen Terminen nach Bendzin gekommen sind und dass die einzelnen ursprünglich auch von den Juden bewohnten Straßenzüge zu unterschiedlichen Zeitpunkten von den deutschen Stellen in Anspruch genommen oder aus anderen Gründen "judenfrei" gemacht worden sind.

Allerdings lässt sich für Bendzin für den hier im Streit befindlichen Zeitraum (vor Einrichtung eines abgeriegelten Ghettos) nicht feststellen, dass in den den Juden als Ausweichquartier zugewiesenen Bezirken ausschließlich jüdische Bevölkerung lebte (vgl. etwa Gutachten Golczewski S. 4), wie es die Beklagte fordert. Es ist indes auch von der Beklagten nicht zu belegen, dass dies konstitutive Voraussetzung für ein Ghetto wäre. Typisch für ein Ghetto ist vor allem, dass darin Bevölkerungsgruppen leben, die in anderen Stadtteilen nicht wohnen dürfen, dagegen nicht, dass darin nicht auch Menschen leben, die nicht zu dieser Bevölkerungsgruppe gehören. Auch Rechtsprechung und Literatur zum BEG haben es als unerheblich angesehen, dass auch andere, nicht verfolgte Personen in dem Bezirk wohnten oder den Bezirk betreten durften (vgl. Becker/Huber/Küster, BEG, Kommentar Berlin u. Frankfurt 1955, § 16 Rz.12 S. 231 mit Hinweis auf ein Urteil des LG Stuttgart vom 15.11.1952 -EGR 2301-). Der Umstand, dass in den Juden zugewiesenen Teilen Bendzins die Bevölkerung gemischt war, lässt jedoch die Absonderung der Juden durch die Zwangsumsiedlung bzw die Zuweisung eines bestimmten Wohnbezirkes für Juden zunächst als sehr relative erscheinen.

Zudem ist nicht zu verkennen, dass anfangs die Einschränkung der Freizügigkeit trotz Zuweisung bestimmten Wohnraumes und weiterer Beschränkungen mangels entsprechender Absperrung des Wohnbezirkes keine vollständige war. Aus den beigezogenen Gutachten geht etwa hervor, dass die Möglichkeit der Bewegung zwischen den einzelnen Stadteilen und auch zwischen Bendzin und Sosnowitz bestanden hat (vgl. Golczewski S. 7). Dass unter diesen Umständen mit der Kennzeichnungspflicht und der Zwangsumsiedlung in vorgeschriebene jüdische Wohnbezirke mit gemischter Bevölkerung in Bendzin noch keine so weit gehende Absonderung gegeben ist, dass bereits von einem Ghetto, jedenfalls aber nicht von einem (zwangsweisen) Aufenthalt in einem Ghetto gesprochen werden könnte, legt auch das Wort Aufenthalt nahe.

Das ZRBG verlangt den (zwangsweisen) Aufenthalt in dem Ghetto. Aufenthalt ist nicht dem Begriff Wohnen gleichzusetzen. Wer in einem bestimmten Bezirk allein zu wohnen hat, sich aber im übrigen frei innerhalb der Stadt bewegen kann, die Stadt verlassen kann und außerhalb des zugewiesenen Wohnbezirks einer gewöhnlichen Arbeit nachgeht, wohnt zwangsweise in einem Ghetto, ohne dass davon gesprochen werden müsste, das er sich dort zwangsweise aufhält. Auch wenn angesichts der Art und Weise des Zustandekommens des ZRBG, das mehr von dem politischen Konsens als der Reflektion der Anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale geprägt zu sein scheint, vermieden werden muss, zu viel in das Gesetz hineinzulegen, wird sich dieser Begriff im ZRBG nicht ohne Grund finden. Der Gesetzgeber hatte ersichtlich vor Augen, dass sich das gesamte Leben der Verfolgten zwangsweise auf das Ghetto beschränkte und sie dort nicht allein wohnten, im Übrigen aber noch erhebliche Freizügigkeit genossen. Der Zwang darf sich daher nicht auf die Wohnungsnahme beschränken, sondern muss sich auf den -umfassenderen- Aufenthalt beziehen. Das ist bei den umzäunten und bewachten Ghettos ohne weiteres der Fall; das Verlassen des Ghettos unter Bewachung oder vergleichbaren Umständen um einen außerhalb gelegenen Arbeitsplatz aufzusuchen, bezeichnet keinen Aspekt der Freizügigkeit. Wenn das Ghetto aber nicht eingezäunt war, wie in Bendzin im streitigen Zeitraum, müssen weitere Maßnahmen der Verfolger zur Absonderung und weitergehenden Einschränkung der Freizügigkeit der Juden feststellbar sein, die geeignet sind, die ein Ghetto zwar begrifflich nicht ausschließende aber dafür nicht typische erhebliche Mischung der Bevölkerung, wie sie etwa nach Golczewski bestand (s.o. und vgl. Golczewski S.4) zu kompensieren.

Solche Maßnahmen/ Verhältnisse sind zur Überzeugung des Senats ab Januar 1941 für Bendzin belegt. Ab Anfang 1941 bzw. Frühjahr 1941 berichten die Sachverständigen Bodek (Gutachten II S. 13) und Golczewski (S. 5) übereinstimmend für Ostoberschlesien über den in städtischen Verordnungen vom Frühjahr 1941 formalisierten so genannten "Judenbann". Für Bendzin sprechen die Ausführungen in dem vielfach zitierten Werk von B. Steinbacher, "Musterstadt Auschwitz", Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2000 (S. 267, 268 (Fn.80)), welches die wesentliche Sekundärliteratur insbesondere für Golczewski gewesen ist, dafür, die Verhängung des Judenbannes im Januar 1941 anzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt gab es dort nicht nur Wohnraum bezogene Beschränkungen, eine Judenrat, einen jüdischen Ordnungsdienst (Polizei), sondern auch strenge Wirtschafts-, Verkehrs- und Aufenthaltsbeschränkungen als Ausdruck der weitgehenden Absonderung der jüdischen Bevölkerung. Für das Abstellen auf den Judenbann spricht, obwohl Juden in Bendzin von verschiedenen einschlägigen Maßnahmen unverkennbar schon vorher betroffen waren, nicht allein der Vorzug, der unmittelbar in einer Formalisierung gegenüber wenig greifbaren, möglicherweise nicht förmlich angeordneten, unterschiedlich durchgesetzten, wahrgenommenen und überlieferten Maßnahmen als Anknüpfungspunkt bietet, sondern auch, dass er für eine bestimmte neue Phase der Germanisierungspolitik in Ostoberschlesien steht. Zur angestrebten "Eindeutschung" der Region zählte nämlich insbesondere das Bestreben, die Juden aus dem Bild der Städte zu verbannen. Die verschiedentlich in den historischen Gutachten und Gerichtsentscheidungen wie auch in dem angefochtenen Urteil angesprochene "Anordnung über den Aufenthalt der Juden" des Oberpräsidenten der Provinz Oberschlesien vom 31.7.1941 brachte möglicherweise weitere und vor allem für einen größeren Raum Geltung beanspruchende Zwänge und Einschränkungen, ohne dass dadurch in Frage gestellt würde, dass in Bendzin sich die Juden bereits ab Januar zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben. Nicht entscheidend kann nach allem ferner sein, dass den Besatzern die Einrichtung eines räumlich abgegrenzten und entsprechend äußerlich gesicherten Stadtbezirks nicht möglich gewesen ist (vgl. die im Gutachten Bodek II S. 32 wiedergegebene Verfügung des Regierungspräsidenten Kattowitz vom 18.1.1941).

Soweit die Klägerin dokumentiert, dass zahlreiche Verfolgte in ihren Entschädigungsverfahren bereits für Zeitpunkte vor Januar 1941 davon gesprochen haben, "ins Ghetto Bendzin" gekommen zu seien oder "im Ghetto Bendzin" gearbeitet zu haben, führt dieser Hinweis letztlich nicht weiter. Obwohl es in diesem Verfahren um die Auslegung eines Rechtsbegriffes des ZRBG geht, ist der Senat weit davon entfernt, ausgerechnet den Verfolgten und damit den Betroffenen eine Vorstellung davon absprechen zu wollen, was ein Ghetto ist. Es darf indes nicht verkannt werden, dass es den Verfolgten in den Entschädigungsverfahren lediglich um die individuelle schlüssige Darlegung des nach dem BEG geforderten Verfolgungstatbestandes ging, ferner, dass es sich bei der Verwendung des Begriffs Ghetto in den betreffenden Äußerungen um Wertungen handelt, die regelmäßig nicht den Rückschluss auf die konkreten Umstände, zulassen, deren ausführliche Schilderung durch die Verwendung dieses Schlagwortes im Entschädigungsverfahren ersetzten werden sollte. Zudem wird die Schilderung eines Verfolgten z.B. "von Juli 1940 bis Januar 1943 im Ghetto Bendzin" gelebt zu haben, bereits deshalb, weil sie retrospektiv und kurz ist, regelmäßig durch die Erinnerung an die Zustände am Ende des Aufenthalts geprägt sein. Im Übrigen kann eine solche allgemeine Äußerung aus dem Entschädigungsverfahren in der hier geführten Diskussion des Ghettobegriffs nicht schon geeignet sein, etwa das konkrete Argument der Beklagten zu entkräften oder auch nur richtig zu gewichten, dass es sich nicht um einen Wohnbezirk mit rein jüdischer Bevölkerung gehandelt habe.

Deutlich geworden ist nicht erst in diesem Verfahren sondern spätestens durch die beigezogenen historischen Gutachten, dass pauschale und durch nichts belegte oder sonst ihre Quellen und Grundlagen erkennen lassende Terminierungen der Errichtung eines Ghettos wie z.B. in KEOM für Bendzin und in den aus dem Verfahren L 13 R 167/05 beigezogenen Unterlagen einer Überprüfung nicht standhalten können, einer solchen nicht einmal zugänglich sind.

Die Ghettobeitragszeit der Klägerin konnte nach allem erst ab Januar 1941 angenommen werden, ohne dass es eines Versuchs bedurft hätte, die teilweise unscharfen, teilweise auch voneinander abweichenden Angaben der Klägerin zum genauen Zeitpunkt ihrer Arbeitsaufnahme vor Januar 1941 ("Ende 1940", "Dezember 1940", "November 1940") aufzuklären.

Obwohl die Berufung der Beklagten in geringem Umfang Erfolg hatte, war dem Hilfsantrag der Klägerin, ein "Obergutachten" zur Frage einzuholen, ab wann während des 2. Weltkrieges in Bendzin ein Ghetto bestanden hat, nicht nachzugehen. Dabei spielt keine Rolle, dass das SGG kein "Obergutachten" kennt, auch kann dahin gestellt bleiben, ob ein ordnungsgemäßer Beweisantrag formuliert worden ist. Denn die Befragung eines sachverständigen Historikers käme nicht zu der Frage ob (richtig: zum Beweis dafür, dass) ein Ghetto schon im November 1941 in Bendzin bestanden hat in Betracht, sondern allenfalls zum Beweis dafür, dass die Verhältnisse in Bendzin bereits ab November 1941 geeignet waren, den vom Senat zugrunde zu legenden Ghettobegriff auszufüllen. Dass der formalisierte Judenbann bereits vor 1941 in Bendzin verhängt worden wäre, behauptet auch die Klägerin nicht. Die Divergenz in den Gutachten der Sachverständigen Bodek und Golczewski betrifft nicht die Frage, welche Verhältnisse in Bendzin geherrscht haben, sondern allein die vom Gericht zu beantwortende Frage, ob und ab wann deren Subsumtion unter das Merkmal des "zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto" möglich und geboten ist. Dem entsprechend haben die unterschiedlichen Bewertungen von Bodek und Golczewski keine Bedeutung für die Entscheidung des Senats.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Berufung im Wesentlichen ohne Erfolg geblieben ist.

Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er der Sache grundsätzliche Bedeutung beimisst.
Rechtskraft
Aus
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