S 1 U 5/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 1 U 5/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 28.06.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14.12.2005 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Ruptur der langen körpernahen Bizepssehne rechts als Folge des Arbeitsunfalles vom 19.05.2005 anzuerkennen und dem Kläger Verletztengeld vom 20.05. bis10.07.2005 zu gewähren. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Ruptur der langen Bizepssehne rechts durch einen Arbeitsunfall entstanden ist und durch Verletztengeldzahlung entschädigt werden muss.

Der am 00.00.1943 geborene Kläger trug am 19.05.2005 eine Kiste mit Hähnchen durch den Servicebereich in die dahinter gelegene Küche. Um der aus der Küche kommenden Frau W auszuweichen, stieß er mit der Kiste gegen den Türrahmen der offenen Küchentür. Dabei verspürte er einen reißenden Schmerz im rechten Oberarm, der mit dem Verlust jeglicher Tragkraft des rechten Armes verbunden und so stark war, dass die Kiste samt Hähnchen zu Boden fiel. Der Durchgangsarzt Dr. L stellte eine Ruptur der körpernahen langen Bizepssehne rechts fest. Am 24.05.2005 erfolgte eine transhumerale Fixation. Der histologische Befund erbrachte ein aufgesplittertes, deutlich ödematös aufgelockertes Sehnengewebe mit fortgeschrittenen degenerativen Veränderungen und einer frischen Risskante.

Die Beklagte verzichtete auf weitere Ermittlungen, da der beratende Arzt Dr. M grundsätzlich den Hergang als nicht geeignet angesehen hatte, die lange Bizepssehne reißen zu lassen. Mit Bescheid vom 28.06.2005 lehnte die Beklagte eine Entschädigung des Ereignisses ab. Der angeschuldigte Vorgang sei nicht geeignet gewesen, die krankhaften anlagebedingten Veränderungen wesentlich mitwirkend zu verschlimmern.

Im Widerspruchsverfahren hörte die Beklagte 3 Zeugen an. Herr K gab an, der Kläger habe zwei Stangen mit Hähnchen aus dem Grill genommen, auf eine Platte gelegt und sei auf dem Weg in Richtung Küche dort gegen den Türrahmen gestoßen. Der Zeuge L2 schilderte den Vorgang ähnlich. Der Kläger sei mit fertigen Hähnchen aus dem Grill in Richtung Küche gelaufen. Dabei sei er in vollem Tempo wegen Gegenverkehr mit der rechten Kistenseite gegen die Rahmentür gestoßen. Beide Zeugen gaben an, der Kläger habe schmerzverzehrt aufgeschrien und die Hähnchen seien zu Boden gefallen. Auch die Zeugin Frau W schilderte den Vorgang genauso. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 14.12.2005 zurück. Der Vorfall habe lediglich die Gelegenheit dargestellt, bei der das bisher nicht in Erscheinung getretene bzw. bereits vorhandene krankhafte Leiden bemerkbar geworden sei.

Mit seiner Klage vom 17.01.2006 macht der Kläger geltend, vor dem Unfall habe er keine Beschwerden am rechten Arm gehabt. Es bestünden keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Ruptur der langen Bizepssehne etwa zur gleichen Zeit und im gleichen Umfang auch ohne das äußere Ereignis des Anstoßens mit dem Kistenrand an die Rahmentür im Rahmen der alltäglichen Belastung eingetreten wäre.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 28.06.2005 in der Fassung des Widerspruchs- bescheides vom 14.12.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger wegen der Ruptur der langen Bizepssehne rechts als Folge des Arbeitsunfalles vom 19.05.2005 Verletztengeld nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat einen Befundbericht eingeholt von Dr. L vom 28.02.2006 mit Operationsbericht und histologischem Befund. Danach war der Kläger vom 20.05. bis 21.06. wegen körpernahem Riss der langen Bizepssehne rechts arbeitsunfähig. Der behandelnde Hausarzt Dr. L3 bestätigte mit Attest vom 17.05.2006, dass der Kläger wegen der Ruptur der langen Bizepssehne rechts vom 19.05. bis 10.07.2005 arbeitsunfähig war (Bl. 53).

Das Gericht hat ein Gutachten von dem Orthopäden Prof. Dr. T vom 28.08.2006 eingeholt. Der Sachverständige ging davon aus, dass der Kläger eine Platte mit Rand bzw. Kiste mit 8-10 gebratenen Hähnchen vor dem Körper getragen hat. Hieraus ergebe sich ein Gewicht von mehr als 7 kg, das frei vor dem Körper ohne weitere Abstützung bei gebeugten Ellenbogengelenken getragen worden sei. Aufgrund der Temperatur und dem Gewicht der Hähnchen habe sich der Kläger sehr schnell auf die geöffnete Tür zu bewegt und habe aufgrund des Ausweichmanövers abrupt und unerwartet mit der äußeren rechten Plattenecke gegen den Türrahmen gestoßen. Da der Kläger das schwere Tablett vor dem Körper trug, sei das Muskelsehnensystem vorgespannt gewesen. Das Anstoßen an den Türrahmen sei unvermutet und mit der körperfernen Ecke geschehen. Hierdurch habe ein langer Hebel auf das muskulär festgestellte Gelenk gewirkt und die plötzliche Spitzenbelastung der Sehne habe durch den vorgespannten Muskel und das überraschende Eintraten nicht mehr abgefangen werden können, so dass die überfallartige Spitzenlast die Sehne gerissen habe. Zwar sei die Sehne degenerativ vorgeschädigt gewesen, aufgrund des geeigneten Unfallablaufs sei jedoch der Riss der körpernahen Bizepssehne im wesentlichen auf das Ereignis zurückzuführen. Eine Arbeitsunfähigkeit von ca. 7 Wochen, wie sie von Dr. L3 bestätigt worden sei, sei postoperativ nicht unüblich und als unfallbedingt anzusehen.

Die Beklagte hat sich dem Gutachten nicht anschließen können und hierzu eine Stellungnahme ihres beratenden Chirurgen Dr. T2 vom 17.10.2006 zu den Akten gereicht. Er macht geltend, dass exakte Gewicht sowie der genaue Unfallhergang sei von dem Sachverständigengutachter nicht ermittelt worden. Das Tragen einer Kiste mit gefüllten Hähnchen auf Grillstangen gehöre zu den arbeitstäglichen Verrichtungen. Außergewöhnlich sei lediglich der abrupte und unerwartete Stoß der äußeren Plattenecke gegen den Türrahmen gewesen; die hierdurch entstandene Gewalteinwirkung sei jedoch nicht exakt ermittelt worden. Zusammenfassend müsse daher das Anstoßen an den Türrahmen nicht als erhebliche Gewalteinwirkung angesehen werden.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide der Beklagten beschwert. Entgegen der Entscheidung der Beklagten ist der Riss der körpernahen Bizepssehne rechts mit Wahrscheinlichkeit wesentlich auf den Vorfall vom 19.05.2005 zurückzuführen und deshalb von der Beklagten gemäß den §§ 8 Abs. 1, 45 des 7. Sozialgesetzbuches (SGB VII) als Folge eines Arbeitsunfalles zu entschädigen.

Nach § 45 Abs. 1 SGB VII ist Verletztengeld zu erbringen, wenn Versicherte in Folge des Versicherungsfalles arbeitsunfähig sind. Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). Als Unfälle definiert das Gesetz (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII) zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden führen.

Die von der Beklagten in ihrem Widerspruchsbescheid als zutreffend übernommene Rechtsauffassung des Mediziners Dr. L, es liege kein Unfall im Sinne des Gesetzes vor, hält einer rechtlichen Überprüfung nicht Stand. Dass auch eine normale Betriebstätigkeit die Merkmale eines Unfallereignisses erfüllen kann, wird in Rechtsprechung und Literatur einhellig anerkannt. Zuletzt hat das BSG mit Urteil vom 12.04.2005 (B 2 U 27/04 R) erneut festgestellt, dass für das von außen auf den Körper einwirkende zeitlich begrenzte Ereignis kein besonderes, ungewöhnliches Geschehen erforderlich ist. Alltägliche Vorgänge wie stolpern usw. genügen. Es dient der Abgrenzung zur Gesundheitsschäden aufgrund von inneren Ursachen, wie Herzinfarkt, Kreislaufkollaps usw., wenn diese während der versicherten Tätigkeit auftreten, sowie zu vorsätzlichen Selbstschädigungen. Im vorliegenden Fall besteht die äußere Einwirkung in dem Anstoßen an den Türrahmen mit der körperfernen rechten Ecke der mit 8 bis 10 gebratenen Hähnchen gefüllten Platte, wodurch ein langer Hebel auf das muskulär festgestellte Gelenk wirkte. Das für den Begriff des Unfalles wesentliche "äußere" Ereignis als Ursache der Körperschädigung liegt somit zweifelsfrei vor. Weiterhin wesentlich für den Begriff des Unfalls ist neben dem äußeren Ereignis als Ursache auch eine Körperschädigung als Wirkung (vgl. hierzu Urteil des BSG vom 02.05.2001, B 2 U 18/00 R). Die Körperschädigung als Wirkung ist in dem Riss der körpernahen Bizepssehne rechts zu sehen.

Liegt mithin ein Arbeitsunfall vor, so ist als weiterer Prüfungsschritt zu ermitteln, ob das Unfallereignis (Anstoßen mit der Platte an den Türrahmen) zumindest eine wesentliche Mitursache für den Riss der rechten körpernahen Bizepssehne war (haftungsbegründende Kausalität). Für die haftungsbegründende Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheitsschaden gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung. Diese setzt zunächst einen naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden voraus und in einem zweiten wertenden Schritt, dass das versicherte Unfallereignis für den Gesundheitsschaden wesentlich war. Denn als im Sinne des Sozialrechts ursächlich und rechtserheblich werden nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (ständige Rechtsprechung: BSG E 1, 72, 76; 1, 150, 156 f; BSG SozR 3 - 2200 § 548 Nr. 13). Gibt es neben der versicherten Ursache noch konkurrierende Ursachen, z. B. Krankheitsanlagen, so war die versicherte Ursache wesentlich, solange die unversicherte Ursache nicht von überragender Bedeutung war (BSG SozR Nr. 6 zu § 589 RVO; SozR Nr. 69 zu § 542 RVO a.F.) Eine Krankheitsanlage war von überragender Bedeutung, wenn sie so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die (naturwissenschaftliche) Verursachung akuter Erscheinungen nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern jedes alltäglich vorkommende Ereignis zu der selben Zeit die Erscheinungen verursacht hätte (BSG E 62, 220, 222 f = SozR 2200 § 589 Nr. 10 Seite 30). War die Krankheitsanlage von überragender Bedeutung, so ist die versicherte naturwissenschaftliche Ursache nicht als wesentlich anzusehen und scheidet als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts aus; sie ist dann bloß eine so genannte Gelegenheitsursache.

In Anwendung dieser Grundsätze ist die mit dem Anstoßen an den Türrahmen einhergehende Krafteinwirkung auf die Bizepssehne als rechtlich wesentliche Ursache für ihren Riss anzusehen. In Abwägung zwischen der degenerativen Vorschädigung der Sehne und der Einwirkung durch das Unfallereignis ist letzterer ( Einwirkung ) die Bedeutung einer wesentlichen Mitursache zu zumessen. Die Kammer entnimmt diese Überzeugung dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. T vom 28.08.2006. Der Sachverständige hat für die Kammer nachvollziehbar dargelegt, dass der Kläger, als er die schwere Platte vor dem Körper trug, sein Muskelsehnensystem angespannt hat und das Gelenk muskulär festgestellt war. Durch das Anstoßen an den Türrahmen mit der körperfernen rechten Ecke, wirkte unvermutet ein langer Hebel auf das muskulär festgestellte Gelenk. Die hierdurch verursachte Spitzenbelastung der Sehne konnte durch den bereits vorgespannten und festgestellten Muskel nicht mehr abgefangen werden, so dass durch die überfallartige Spitzenlast die Sehne reißen musste. Die plötzliche passive Belastung von muskulär fixierten Gelenken gilt als geeigneter Unfallmechanismus bei dem Riss von Bizepssehnen (vgl. Urteil des bayerischen Landessozialgerichtes vom 27.07.2005, L 3 U 211/03). Die Anmerkung des gerichtlichen Sachverständigen, dass jeder Versicherte in dem Zustand geschützt sei, in dem er sich bei Antritt der Arbeit befinde, das heißt auch mit einer degenerativ veränderten Sehne, ist insofern missverständlich, als die Annahme, dass ( allein ) wegen dieses Grundsatzes im vorliegenden Fall davon auszugehen sei, das die körpernahe Bizepssehnenruptur rechts im wesentlichen auf das angeschuldigte Ereignis zurückzuführen sei, nicht zwingend ist. Wie oben bereits ausgeführt, ist eine sorgfältige Abwägung der Ursachenbeiträge der anlagebedingten degenerativen Veränderungen und des Unfallereignisses in ihrer Wertigkeit für den Eintritt des Erfolges erforderlich. Ein Unfallereignis , das geeignet ist , auch eine gesunde oder nur leicht vorgeschädigte Bizepssehne zum zerreißen zu bringen, ist jedenfalls als wesentlich für den Eintritt des Erfolges anzusehen. In diesem Fall ist das Unfallereignis nämlich nicht einem alltäglich vorkommenden Ereignis, das als Gelegenheitsursache zu werten wäre, gleichzusetzen. Nicht nachzuvollziehen vermag das Gericht den Hinweis des beratenden Arztes der Beklagten Dr. T2 in seiner Stellungnahme vom 17.10.2006, der Nachweis einer erheblichen Gewalteinwirkung durch den Stoß gegen den Türrahmen müsse zunächst erbracht werden. Durch den bekannten Unfallhergang und die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständige Prof. Dr. T ist der Nachweis einer erheblichen Gewalteinwirkung durch den Stoß gegen den Türrahmen sehr wohl erbracht. Der Ablauf des Ereignisses vom 19.05.2005 ist auch durch die drei Zeugenaussagen klar und exakt ermittelt.

Dem Kläger steht daher für die Zeit der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit vom 20.05. - 10.07.2005 Verletztengeld zu. Eine Arbeitsunfähigkeit von ca. 7 Wochen hat Prof. Dr. T als postoperativ nicht unüblich angesehen. Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bis zum 10.07.2005 durch Dr. L3 ist daher auch aus Sicht des gerichtlichen Sachverständigen als unfallbedingt anzusehen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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