S 12 AS 8/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 12 AS 8/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 12/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 12.10.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.12.2005 verurteilt, der Klägerin die Regelleistung in ungeminderter Höhe ohne Anrechnung der in der Klinik T angebotenen Verpflegung zu gewähren. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Kürzung der monatlichen Regelleistung wegen eines Krankenhausaufenthaltes.

Die 1977 geborene Klägerin lebt mit dem 1981 geborenen X in eheähnlicher Gemeinschaft. Am 13.06.2005 beantragte sie die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Daraufhin bewilligte die Beklagte Arbeitslosengeld II (Alg II) für die Zeit vom 06.06.2005 bis 30.06.2005 in Höhe von 226,18 EUR, in der Zeit vom 01.07.2005 bis 31.07.2005 in Höhe von 803,09 EUR, in der Zeit vom 01.08.2005 bis 31.12.2005 in Höhe von jeweils 846,50 EUR monatlich.

In der Zeit vom 30.08.2005 bis 11.10.2005 befand sich die Klägerin zur medizinischen Rehabilitation in der internistisch-psychosomatischen Fachklinik T in T. Dies nahm die Beklagte zum Anlass, mit dem angefochtenen Bescheid vom 12.10.2005 die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.09.2005 bis zum 11.10.2005 aufgrund häuslicher Ersparnis zu kürzen. Unter Anrechnung eines Betrages von 200,30 EUR für September 2005 und 73,44 EUR für Oktober 2005 gewährte sie für diese beiden Monate lediglich Leistungen in Höhe von 646,20 EUR und 773,06 EUR.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch vom 02.11.2005 begründete die Klägerin damit, dass der von der Beklagten vorgenommene Abzug von 200,30 EUR für September und 73,44 EUR für Oktober zu hoch sei. Nach den Arbeitsrichtlinien zu § 11 SGB II umfasse der für Ernährung vorgesehene Anteil der Regelleistung 35%. Demgemäß könne auch nur dieser Anteil abgesetzt werden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15.12.2005 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und führte hierzu aus, da sich die Klägerin in der Zeit vom 30.08.2005 bis zum 11.10.2005 zur medizinischen Rehabilitation in der internistisch-psychosomatischen Fachklinik T in T befunden habe, sei ihre Verpflegung in dieser Zeit durch die Klinik sichergestellt worden. Diese Verpflegung sei als Sachbezug zu berücksichtigen, so dass die Mahlzeiten mit monatlich 200,30 EUR als Einkommen angerechnet werden müssten. Gemäß § 2 Abs. 4 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung - Alg II-V) seien Sachleistungen nach der Sachbezugsverordnung in der jeweils geltenden Fassung zu bewerten. In § 1 Abs. 1 der Sachbezugsverordnung (SachBezV) werde der Wert der als Sachbezug zur Verfügung gestellten Verpflegung von monatlich 200,30 EUR (Frühstück: 43,80 EUR, Mittagessen: 78,25 EUR und Abendessen: 78,25 EUR) festgesetzt.

Hiergegen richtet sich die am 16.01.2006 erhobene Klage, mit der die Klägerin zunächst nur die Zahlung von 121,45 EUR begehrte. Im Erörterungstermin vom 21.11.2006 hat die Klägerin ihren Antrag dahingehend erweitert, die Regelleistung in ungeminderter Höhe zu erhalten. Sie trägt hierzu vor, dass das Gesetz für eine pauschale Kürzung der Regel- leistung wegen verminderten Bedarfs keine Rechtsgrundlage enthalte. Darüber hinaus sei auch die von der Beklagten vorgenommene Kürzung jedenfalls in der Höhe nicht gerechtfertigt. Gemäß § 20 Abs. 1 SGB II umfasse die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts unter anderem besonders Ernährung, Kleidung, Körperpflege etc. Bei einem stationären Aufenthalt reduziere sich die tägliche Aufwendung für die Ernährung, da der Hilfebedürftige sie in Form von geldwerten Leistungen erhalte. Diese Leistungen könnten allenfalls in Höhe von 35% der Regelleistung angerechnet werden. Da nach übereinstimmender Rechtsauffassung der für die Ernährung vorgesehene Anteil der Regelleistung 35% umfasse.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 12.10.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.12.2005 zu verurteilen, der Klägerin die Regelleistung in ungeminderter Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist weiterhin der Auffassung, dass die Leistungen in der von ihr vorgenommenen Höhe aufgrund der häuslichen Ersparnis zu kürzen seien.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den der Verwaltungsakte der Beklagten, die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben.

Die Klage ist insbesondere auch im Hinblick auf die vorgenommene Klageerweiterung zulässig. Dabei kann letztlich dahinstehen, ob ein Ausnahmetatbestand des § 99 Abs. 3 SGG vorliegt, da auch bei unterstellter Klageänderung diese unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten und der Prozessökonomie jedenfalls sachdienlich ist. Zudem hat sich die Beklagte durch den Gegenantrag in der mündlichen Verhandlung auf die geänderte Klage eingelassen.

Die Klage ist auch in vollem Umfang begründet.

Der angefochtene Bescheid vom 12.10.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.12.2005 ist rechtswidrig und beschwert die Klägerin in ihren Rechten gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Die Beklagte hat zu Unrecht bei ihrer Entscheidung die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.09.2005 bis zum 11.10.2005 aufgrund der häuslichen Ersparnis gekürzt. Für eine derartige Kürzung kann sich die Beklagte nicht auf eine Rechtsgrundlage stützen. Insbesondere ist § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht einschlägig. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X erlaubt die Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung (hier: des die Leistung vom 06.06.2005 bis 31.12.2005 bewilligenden Bescheides) nur, wenn gegenüber den Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist.

Die Aufnahme der Klägerin in das Krankenhaus ist keine wesentliche Änderung im Sinne dieser Vorschrift. Dies wäre allerdings der Fall, wenn der Krankenhausaufenthalt prognostisch länger als sechs Monate gedauert hätte. Denn gemäß § 7 Abs. 4 SGB II erhält Grundsicherungsleistungen nicht, wer länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Maßgeblich ist eine Prognoseentscheidung, § 7 Abs. 4 SGB II ist insoweit als gesetzliche Fiktion der Nichterwerbsfähigkeit auszulegen (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.03.2006, Az L 8 AS 1171/06 ER-B). Indes liegen nach Auffassung der Kammer keine Anhaltspunkte für eine derartige Prognose vor. Darüber hinaus hat sich die Beklagte auch nicht auf den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 4 SGB II berufen.

Für die pauschale Kürzung der Regelleistung wegen verminderten Bedarfs enthält das Gesetz keine Rechtsgrundlage (vgl Urteil des SG Aachen 25.08.2006, Az S 8 AS 53/06; SG Berlin, Urteil vom 06.03.2006, Az S 103 AS 468/06). Vielmehr hat das SGB II gerade keine dem § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII entsprechende Vorschrift, wonach Bedarfe unter anderem dann abweichend festgelegt werden, wenn im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist. Die letztgenannte Vorschrift ist Ausdruck des Individualisierungsprinzips gemäß § 9 SGB XII. Hiernach richten sich die Leistungen der Sozialhilfe nach der Besonderheit des Einzelfalles. Eine derartige Vorschrift gibt es im SGB II nicht. Allein § 23 SGB II ermöglicht eine von den Regelleistungen abweichende Erbringung von Leistungen. Diese Vorschrift erfasst jedoch die Kürzung der Regelleistung nicht.

Denkbar wäre lediglich, die Versorgung der Klägerin in der stationären Einrichtung als Erzielung von Einkommen gemäß § 11 SGB II anzusehen. Jedoch handelt es sich bei dem im Rahmen einer stationären Unterbringung zur Verfügung gestellten Essen nicht um Einkommen i. S. d. § 11 SGB II. Der Einkommensbegriff ist im Einzelfall am Sinn und Zweck sowie am systematischen Zusammenhang des SGB II zu orientieren (Mecke in: Eicher/Spellbrink, SGB II, § 11 Rdnr. 9; SG Aachen aaO). Das im Krankenhaus zur Verfügung gestellte Essen ist Teil der dort gewährten kurativen Versorgung des Patienten. Es ist weder normativ noch aufgrund einer entsprechenden Verkehrsanschauung geboten, die zur Verfügungstellung von Nahrung im Rahmen einer derartigen Krankenbehandlung als Einkommenserzielung anzusehen. Auch der Vergleich mit § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII zeigt, dass der Gesetzgeber in derartiger Situation nicht davon ausging, dass die eventuelle Verringerung eines typischen Bedarfs im Rahmen einer stationären Unterbringung als Erzielung von Einkommen anzusehen ist. Zudem würde eine Subsumtion der Bereitstellung von Essen im Rahmen einer Krankenhausbehandlung unter § 11 SGB II die von der Beklagten vorgenommene pauschale Kürzung ohnehin nicht stützen. Könnte die Klägerin beispielsweise darlegen, dass sie krankheitsbedingt überhaupt nicht in der Lage war, Nahrung aufzunehmen, würde eine Anrechnung ausscheiden. Die Beklagte wäre gehalten, den Zufluss des "Einkommens" im Einzelfall nachzuweisen und zu beziffern. Aber selbst ein bezifferbarer Minderbedarf kann bei der pauschalisierten Regelleistung nicht zu einer Kürzung des Zahlbetrags führen. Im Gegensatz beispielsweise zu den Kosten der Unterkunft wird die Regelleistung als Pauschale gewährt. Die Pauschalisierung gehöhrt insoweit zu den strukturellen Grundentscheidungen der Systematik des Leistungsrechts des SGB II (vgl Bundestagsdrucksache 15/1516, Seite 46). Die Gewährung pauschaler Leistungen birgt jedoch stets das Risiko, dass einerseits ein tatsächlich höherer Regelbedarf nicht gedeckt ist und andererseits ein tatsächlich niedrigerer Bedarf zu einer Überdeckung beim Leistungsempfänger führt. Diese Folge hat der Gesetzgeber – auch zur Erreichung einer Vereinfachung der Verwaltungsarbeit – bewusst in Kauf genommen. Ebenso wenig wie sich ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger auf einen dauerhaft höheren Regelbedarf (außerhalb der anerkannten Mehrbedarfsfälle) berufen kann, kann sich der Beklagte auf einen festgestellten niedrigeren Regelbedarf zur Rechtfertigung einer Kürzung berufen (vgl SG Berlin, Urteil vom 06.03.2006 aaO).

Nach alledem war die Beklagte unter Änderung der Bescheide zur Gewährung der Leistung ohne die streitige Kürzung zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat die gemäß § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftige Berufung zugelassen, weil die Rechtssache im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG grundsätzliche Bedeutung hat.
Rechtskraft
Aus
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