L 1 Ar 969/78

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 5 Ar 234/77
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 Ar 969/78
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Zeit der Untersuchungshaft kann auch nach dem 1.1.1977 einer beitragspflichtigen Beschäftigung nicht gleichgestellt werden, wenn keine Beschäftigung nach § 43 Abs. 1 StVollzG ausgeübt wurde.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 11. Juli 1978 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Dauer des dem Kläger zustehenden Anspruchs auf Arbeitslosengeld – Alg –.

Der im Jahre 1938 geborene Kläger war in der Zeit vom 1. Oktober 1965 bis 21. Oktober 1974 als Geschäftsführer bei der St.-Handel GmbH in E. beschäftigt gewesen. In der Zeit vom 13. November 1974 bis 27. März 1977 sowie vom 5. April bis 26. Mai 1977 befand er sich in Untersuchungshaft. Gegen den Kläger war der Vorwurf einer Reihe von Untreue-, Betrugs- und Konkursdelikten erhoben worden. Er meldete sich am 28. März 1977 bei der Beklagten arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alg. Dieses bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 1. Juli 1977 für die Zeit ab 28. März 1977 für 78 Wochentage; Alg zahlte sie für den Zeitraum vom 28. März bis 4. April 1977.

Am 20. Juni 1977 meldete sich der Kläger erneut arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alg, das die Beklagte mit Bescheid vom 13. Juli 1977 ab 20. Juni 1977 – gleichfalls für 78 Wochentage – bewilligte.

Den gegen den Bewilligungsbescheid vom 1. Juli 1977 am 15. Juli 1977 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. August 1977 zurück. Zur Begründung führte sie an, innerhalb der Rahmenfrist vom 28. März 1974 bis 27. März 1977, die für die Dauer des Anspruchs auf Alg maßgeblich sei, habe der Kläger lediglich 29,5 Wochen in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gestanden. Eine beitragspflichtige Beschäftigung von mindestens 26 Wochen begründe lediglich eine Anspruchsdauer von 78 Tagen.

Gegen den dem Kläger am 9. August 1977 zugestellten Widerspruchsbescheid erhob dieser am 2. September 1977 Klage.

Der Kläger trug vor, er habe während der Untersuchungshaft nicht gearbeitet, da keine Arbeit zur Verfügung gestanden habe. Die Zeit der Untersuchungshaft müsse einer beitragspflichtigen Beschäftigung gleichgestellt werden, da andernfalls der Grundsatz der Gleichbehandlung und das Rechtsstaatsprinzip verletzt seien. Den Gedanken der Aufopferung, der hier zur Anwendung komme, habe der Gesetzgeber mehrfach zum Anlaß genommen, eine beitragspflichtige Beschäftigung anzunehmen, so bei Zivildienstleistenden, Entwicklungshelfern oder Personen nach dem Heimkehrergesetz.

Das Sozialgericht Kassel wies die Klage mit Urteil vom 11. Juli 1978 ab. Zur Begründung führte es an, der Kläger könne innerhalb der Rahmenfrist (§ 106 Abs. 1 Arbeitsförderungsgesetz – AFG –) lediglich eine beitragspflichtige Beschäftigung nachweisen, die den Anspruch für 78 Tage (§ 106 Abs. 1 Nr. 1 AFG) erfülle. Die Untersuchungshaft könne als solche einer beitragspflichtigen Beschäftigung nicht gleichgestellt werden, da es an einer gesetzlichen Grundlage fehle. Dies gelte auch für die Zeit ab 1. Januar 1977, nachdem die Beitragspflicht beschäftigter Gefangener eingeführt worden sei (§ 107 Nr. 6 AFG). Untersuchungsgefangene seien nur beitragspflichtig, wenn sie einen ihnen zugewiesene Arbeit, Beschäftigung oder Hilfstätigkeit ausübten und dafür ein Arbeitsentgelt erhielten (§ 168 Abs. 3 a AFG i.V.m. § 177 Strafvollzugsgesetz – StVollG –). Diese Regelung finde für den Kläger keine Anwendung, da er während der Untersuchungshaft nicht gearbeitet habe. Auf die Gründe hierfür komme es nicht an. Die klare gesetzliche Regelung verbiete die Erweiterung der aufgeführten Tatbestände im Wege der Gesetzesanalogie. Auch aus verfassungsrechtlichen Gründen sei eine Erweiterung nicht geboten.

Gegen dieses dem Kläger am 27. Juli 1978 zugestellte Urteil richtet sich seine mit Schriftsatz vom 25. August 1978, eingegangen beim Hessischen Landessozialgericht am 28. August 1978 (Montag), eingelegte Berufung.

Der Kläger ist der Auffassung, die Untersuchungshaft könne im Wege der Gesetzesanalogie einer beitragspflichtigen Beschäftigung entsprechend § 168 Abs. 3 a S. 1, 3 AFG i.V.m. § 177 Strafvollzugsgesetz gleichgestellt werden, wenn dem Untersuchungshäftling keine Arbeit zugewiesen werde und ihm damit nicht die Möglichkeit gegeben werde, eine Beschäftigung oder Hilfstätigkeit auszuüben. Der Gesetzgeber habe die Lage des Untersuchungsgefangenen offensichtlich nicht gesehen und deshalb auch nicht berücksichtigt. Eine Gleichstellung sei aus verfassungsrechtlichen Gründen, vornehmlich, um eine Ungleichbehandlung zu vermeiden, geboten. Hierfür spreche, daß der Gesetzgeber die Benachteiligung von Gefangenen und anderen Insassen der Vollzugsanstalt beseitigt habe wissen wollen. Schließlich führe die Auffassung der Beklagten in Fällen besonders langer Untersuchungshaft zu untragbaren Härten, die mit dem sozialen Grundgedanken unserer Rechtsordnung unvereinbar waren.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 11. Juli 1978 sowie die Bescheide der Beklagten vom 1. Juli und 13. Juli 1977 abzuändern und den Widerspruchsbescheid vom 5. August 1977 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Arbeitslosengeld für insgesamt 312 Wochentage zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie schließt sich inhaltlich dem Urteil des Sozialgerichts an und trägt vor, der Gesetzgeber habe die den Kläger betreffende Problematik durchaus gesehen. Dies ergebe sich aus den in den §§ 45 Abs. 1 und 176 Abs. 2 Strafvollzugsgesetz getroffenen Regelungen, die allerdings noch nicht in Kraft gesetzt seien (§ 198 Abs. 3 Strafvollzugsgesetz). Danach könnten arbeitsfähige Gefangene eine Ausfallentschädigung erhalten, wenn ihnen aus Gründen, die nicht in ihrer Person lägen, eine Arbeit oder Beschäftigung nicht zugewiesen werden könne. Dabei bleibe weiter fraglich, ob diese Regelungen auch auf Untersuchungsgefangene entsprechend angewendet werden könnten. Auch sei es nicht dem Zufall überlassen, ob in einer Strafanstalt Möglichkeiten bestünden, eine beitragspflichtige Beschäftigung auszuüben; es sei auch nicht in das Ermessen der Strafvollzugsorgane gestellt, ob dem jeweiligen Untersuchungshäftling eine solche Arbeit angeboten werde. Insoweit dürfte eine Verpflichtung der Vollzugsbehörden bestehen, entsprechende Möglichkeiten zu schaffen (vgl. §§ 37 ff. 148 f. Strafvollzugsgesetz).

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere auf den der Leistungsakte der Beklagten – Stamm-Nr. xxx Arbeitsamt X. –, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts wie auch die angefochtenen Bescheide sind rechtlich nicht zu beanstanden. Der Kläger hat nur für insgesamt 78 Wochentage Anspruch auf Alg. Für die Dauer des Anspruchs auf Alg ist die Dauer der die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung innerhalb der Rahmenfrist maßgeblich (§ 106 Abs. 1 AFG). Beschäftigungszeiten von insgesamt mindestens 26 Wochen (6 Monaten) begründen eine anspruchsdauer von 78 Tagen (§ 106 Abs. 1 Nr. 1 AFG). Die für den Kläger maßgebliche Rahmenfrist von drei Jahren (§ 104 Abs. 3 AFG) erstreckt sich auf den Zeitraum vom 28. März 1974 bis 27. März 1977. Während dieser Zeit stand der Kläger allein vom 28. März bis 21. Oktober 1974 – bis zum Beginn der Untersuchungshaft – in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung. Daraus folgt ein Anspruch auf Alg für 78 Wochentage.

Die Zeit der Untersuchungshaft kann auch nicht einer beitragspflichtigen Beschäftigung gleichgestellt werden. Einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung stehen insoweit nur Zeiten gleich, in denen der Arbeitslose als Gefangener beitragspflichtig war (§ 168 Abs. 3 a AFG). Entsprechendes gilt für Untersuchungsgefangene, die eine ihnen zugewiesene Arbeit, Beschäftigung oder Hilfstätigkeit ausüben (§ 177 Strafvollzugsgesetz – StVollzG –). Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht, da er während der Untersuchungshaft nicht gearbeitet hatte. Selbst wenn die Vorschrift des § 107 Nr. 6 AFG anzuwenden wäre, könnte dies erst mit Wirkung vom 1. Januar 1977 an angenommen werden, da erst zu diesem Zeitpunkt die entsprechende Bestimmung des StVollzG vom 16. März 1976 in Kraft getreten ist (§ 194 Nr. 2 b StVollzG). Insoweit liegt auch keine gesetzgeberische Lücke vor, die durch die Annahme einer beitragspflichtigen Beschäftigung zu schließen wäre. Deshalb können die vom Gesetzgeber aufgestellten Tatbestände auch nicht, wie der Kläger meint, im Wege der Gesetzesanalogie erweitert werden. Der Gesetzgeber hat im Strafvollzugsgesetz in Verbindung mit entsprechenden Änderungen des Arbeitsförderungsgesetzes den Umfang der sozialen Sicherung durch den Erwerb einer Anwartschaft auf Alg nach der Entlassung aus der Haft abschließend geregelt. Er knüpft insoweit im wesentlichen an die Ausübung einer beitragspflichtigen Beschäftigung an (§§ 41, 43, 177 StVollzG) und läßt nur in wenigen Fällen eine Gleichstellung bei Gewährung einer Ausfallentschädigung zu (§ 45 StVollzG, der jedoch durch besonderes Bundesgesetz in Kraft zu setzen ist – § 198 Abs. 3 StVollzG). Damit würde selbst die Anwendung der Bestimmung des § 45 Abs. 1 i.V.m. § 177 StVollzG den Anspruch des Klägers nicht begründen, da die Ausfallentschädigung jährlich nur bis zur Höchstdauer von 6 Wochen gewährt werden könnte (§ 45 Abs. 5 StVollzG). Darin wird deutlich, daß der Gesetzgeber durchaus den den Kläger betreffenden Fragenkreis gesehen und vollständig, wenn auch teilweise noch nicht in Kraft befindlich, geregelt hat.

Schließlich besteht auch kein Anlaß, aus verfassungsrechtlichen Gründen zu einem Leistungsanspruch zu gelangen. Aus der Sozialstaatsklausel (Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz – GG –), auf die sich der Kläger beruft, kann in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG in NJW in 1971 S. 1907) ein solcher Anspruch nicht hergeleitet werden, da die Sozialstaatsklausel als Anspruchsgrundlage schlechthin nicht geeignet ist. Dies gilt auch, soweit der Kläger sich auf den Gleichheitssatz beruft, wobei zudem eine Ungleichbehandlung gleichartiger Tatbestände nicht erkennbar wird. Denn soweit der Gesetzgeber an die Gewährung eines Arbeitsentgelts bzw. Ausfallentschädigung anknüpft, erscheint dies sachgerecht, da der Erwerb einer Anwartschaft grundsätzlich die Ausübung einer beitragspflichtigen Beschäftigung voraussetzt. Würde die Untersuchungshaft schlechthin einer beitragspflichtigen Beschäftigung gleichgestellt, könnte dies vielmehr eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Arbeitssuchenden bedeuten, die eine Beschäftigung ausüben wollen, denen jedoch kein Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Soweit es den Untersuchungsgefangenen nicht ermöglicht werden sollte, eine Beschäftigung auszuüben, läßt das Strafvollzugsgesetz über die Bestimmung des § 45 hinaus allein Ansprüche erkennen, die gegenüber den Strafvollzugsbehörden durchzusetzen wären.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision hat der Senat zugelassen, weil er der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Frage, inwieweit die Untersuchungshaft, vornehmlich nach dem 1. Januar 1977, unabhängig von der Ausübung einer Arbeit nach § 43 Abs. 1 StVollzG einer beitragspflichtigen Beschäftigung gleichgestellt werden kann, liegt bisher nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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