L 24 P 32/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
24
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 76 P 196/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 24 P 32/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. März 2006 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch für das Berufungsverfahren zu tragen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die 1919 geborene Klägerin begehrt von der Beklagten im Berufungsverfahren noch Leistungen aus der Gesetzlichen Pflegeversicherung vom 01. November 2003 bis zum 30. September 2005.

Die Beklagte ließ die Klägerin, die seit 01. November 2000 Pflegegeld der Pflegestufe I bezog, auf deren Höherstufungsantrag vom 21. November 2003 hin durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen MDK - begutachten. Für diesen suchte die Pflegefachkraft B H die Klägerin am 15. Januar 2004 in deren Wohnung auf und erstattete am gleichen Tag ein Gutachten mit den Diagnosen chronische Polyarthrose, Stand- und Gangunsicherheit sowie Schwindel. Sie gelangte zu der Auffassung, es bestünde ein täglicher Hilfebedarf in der Grundpflege von 65 Minuten und in der hauswirtschaftlichen Versorgung von 51 Minuten.

Gestützt hierauf lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf höhere Leistungen mit Bescheid vom 13. Februar 2004 ab. Den Widerspruch der Klägerin hiergegen wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14. April 2004 ab, ohne in neue Ermittlungen einzutreten.

Hiergegen hat sich die am 30. April 2004 beim Sozialgericht Berlin erhobene Klage gerichtet, zu deren Begründung die Klägerin vorgetragen hat, bei ihr lägen die Voraussetzungen der Schwerpflegebedürftigkeit vor.

Das Sozialgericht hat dem Vorbringen der Klägerin den Antrag entnommen,

den Bescheid vom 13. Februar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. April 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Pflegegeld der Pflegestufe II vom 01. November 2003 an zu gewähren.

Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat sich auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden berufen.

Das Sozialgericht hat mit Beweisanordnung vom 07. September 2004 die Chirurgin Dr. M H zur Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Gutachtens über den bei der Klägerin vorliegenden Pflegebedarf beauftragt.

Die Sachverständige hat die Klägerin am 15. Oktober 2004 in deren Wohnung aufgesucht und ihr Gutachten unter dem Datum vom 23. November 2004 erstattet. Das Gutachten enthält folgende Diagnosen:

1. Herzinsuffizienz mit starker Atemnot 2. Hypertonie 3. zerebrale Durchblutungsstörungen mit Schwindelanfällen 4. degenerative Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule 5. Arthrose in beiden Schultergelenken mit starker Einschränkung der Beweglichkeit 6. Arthrose im Bereich der Mittel- und Endgelenke aller Finger 7. Diabetes mellitus 8. Zustand nach komplizierter Dickdarmoperation im Juni 2003 9. relative Harninkontinenz

Bereits die Herzinsuffizienz, die mit starker Luftnot schon in Ruhe einhergehe, bewirke, dass der Klägerin kaum körperliche Belastungen zumutbar seien und dass sie allein deshalb beim Laufen eingeschränkt wäre. Dies würde durch Komponenten aus dem Bewegungsapparat noch verstärkt. Die zerebralen Durchblutungsstörungen führten zu Schwindelanfällen, die die Klägerin unsicher machten und zusätzliche Stand- und Ganguntersicherheiten verursachten. Aufgrund der degenerativen Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule könne sie sich nur mit teilweiser Nutzung des Gehstockes und des Abstützens an den Möbeln und mit Hilfestellung durch ihren Mann fortbewegen. Die Arthrose in den Schultergelenken habe zur Folge, dass der Schürzen- und Nackengriff beidseits nicht ausführbar sei, so dass dadurch Hilfeleistung im Bereich der Körperpflege notwendig werde. Die Arthrose im Bereich der Finger verhindere, dass sowohl der Faustschluss nicht mehr komplett ausführbar als auch der Feingriff behindert sei. Die Notoperation am Dickdarm im Juni 2003 führte dazu, dass für ein halbes Jahr ein künstlicher Darmausgang angelegt werden musste, der im Dezember 2003 zurückverlegt wurde. Dadurch sei der schon zuvor reduzierte Allgemeinzustand der Klägerin weiterhin verschlechtert worden und es sei nachvollziehbar, wenn die Klägerin angebe, dass ständige Schlappheit und Müdigkeit bestünden.

Aus diesen Einschränkungen leitete die Sachverständige ab, dass die Klägerin im Bereich der Wäsche einen täglichen Pflegebedarf von 25 Minuten habe und beim Baden ebenfalls. Für die Zahnpflege betrage der Pflegebedarf vier Minuten, ebenso für das Kämmen. Für die Darm- und Blasenentleerung bestünde ein Hilfebedarf von 36 Minuten und für die Zubereitung der Hauptmahlzeiten von 13 Minuten. Für das Aufstehen und Zu Bett Gehen würden zehn Minuten und für das An- und Auskleiden zwölf Minuten beantragt. Beim Gehen bestehe ein Hilfebedarf von nachts neun und tagsüber drei Minuten. Dazu komme ein erheblicher Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Zu Einwendungen der Beklagten hiergegen hat die Sachverständige unter dem Datum vom 15. Mai 2005 Stellung genommen.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 30. März 2006 die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Pflegegeld der Pflegestufe II vom 01. November 2003 an zu gewähren.

Zur Begründung hat das Sozialgericht im Wesentlichen dargelegt, aus dem Gutachten der Sachverständigen Dr. H ergebe sich, dass die Klägerin in der Grundpflege einen Pflegebedarf von 141 Minuten und in der hauswirtschaftlichen Versorgung von 148 Minuten habe. Die Kammer habe keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Darlegungen unzutreffend seien. Die Einwendungen der Beklagten überzeugten nicht.

Gegen dieses der Beklagten am 07. Juni 2006 zugestellte Urteil richtet sich deren Berufung vom 30. Juni 2006, die sie damit begründet, der erhöhte Pflegeaufwand sei erst ab Oktober 2005 gegeben. Dies ergebe sich aus dem progredienten Krankheitsverlauf, der dazu geführt habe, dass die Klägerin seit diesem Zeitpunkt auf einen Rollstuhl angewiesen sei.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. März 2006 zu ändern und die Klage abzuweisen, soweit sie den Zeitraum vor dem 01. Oktober 2005 betrifft.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat eine neue Stellungnahme der Sachverständigen Dr. H zu den Einwendungen der Beklagten gegen ihr Gutachten eingeholt, das am 16. November 2006 eingegangen ist. Darin legt die Sachverständige dar, dass sie den Hilfebedarf nicht, wie von der Beklagten angenommen, aus der Behinderung des Ehemannes abgeleitet habe, sondern dass sie diese lediglich erwähnt habe, um die Lebenssituation der Klägerin darzustellen. Der Rückschluss, der Ehemann der Klägerin sei so gebrechlich, dass der höhere Zeitaufwand daraus resultiere, sei unzutreffend. Der Zeitaufwand beim Waschen ergebe sich daraus, dass aktivierend gepflegt werde und dass dies ein sinnvolles Verfahren sei, auch dann, wenn eine aktivierende Pflege einen höheren Zeitaufwand ergebe als die Übernahme der Verrichtung durch die Pflegeperson. Sie verbleibe auch dabei, dass eine zweimalige Ganzkörperwäsche angemessen sei, da es keine allgemein anerkannten Standards gebe, wie oft eine derartige Wäsche durchgeführt werde. Eine zweimalige tägliche Ganzkörperwäsche stelle sich nicht als Luxus dar. Sie halte weiterhin daran fest, dass bereits bei Antragstellung eine Zuordnung zur Pflegestufe II bei einem Pflegeaufwand in der Grundpflege von mehr als 120 Minuten täglich erforderlich war.

Die Beklagte ist dem mit Schriftsatz vom 11. Januar 2007 entgegengetreten und verblieb bei ihrer Auffassung, der erhöhte Pflegeaufwand resultiere aus der Gebrechlichkeit des Ehemannes.

Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Berichterstatters ohne mündliche Verhandlung über die Berufung erklärt.

Wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie den Leistungsvorgang der Beklagten, die Klägerin betreffend, verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht erhoben, somit insgesamt zulässig.

Über sie konnte der Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten übereinstimmend ihr Einverständnis mit einem derartigen Verfahren erklärt haben (§§ 124, 155 Sozialgerichtsgesetz SGG ).

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Gewährung der Pflegestufe II ab Abtragstellung, so dass das dies aussprechende Urteil des Sozialgerichts keiner Beanstandung unterliegt.

Gemäß § 14 Abs. 1 SGB XI sind pflegebedürftig im Sinne des SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßigen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höheren Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen.

Nach § 14 Abs. 3 SGB XI besteht die Hilfe im Sinne des Abs. 1 in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder im Beaufsichtigen oder in der Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen.

Gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen in diesem Sinne sind gemäß § 14 Abs. 4 SGB XI:

1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung

2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten für die Aufnahme der Nahrung

3. im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen oder Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung 4. im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen

Nach § 15 Abs. 1 SGB XI sind für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XI pflegebedürftige Personen im Sinne des § 14 SGB XI einer von drei gesetzliche näher beschriebenen Pflegestufen zuzuordnen.

Nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 SGB XI sind Pflegebedürftige der Pflegestufe II (erheblich Pflegebedürftige) Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens drei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.

Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss nach § 15 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als zwei Stunden entfallen müssen.

Diese Voraussetzungen sind im Fall der Klägerin ab Antragstellung erfüllt. Insbesondere beträgt der Zeitaufwand, der im Bereich der Grundpflege erforderlich ist, mehr als 120 Minuten täglich.

Das Landessozialgericht hat ebenso wie das Sozialgericht keine Veranlassung, an den Darlegungen der Sachverständigen Dr. H zu zweifeln. Frau Dr. H hat als Ärztin bereits eine erheblich größere Anzahl von Diagnosen gestellt als die Pflegefachkraft H vom MDK aus den vorhandenen Unterlagen zu übernehmen in der Lage war. Sie hat dann dargelegt, wie die einzelnen Krankheiten, die bei der Klägerin vorliegen, wechselseitig dazu führen, dass diese einen erheblichen Hilfebedarf hat. Die Pflegefachkraft H, die diese Diagnosen nicht gestellt hat, konnte naturgemäß diesen Pflegebedarf nicht feststellen. Die Auffassung der Beklagten, der von der Sachverständigen festgestellte Pflegebedarf sei kein objektiv notwendiger, sondern resultiere zum einen aus der Gebrechlichkeit des pflegenden Ehemannes und zum anderen aus der zweimaligen körperlichen Ganzwäsche, die nicht notwendig sei, teilt der Senat nicht:

Zum einen hat die Klägerin dort, wo sie die konkreten Beweisfragen des Gerichts beantwortet und den Pflegebedarf darlegt und begründet hat, nicht auf die Gebrechlichkeit des Ehemannes hingewiesen. Frau Dr. H ist eine erfahrene Sachverständige gerade im Bereich der Pflegebedürftigkeit, die von der Sozialgerichtsbarkeit der Länder Berlin und Brandenburg häufig in Anspruch genommen wird. Bereits daraus, aber auch aus den Darlegungen in ihren Stellungnahmen, wird deutlich, dass ihr sehr wohl der Unterschied zwischen der tatsächlich individuell erbrachten Pflege und der objektiven Pflegenotwendigkeit vertraut ist. Wenn Frau Dr. H dann im anamnestischen Teil ihres Gutachtens die Gebrechlichkeit des Ehemannes erwähnt, nicht jedoch in dem Teil ihres Gutachtens, in dem sie den Umfang der notwendigen Pflege darlegt, kann daraus, worauf die Sachverständige zutreffend zweimal hingewiesen hat, nicht der Schluss gezogen werden, sie gehe nicht von der objektiv notwendigen Pflege, sondern von der durch den Ehemann erbrachten aus.

Auch der Einwand der Beklagten, eine zweimalige körperliche Gesamtwäsche sei nicht notwendig, überzeugt nicht: Auch pflegebedürftige Versicherte haben einen Anspruch darauf, ihr Leben nach ihren Bedürfnissen zu gestalten, soweit dies verhältnismäßig bleibt. Wenn eine inkontinente Klägerin, bei der in der Vergangenheit eine Darmoperation durchgeführt worden war und die erhebliche Probleme auch mit der Darmentleerung hat, zu der Auffassung gelangt, sie möchte zusätzlich zur morgendlichen Körperwäsche am Waschbecken abends vor dem Zu Bett Gehen baden, so scheint dies nachvollziehbar und notwendig. Dies als einen Luxus darzustellen, der nicht dem Standard entspricht, erschließt sich dem Senat nicht.

Die Berufung der Beklagten war daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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