Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 68/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 4/07 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 19.05.2006 in der Fassung des Widerspruchs- bescheides vom 20.09.2006 verurteilt, dem Kläger die Kosten der beiden am 16.03.2006 durchgeführten so genannten Rettungstransportwagen-Fehlfahrten in Höhe von 282,84 EUR zu erstatten. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt die Beklagte. Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für zwei Rettungstransportwagen-(RTW-)Fahrten in Höhe von 282,84 EUR.
Der am 00.00.1929 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert; für 2006 ist er von der gesetzlichen Zuzahlungspflicht befreit. Er ist stark gehbehindert und schwerst- pflegebedürftig (Pflegestufe III). Am 16.03.2006 stürzte er kurz nach Mitternacht auf dem Weg zur Toilette. Dabei verletzte er sich am Arm und blieb auf dem Boden liegen. Es gelang ihm nicht, selbst aufzustehen. Seine ebenfalls stark gehbehinderte und schwer- pflegebedürftige Ehefrau konnte ihren Mann auch nicht aufrichten. In Sorge um ihn forderte sie daraufhin über den Feuerwehr-Notruf 112 Hilfe an. Ausweislich des Einsatz- berichts und des Rettungsdienstprotokolls der Feuer- und Rettungswache der Stadt F. erfolgte der Notruf um 00:26 Uhr. Es wurde ein RTW entsandt, der um 00:31 Uhr am Einsatzort eintraf; um 00:54 Uhr forderte die RTW-Besatzung den so genannten "MQN" (Medizinisch Qualifizierter Notdienst) an. Der darauf von der Leitstelle entsandte Notarzt untersuchte den Kläger, stellte einen erhöhten Blutdruck, ödematöse Füße und eine "leichte Verletzung obere Extremitäten" fest. Der Einsatz wurde im Protokoll als Notfall eingestuft. Als der Kläger ins Krankenhaus gefahren werden sollte, verweigerte er eine Mitfahrt. Daraufhin verließ der RTW 01:39 Uhr den Einsatzort ohne den Kläger.
Gegen 12:00 Uhr am 16.03.2006 fiel der Kläger beim Aufstehen von einem Stuhl erneut auf den Boden. Wieder gelang weder ihm selbst noch seiner Ehefrau ein Aufrichten. Da die Ehefrau anderweitige Hilfe nicht herbeirufen konnte, forderte sie diese erneut über den Notruf 112 an. Ausweislich des Einsatzberichts und des Rettungsdienstprotokolls erfolgte der Notruf um 12:12 Uhr; der darauf entsandte RTW traf um 12.17 Uhr am Einsatzort ein. Der Kläger wurde am Boden liegend gefunden, aufgehoben und in einen Stuhl gesetzt; es wurde der Blutdruck gemessen; Verletzungen wurden nicht festgestellt. Eine Mitfahrt ins Krankenhaus lehnte der Kläger ab. Um 12:34 Uhr fuhrt der RTW ohne den Kläger ab.
Mit 2 Rechnungen vom 21.03.2006 forderte die Stadt F. den Kläger zur Zahlung der Mindestgebühr in Höhe 141,42 EUR für jede Fahrt des RTW, zusammen 282,84 EUR auf.
Am 05.05.2006 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Übernahme der Fahrkosten unter Vorlage der beiden Rechnungen, die von ihm im April/Mai 2006 beglichen worden waren. Durch Bescheid vom 19.05.2006 lehnte die Beklagte den Antrag ab mit der Begründung, Kosten für Fehlfahrten würden nicht erstattet, da es sich nicht um Fahrten im Sinne von § 60 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) handele. Nach den Krankentransport-Richtlinien würden Fahrkosten bei Rettungsfahrten zum Krankenhaus auch dann übernommen, wenn eine stationäre Behandlung nicht erforderlich sei; Ziel der Fahrt müsse jedoch ein Krankenhaus sein.
Dagegen legte der Kläger am 13.06.2006 Widerspruch ein. Er verwies auf ein Urteil des Sozialgericht (SG) Aachen vom 14.06.2004; darin sei festgestellt, dass auch für Fehlfahrten ein Fahrkostenanspruch gegenüber der Krankenkasse bestehe.
Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 20.09.2006 zurück. Sie wiederholte, eine Rettungsfahrt, deren Kosten übernommen werden könnten, müsse ein Krankenhaus zum Ziel haben; unerheblich sei, ob der Versicherte dort ambulant oder stationär behandelt werde oder während des Transports versterbe. Da vorliegend kein Personentransport mit dem RTW stattgefunden habe, bestehe kein Kostenerstattungsanspruch gegenüber der Krankenkasse.
Dagegen hat der Kläger am 16.10.2006 Klage erhoben. Er trägt vor, die Inanspruchnahme des Feuerwehrnotrufs sei im Hinblick auf seine aufgetretenen Beschwerden zwingend geboten gewesen. Die Fahrkosten seien im Zusammenhang mit notärztlicher Versorgung entstanden. Seine Ehefrau habe nur die Möglichkeit gehabt, den Notruf 112 zu nutzen oder darauf zu verzichten und ein gegebenenfalls tödliches Risiko einzugehen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.05.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.09.2006 zu verurteilen, ihm die Kosten der beiden am 16.03.2006 durchgeführten so genannten Rettungs- transportwagen-Fehlfahrten in Höhe von 282,84 EUR zu er- statten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie räumt ein, dass der Kläger mit den streitigen Kosten nicht belastet werden dürfe und das Verhalten Dritter (Absetzen des Notrufs) nicht gegen ihn wirken könne. Die Kostenlast könne jedoch nicht die Krankenkasse, sondern nur die Kommune - hier: die Stadt F. - als Träger der Feuerwehr mit RTW treffen. Die Feuerwehr führe neben der Brandbekämpfung und sonstigen Feuerwehraufgaben auch Rettungsfahrten durch. Grundsätzlich sei das Vorhalten einer Feuerwehr dem Bereich der allgemeinen Gefahrenvorsorge einer Stadt/Gemeinde zuzuordnen. Bereits in diesem Rahmen würden die Unterhalts-/Investitionskosten der Feuerwehr kalkuliert. Unabhängig davon, ob objektiv ein Notfall vorgelegen habe, entstünden dem Staatsbürger, der subjektiv das Ausmaß des Notfalles nicht einschätzen könne, keinerlei Kosten bei Alarmierung von Rettungskräften (haftungsrechtliche Aspekte bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit ausgenommen). Finde in diesem Rahmen dann tatsächlich ein Krankentransport statt, würden die vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Leistungsträgern und den Städten/Gemeinden greifen; die Transport- und ggf. auch die Notarztkosten würden zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet. Verweigere der Hilfebedürftige u.U. auch aus rein subjektiven Gründen die Mitfahrt oder sei diese aus medizinischen oder sonstigen Gründen nicht notwendig, sei der Einsatz im Rahmen der allgemeinen Gefahrenvorsorge erfolgt und mit den für die Bereitschaft der Feuerwehr kalkulierten Kosten abgegolten. Es handele sich dann bezogen auf den RTW um eine Fehlfahrt bzw. eine Versorgung ohne Transport, die als solche auch ausdrücklich im Einsatzprotokoll der Feuerwehr vorgesehen sei. Da § 60 SGB V nur die Übernahme von Transportkosten vorsehe, ein Transport aber tatsächlich nicht stattgefunden habe, sei der Anspruch des Klägers gegenüber der Krankenkasse unbegründet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen, den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Eine - insbesondere notwendige - Beiladung der Stadt F. war nicht erforderlich, da die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 75 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht vorliegen.
Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide der Beklagten im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG beschwert, da sie rechtswidrig sind. Er hat Anspruch auf Erstattung der Kosten der RTW-Fahrten in Höhe von 282,84 EUR.
Der Kostenerstattungsanspruch folgt aus § 13 Abs. 3 SGB V. Dem Kläger sind durch die zweimalige Inanspruchnahme des RTW über den Feuerwehrnotruf 112 am 16.03.2006 Kosten in Höhe von 282,84 EUR entstanden, da die Beklagte eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte. Eine unaufschiebbare Leistung ist immer dann anzunehmen, wenn ein Notfall gegeben ist. Dieser ist - jedenfalls aus der maßgeblichen Sicht des Hilfesuchenden - für beide Vorfälle, die zum Einsatz des RTW am 16.03.2006 führten, zu bejahen. Denn der Kläger - stark gehbehindert und schwerstpflegebedürftig - stürzte und blieb auf dem Boden liegen, ohne dass es ihm oder seiner Ehefrau gelungen wäre, ihn wieder aufzurichten. Bei dem ersten Sturz verletzte er sich zudem am Arm. Als medizinische Laien konnten weder der Kläger noch seine Ehefrau die Schwere der Stürze und ihre jeweiligen Folgen übersehen. Dem Kläger sind durch Einsatzfahrten des RTW Fahrkosten entstanden, deren Übernahme er gegenüber der Beklagten beanspruchen kann.
Dieser Anspruch folgt aus § 60 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB V. Danach übernimmt die Krankenkasse die Kosten für Fahrten einschließlich der Transporte nach § 133 SGB V (Fahrkosten), wenn sie im Zusammenhang mit einer Leistung der Kranken- kasse aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig sind. Die Fahrkosten werden bei Rettungsfahrten zum Krankenhaus auch dann übernommen, wenn eine stationäre Behandlung nicht erforderlich ist. Weitere Einzelheiten sind in den nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 SGB V erlassenen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Krankenfahrten, Krankentransportleistungen und Rettungsfahrten (Krankentransport-Richtlinien) geregelt. Nach § 5 Abs. 2 der Krankentransport-Richtlinien finden Rettungsfahrten mit dem RTW für Notfallpatienten statt, die vor und während des Transportes neben den Erste-Hilfe-Maßnahmen auch zusätzlicher Maßnahmen bedürfen, die geeignet sind, die vitalen Funktionen aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen.
Grundsätzlich wird ein RTW auf Grund einer ärztlichen Verordnung bestellt. Jedoch kann nach § 2 Abs. 2 Satz 2 der Krankentransport-Richtlinien in Notfällen der Krankentransport auch nachträglich verordnet werden. Ein Notfall liegt vor, wenn sich der Versicherte in Lebensgefahr befindet oder schwere gesundheitliche Schäden zu befürchten sind, wenn er nicht unverzüglich die erforderliche medizinische Versorgung erhält (§ 2 Abs. 2 Satz 3 der Krankentransport-Richtlinien). Eine ärztliche Verordnung anlässlich der Einsätze am 16.03.2006 liegt nicht vor. Den RTW hatte die Ehefrau des Klägers bestellt. Zu der nachträglichen Verordnung eines Krankentransportes kam es deshalb nicht, weil der Kläger infolge der Stabilisierung seines Gesundheitszustandes die Fahrt nicht angetreten hat. Insofern kann sich die Beklagte nicht auf das Fehlen einer ärztlichen Verordnung berufen.
Für den Fahrkostenanspruch nach § 60 SGB V ist entscheidend, ob die Fahrten des RTW notwendig waren. Auch wenn es der im Gesetz verwandte Begriff "Transporte" nahe legt, ist nicht in jedem Fall Voraussetzung für den Fahrkostenanspruch, dass ein Versicherter tatsächlich transportiert worden ist. § 3 Abs. 2 Satz 2 der Krankentransport-Richtlinien schreibt ausdrücklich vor, dass die Notwendigkeit der Beförderung für den Hin- und Rückweg gesondert zu prüfen ist. Ein Krankentransport im Sinne des § 60 SGB V kann nach Auffassung der Kammer auch dann bejaht werden, wenn der Versicherte aus medizinischen oder sonstigen Gründen nicht transportiert werden muss, also ein so genannte Fehlfahrt vorliegt.
Bei den zum Versorgungsauftrag der Krankenkassen gehörenden Krankentransport- leistungen handelt es sich um Sachleistungen. Die Krankenkasse "übernimmt" in Ermangelung eigener Krankentransportunternehmen gemäß § 60 SGB V die Fahrkosten, die den Versicherten durch die Inanspruchnahme von Krankentransport-Leistungs- erbringern entstehen. Hiervon ausgehend ist als "Rettungsfahrt zum Krankenhaus" im Sinne von § 60 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB V das zu verstehen, was der Leistungserbringer dem Versicherten bei der notwendigen Selbstbeschaffung dieser Leistung in Rechnung stellen darf. Eine gebührenfähige Rettungsfahrt beginnt - unabhängig von einer tatsächlichen Transportleistung - mit dem Ausrücken des RTW zum Zwecke einer Rettungsfahrt. Dies müssen die Krankenkassen gegen sich gelten lassen. Eine Differenzierung zwischen "Rettungsfahrten" im Sinne des Krankenversicherungsrechts und des kommunalen Gebührenrechts würde in unvertretbarer Weise das den Krankenkassen obliegende Risiko einer ausreichenden, zweckmäßigen und notwendigen notärztlichen Rettungsdienst-Versorgung auf die Versicherten verlagern, die weder Notwendigkeit noch Inhalt und Umfang notärztlicher Versorgung beurteilen können noch einen dahin gehenden Entscheidungsspielraum haben: Entweder sie benutzen den Notruf 112 oder sie verzichten darauf und gehen damit ein unwägbares, ggf. tödliches Risiko ein (SG Aachen, Urteil vom 14.06.2004 - S 6 KR 203/03).
Ob eine Rettungsfahrt notwendig im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB V war, ist nicht nach objektiven, sondern nach subjektiven Kriterien zu beurteilen. Die Kammer schließt sich insofern in vollem Umfang den Erwägungen des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts im Urteil vom 15.02.2005 (L 5 KR 122/04) an. Abzustellen ist auf eine subjektive Betrachtung aus der Laiensphäre. In den beiden hier zur beurteilenden Fällen, die zum Einsatz des RTW am 16.03.2006 führten, konnte die Ehefrau des Klägers als medizinische Laie nicht einschätzen, ob ein sofortiger Notruf und der Einsatz des RTW erforderlich war oder ob ein Abwarten anderweitiger Hilfe ausreichend gewesen wäre. Angesichts der Gehbehinderung des Klägers und des Schweregrads seiner Pflegebedürftigkeit sowie des fortgeschrittenen Alters konnte und durfte seine Ehefrau bei den Stürzen ihres Ehemanns jeweils von einem Notfall ausgehen. Für den ersten Einsatz wird das bereits deshalb besonders deutlich, weil auch die RTW-Sanitäter glaubten, nicht ohne einen Notarzt auskommen zu können, und deshalb den "MQN" anforderten. Nach alledem waren die Hinfahrten des RTW am 16.03.2006 zum Einsatzort, der Wohnung des Klägers, jeweils notwendig. Dies kann für die Rückfahrt vom Einsatzort weg nicht mehr bejaht werden. Der Kläger fühlte sich offenbar derart gut versorgt und wiederhergestellt, dass ihm eine Fahrt zum Krankenhaus nicht mehr notwendig erschien.
Soweit die Beklagte unter Hinweis auf § 60 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB V geltend macht, sie hätte die Kosten übernommen, wenn eine Fahrt mit dem Kläger zum Krankenhaus erfolgt wäre, schließt dies nach Auffassung der Kammer die Übernahme der Fahrkosten für eine so genannte Fehlfahrt, also eine Fahrt, bei der nur die Hinfahrt notwendig im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB V war, nicht aus. Denn den Versicherten kann nicht zugemutet werden, nicht notwendige Fahrten zum Krankenhaus über sich ergehen zu lassen, nur um den Fahrkostenübernahmeanspruch nach § 60 SGB V nicht zu verlieren.
Ein Abzug des sich aus § 61 Satz SGB V ergebenden Betrages - vgl. § 60 Abs. 1 Satz 3 SGB V - entfällt, da der Kläger für 2006 von der Zuzahlungspflicht befreit ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Kammer hat die Sprungrevision zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 161 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Die Frage der Kostenübernahme für so genannte Fehlfahrten ist - soweit ersichtlich - bislang höchstrichterlich nicht geklärt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für zwei Rettungstransportwagen-(RTW-)Fahrten in Höhe von 282,84 EUR.
Der am 00.00.1929 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert; für 2006 ist er von der gesetzlichen Zuzahlungspflicht befreit. Er ist stark gehbehindert und schwerst- pflegebedürftig (Pflegestufe III). Am 16.03.2006 stürzte er kurz nach Mitternacht auf dem Weg zur Toilette. Dabei verletzte er sich am Arm und blieb auf dem Boden liegen. Es gelang ihm nicht, selbst aufzustehen. Seine ebenfalls stark gehbehinderte und schwer- pflegebedürftige Ehefrau konnte ihren Mann auch nicht aufrichten. In Sorge um ihn forderte sie daraufhin über den Feuerwehr-Notruf 112 Hilfe an. Ausweislich des Einsatz- berichts und des Rettungsdienstprotokolls der Feuer- und Rettungswache der Stadt F. erfolgte der Notruf um 00:26 Uhr. Es wurde ein RTW entsandt, der um 00:31 Uhr am Einsatzort eintraf; um 00:54 Uhr forderte die RTW-Besatzung den so genannten "MQN" (Medizinisch Qualifizierter Notdienst) an. Der darauf von der Leitstelle entsandte Notarzt untersuchte den Kläger, stellte einen erhöhten Blutdruck, ödematöse Füße und eine "leichte Verletzung obere Extremitäten" fest. Der Einsatz wurde im Protokoll als Notfall eingestuft. Als der Kläger ins Krankenhaus gefahren werden sollte, verweigerte er eine Mitfahrt. Daraufhin verließ der RTW 01:39 Uhr den Einsatzort ohne den Kläger.
Gegen 12:00 Uhr am 16.03.2006 fiel der Kläger beim Aufstehen von einem Stuhl erneut auf den Boden. Wieder gelang weder ihm selbst noch seiner Ehefrau ein Aufrichten. Da die Ehefrau anderweitige Hilfe nicht herbeirufen konnte, forderte sie diese erneut über den Notruf 112 an. Ausweislich des Einsatzberichts und des Rettungsdienstprotokolls erfolgte der Notruf um 12:12 Uhr; der darauf entsandte RTW traf um 12.17 Uhr am Einsatzort ein. Der Kläger wurde am Boden liegend gefunden, aufgehoben und in einen Stuhl gesetzt; es wurde der Blutdruck gemessen; Verletzungen wurden nicht festgestellt. Eine Mitfahrt ins Krankenhaus lehnte der Kläger ab. Um 12:34 Uhr fuhrt der RTW ohne den Kläger ab.
Mit 2 Rechnungen vom 21.03.2006 forderte die Stadt F. den Kläger zur Zahlung der Mindestgebühr in Höhe 141,42 EUR für jede Fahrt des RTW, zusammen 282,84 EUR auf.
Am 05.05.2006 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Übernahme der Fahrkosten unter Vorlage der beiden Rechnungen, die von ihm im April/Mai 2006 beglichen worden waren. Durch Bescheid vom 19.05.2006 lehnte die Beklagte den Antrag ab mit der Begründung, Kosten für Fehlfahrten würden nicht erstattet, da es sich nicht um Fahrten im Sinne von § 60 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) handele. Nach den Krankentransport-Richtlinien würden Fahrkosten bei Rettungsfahrten zum Krankenhaus auch dann übernommen, wenn eine stationäre Behandlung nicht erforderlich sei; Ziel der Fahrt müsse jedoch ein Krankenhaus sein.
Dagegen legte der Kläger am 13.06.2006 Widerspruch ein. Er verwies auf ein Urteil des Sozialgericht (SG) Aachen vom 14.06.2004; darin sei festgestellt, dass auch für Fehlfahrten ein Fahrkostenanspruch gegenüber der Krankenkasse bestehe.
Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 20.09.2006 zurück. Sie wiederholte, eine Rettungsfahrt, deren Kosten übernommen werden könnten, müsse ein Krankenhaus zum Ziel haben; unerheblich sei, ob der Versicherte dort ambulant oder stationär behandelt werde oder während des Transports versterbe. Da vorliegend kein Personentransport mit dem RTW stattgefunden habe, bestehe kein Kostenerstattungsanspruch gegenüber der Krankenkasse.
Dagegen hat der Kläger am 16.10.2006 Klage erhoben. Er trägt vor, die Inanspruchnahme des Feuerwehrnotrufs sei im Hinblick auf seine aufgetretenen Beschwerden zwingend geboten gewesen. Die Fahrkosten seien im Zusammenhang mit notärztlicher Versorgung entstanden. Seine Ehefrau habe nur die Möglichkeit gehabt, den Notruf 112 zu nutzen oder darauf zu verzichten und ein gegebenenfalls tödliches Risiko einzugehen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.05.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.09.2006 zu verurteilen, ihm die Kosten der beiden am 16.03.2006 durchgeführten so genannten Rettungs- transportwagen-Fehlfahrten in Höhe von 282,84 EUR zu er- statten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie räumt ein, dass der Kläger mit den streitigen Kosten nicht belastet werden dürfe und das Verhalten Dritter (Absetzen des Notrufs) nicht gegen ihn wirken könne. Die Kostenlast könne jedoch nicht die Krankenkasse, sondern nur die Kommune - hier: die Stadt F. - als Träger der Feuerwehr mit RTW treffen. Die Feuerwehr führe neben der Brandbekämpfung und sonstigen Feuerwehraufgaben auch Rettungsfahrten durch. Grundsätzlich sei das Vorhalten einer Feuerwehr dem Bereich der allgemeinen Gefahrenvorsorge einer Stadt/Gemeinde zuzuordnen. Bereits in diesem Rahmen würden die Unterhalts-/Investitionskosten der Feuerwehr kalkuliert. Unabhängig davon, ob objektiv ein Notfall vorgelegen habe, entstünden dem Staatsbürger, der subjektiv das Ausmaß des Notfalles nicht einschätzen könne, keinerlei Kosten bei Alarmierung von Rettungskräften (haftungsrechtliche Aspekte bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit ausgenommen). Finde in diesem Rahmen dann tatsächlich ein Krankentransport statt, würden die vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Leistungsträgern und den Städten/Gemeinden greifen; die Transport- und ggf. auch die Notarztkosten würden zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet. Verweigere der Hilfebedürftige u.U. auch aus rein subjektiven Gründen die Mitfahrt oder sei diese aus medizinischen oder sonstigen Gründen nicht notwendig, sei der Einsatz im Rahmen der allgemeinen Gefahrenvorsorge erfolgt und mit den für die Bereitschaft der Feuerwehr kalkulierten Kosten abgegolten. Es handele sich dann bezogen auf den RTW um eine Fehlfahrt bzw. eine Versorgung ohne Transport, die als solche auch ausdrücklich im Einsatzprotokoll der Feuerwehr vorgesehen sei. Da § 60 SGB V nur die Übernahme von Transportkosten vorsehe, ein Transport aber tatsächlich nicht stattgefunden habe, sei der Anspruch des Klägers gegenüber der Krankenkasse unbegründet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen, den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Eine - insbesondere notwendige - Beiladung der Stadt F. war nicht erforderlich, da die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 75 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht vorliegen.
Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide der Beklagten im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG beschwert, da sie rechtswidrig sind. Er hat Anspruch auf Erstattung der Kosten der RTW-Fahrten in Höhe von 282,84 EUR.
Der Kostenerstattungsanspruch folgt aus § 13 Abs. 3 SGB V. Dem Kläger sind durch die zweimalige Inanspruchnahme des RTW über den Feuerwehrnotruf 112 am 16.03.2006 Kosten in Höhe von 282,84 EUR entstanden, da die Beklagte eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte. Eine unaufschiebbare Leistung ist immer dann anzunehmen, wenn ein Notfall gegeben ist. Dieser ist - jedenfalls aus der maßgeblichen Sicht des Hilfesuchenden - für beide Vorfälle, die zum Einsatz des RTW am 16.03.2006 führten, zu bejahen. Denn der Kläger - stark gehbehindert und schwerstpflegebedürftig - stürzte und blieb auf dem Boden liegen, ohne dass es ihm oder seiner Ehefrau gelungen wäre, ihn wieder aufzurichten. Bei dem ersten Sturz verletzte er sich zudem am Arm. Als medizinische Laien konnten weder der Kläger noch seine Ehefrau die Schwere der Stürze und ihre jeweiligen Folgen übersehen. Dem Kläger sind durch Einsatzfahrten des RTW Fahrkosten entstanden, deren Übernahme er gegenüber der Beklagten beanspruchen kann.
Dieser Anspruch folgt aus § 60 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB V. Danach übernimmt die Krankenkasse die Kosten für Fahrten einschließlich der Transporte nach § 133 SGB V (Fahrkosten), wenn sie im Zusammenhang mit einer Leistung der Kranken- kasse aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig sind. Die Fahrkosten werden bei Rettungsfahrten zum Krankenhaus auch dann übernommen, wenn eine stationäre Behandlung nicht erforderlich ist. Weitere Einzelheiten sind in den nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 SGB V erlassenen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Krankenfahrten, Krankentransportleistungen und Rettungsfahrten (Krankentransport-Richtlinien) geregelt. Nach § 5 Abs. 2 der Krankentransport-Richtlinien finden Rettungsfahrten mit dem RTW für Notfallpatienten statt, die vor und während des Transportes neben den Erste-Hilfe-Maßnahmen auch zusätzlicher Maßnahmen bedürfen, die geeignet sind, die vitalen Funktionen aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen.
Grundsätzlich wird ein RTW auf Grund einer ärztlichen Verordnung bestellt. Jedoch kann nach § 2 Abs. 2 Satz 2 der Krankentransport-Richtlinien in Notfällen der Krankentransport auch nachträglich verordnet werden. Ein Notfall liegt vor, wenn sich der Versicherte in Lebensgefahr befindet oder schwere gesundheitliche Schäden zu befürchten sind, wenn er nicht unverzüglich die erforderliche medizinische Versorgung erhält (§ 2 Abs. 2 Satz 3 der Krankentransport-Richtlinien). Eine ärztliche Verordnung anlässlich der Einsätze am 16.03.2006 liegt nicht vor. Den RTW hatte die Ehefrau des Klägers bestellt. Zu der nachträglichen Verordnung eines Krankentransportes kam es deshalb nicht, weil der Kläger infolge der Stabilisierung seines Gesundheitszustandes die Fahrt nicht angetreten hat. Insofern kann sich die Beklagte nicht auf das Fehlen einer ärztlichen Verordnung berufen.
Für den Fahrkostenanspruch nach § 60 SGB V ist entscheidend, ob die Fahrten des RTW notwendig waren. Auch wenn es der im Gesetz verwandte Begriff "Transporte" nahe legt, ist nicht in jedem Fall Voraussetzung für den Fahrkostenanspruch, dass ein Versicherter tatsächlich transportiert worden ist. § 3 Abs. 2 Satz 2 der Krankentransport-Richtlinien schreibt ausdrücklich vor, dass die Notwendigkeit der Beförderung für den Hin- und Rückweg gesondert zu prüfen ist. Ein Krankentransport im Sinne des § 60 SGB V kann nach Auffassung der Kammer auch dann bejaht werden, wenn der Versicherte aus medizinischen oder sonstigen Gründen nicht transportiert werden muss, also ein so genannte Fehlfahrt vorliegt.
Bei den zum Versorgungsauftrag der Krankenkassen gehörenden Krankentransport- leistungen handelt es sich um Sachleistungen. Die Krankenkasse "übernimmt" in Ermangelung eigener Krankentransportunternehmen gemäß § 60 SGB V die Fahrkosten, die den Versicherten durch die Inanspruchnahme von Krankentransport-Leistungs- erbringern entstehen. Hiervon ausgehend ist als "Rettungsfahrt zum Krankenhaus" im Sinne von § 60 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB V das zu verstehen, was der Leistungserbringer dem Versicherten bei der notwendigen Selbstbeschaffung dieser Leistung in Rechnung stellen darf. Eine gebührenfähige Rettungsfahrt beginnt - unabhängig von einer tatsächlichen Transportleistung - mit dem Ausrücken des RTW zum Zwecke einer Rettungsfahrt. Dies müssen die Krankenkassen gegen sich gelten lassen. Eine Differenzierung zwischen "Rettungsfahrten" im Sinne des Krankenversicherungsrechts und des kommunalen Gebührenrechts würde in unvertretbarer Weise das den Krankenkassen obliegende Risiko einer ausreichenden, zweckmäßigen und notwendigen notärztlichen Rettungsdienst-Versorgung auf die Versicherten verlagern, die weder Notwendigkeit noch Inhalt und Umfang notärztlicher Versorgung beurteilen können noch einen dahin gehenden Entscheidungsspielraum haben: Entweder sie benutzen den Notruf 112 oder sie verzichten darauf und gehen damit ein unwägbares, ggf. tödliches Risiko ein (SG Aachen, Urteil vom 14.06.2004 - S 6 KR 203/03).
Ob eine Rettungsfahrt notwendig im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB V war, ist nicht nach objektiven, sondern nach subjektiven Kriterien zu beurteilen. Die Kammer schließt sich insofern in vollem Umfang den Erwägungen des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts im Urteil vom 15.02.2005 (L 5 KR 122/04) an. Abzustellen ist auf eine subjektive Betrachtung aus der Laiensphäre. In den beiden hier zur beurteilenden Fällen, die zum Einsatz des RTW am 16.03.2006 führten, konnte die Ehefrau des Klägers als medizinische Laie nicht einschätzen, ob ein sofortiger Notruf und der Einsatz des RTW erforderlich war oder ob ein Abwarten anderweitiger Hilfe ausreichend gewesen wäre. Angesichts der Gehbehinderung des Klägers und des Schweregrads seiner Pflegebedürftigkeit sowie des fortgeschrittenen Alters konnte und durfte seine Ehefrau bei den Stürzen ihres Ehemanns jeweils von einem Notfall ausgehen. Für den ersten Einsatz wird das bereits deshalb besonders deutlich, weil auch die RTW-Sanitäter glaubten, nicht ohne einen Notarzt auskommen zu können, und deshalb den "MQN" anforderten. Nach alledem waren die Hinfahrten des RTW am 16.03.2006 zum Einsatzort, der Wohnung des Klägers, jeweils notwendig. Dies kann für die Rückfahrt vom Einsatzort weg nicht mehr bejaht werden. Der Kläger fühlte sich offenbar derart gut versorgt und wiederhergestellt, dass ihm eine Fahrt zum Krankenhaus nicht mehr notwendig erschien.
Soweit die Beklagte unter Hinweis auf § 60 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB V geltend macht, sie hätte die Kosten übernommen, wenn eine Fahrt mit dem Kläger zum Krankenhaus erfolgt wäre, schließt dies nach Auffassung der Kammer die Übernahme der Fahrkosten für eine so genannte Fehlfahrt, also eine Fahrt, bei der nur die Hinfahrt notwendig im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB V war, nicht aus. Denn den Versicherten kann nicht zugemutet werden, nicht notwendige Fahrten zum Krankenhaus über sich ergehen zu lassen, nur um den Fahrkostenübernahmeanspruch nach § 60 SGB V nicht zu verlieren.
Ein Abzug des sich aus § 61 Satz SGB V ergebenden Betrages - vgl. § 60 Abs. 1 Satz 3 SGB V - entfällt, da der Kläger für 2006 von der Zuzahlungspflicht befreit ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Kammer hat die Sprungrevision zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 161 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Die Frage der Kostenübernahme für so genannte Fehlfahrten ist - soweit ersichtlich - bislang höchstrichterlich nicht geklärt.
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