L 25 B 1038/06 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
25
1. Instanz
SG Neuruppin (BRB)
Aktenzeichen
S 1 AS 434/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 25 B 1038/06 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 09. Oktober 2006 - S 1 AS 434/06 ER - geändert.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin über den Monat Mai 2006 hinaus für die Dauer von 6 Monaten vorläufig monatlich 418,78 Euro zu zahlen.

Außergerichtliche Kosten sind der Antragstellerin für beide Instanzen zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin beansprucht einstweiligen Rechtsschutz mit dem Ziel höherer Leistung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, SGB II.

Die Antragstellerin bewohnt mit ihrem Ehemann AP ein in ihrem gemeinsamen Eigentum stehendes Haus. Im Erdgeschoss befindet sich eine Gaststätte, die der Ehemann der Antragstellerin betreibt. Des Weiteren bezieht er eine Erwerbsunfähigkeitsrente von monatlich 594,83 Euro. Nachdem die Antragstellerin Leistungen von dem Antragsgegner u. a. in der Zeit vom 01. Dezember 2005 bis 31. Mai 2005 in Höhe von monatlich 418,78 Euro bezogen hatte, hat der Antragsgegner mit Bescheid vom 27. Juni 2006 für die Zeit vom 01. Juni 2006 bis 30. November 2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Monat Juni in Höhe von 73,74 Euro und danach in Höhe von 86,74 Euro bewilligt. Den dagegen eingelegten Widerspruch der Antragstellerin hat der Antragsgegner bislang nicht beschieden.

Zur Begründung des Antrags vom 04. Juli 2006 auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 87 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz, SGG, wurde insbesondere vorgetragen, der Antragsgegner gehe zu Unrecht davon aus, dass die Antragstellerin von ihrem Ehemann auf ihren eigenen Bedarf 535,94 Euro erhalten könne. Sie sei dringend auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen. Allein die monatlichen Zinszahlungen für das gemeinsame Haus betrügen ca. 470 Euro. Der Antragsgegner habe an Hauslasten monatlich 518,10 Euro anerkannt. Die Antragstellerin und ihr Ehemann würden in existenzielle Schwierigkeiten geraten, wenn nicht im Rahmen des einstweiligen Anordnungsverfahrens Leistungen in der bisher bewilligten Höhe gezahlt würden. Das Girokonto sei bereits überzogen. Weiteren Kredit erhielten die Eheleute nicht. Eingereicht wurde Einnahmen-Überschussrechnung des Ehemanns der Antragstellerin für die Zeit vom 01. Januar 2005 bis 31. Dezember 2005.

Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin hat erstinstanzlich beantragt,

dem Antragsgegner im Wege einstweiligen Rechtsschutzes aufzugeben, der Antragstellerin über den Mai 2006 hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des Widerspruchsverfahrens über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 27. Juni 2006 Leistungen in der bisherigen Höhe für längstens 6 Monate zu zahlen. Der Antragsgegner hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Der Antragsgegner meint, weder Anordnungsanspruch noch Anordnungsgrund seien glaubhaft gemacht. Der Antragsgegner müsse davon ausgehen, dass der Ehemann der Antragstellerin neben der Rente bei der selbständigen Tätigkeit Einkommen erziele. Nach notwendigen Bereinigungen verbleibe von einem Einkommen in Höhe von 1.375,59 Euro monatlich ein Betrag in Höhe von 1.201,94 Euro.

Die Antragstellerin erwidert, ihr Ehemann habe Einkommen mit der Gaststätte nicht erzielt. Er habe lediglich Einkommen in Höhe der Rente. Die Entnahmen würden pauschal nach steuerrechtlichen Gesichtspunkten für jedes Mitglied der Haushaltsgemeinschaft angenommen, ohne dass tatsächlich Entnahmen stattfänden. Entscheidungserheblich seien lediglich der Gewinn oder der Verlust und nicht die nur nach steuerrechtlichen Gesichtspunkten erfolgte Bilanzierung der sonstigen Erlöse. In der betriebswirtschaftlichen Auswertung seien Entnahmen gemäß dem Bundessteuerblatt 2003 I S.745 als Eigenverbrauch pauschal pro Person eingebucht worden. Nach der entsprechenden Tabelle habe die Richtlinie einen Betrag von 2.592 Euro pro Person der Haushaltsgemeinschaft betragen. Dies ergebe bei 3 Personen einen Jahresbetrag von 7.776 Euro. Genau dieser Betrag entspreche der Summe der Warenentnahme durch den Unternehmer in der Gruppe "sonstige Erlöse". Es gehe um fiktive Entnahmen bzw. rein steuerrechtlich relevante Buchungsposten, nicht um tatsächlichen Gewinn. Zudem könne schon deshalb dieser Buchungsposten nicht als Einnahme angenommen werden, weil diese fiktiven Entnahmen auch im Wareneinsatz erst einmal bezahlt werden müssen. Der Wareneinsatz habe im Kalenderjahr 2005 22.200,95 Euro betragen und habe damit die Entnahmen um mehr als das Doppelte überstiegen. Das zeige, dass eine isolierte Betrachtung der Entnahme, wie sie die Antragsgegnerin vorgenommen habe, unhaltbar sei.

Mit Beschluss vom 09. Oktober 2006 hat das SG den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgewiesen.

Zur Begründung wurde ausgeführt, die Antragstellerin habe den Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Soweit sie den rückwirkenden Erlass einer einstweiligen Anordnung ab dem 01. Juni 2006 beantrage, sei dieser insoweit abzuweisen, als dass im Eilverfahren grundsätzlich keine Leistungen nach dem SGB II für die Vergangenheit geltend gemacht werden könnten. Soweit Leistungen ab Eingang des Antrags (05. Juli 2006) begehrt würden, habe sie einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Nach summarischer Prüfung könne davon ausgegangen werden, dass der Ehemann der Antragstellerin über zu berücksichtigendes Einkommen verfüge. Er habe neben seiner Rente Privatentnahmen aus dem Gewerbebetrieb in Höhe von monatlich 780,76 Euro gehabt, die der Antragsgegner aus der Einnahme-Überschussrechnung für den Zeitraum vom 01. Januar bis 31. Dezember 2005 ermittelt habe. Da der Steuerbescheid für das Kalenderjahr 2005 nicht vorliege, könne nicht abschließend festgestellt werden, welche Einnahmen tatsächlich aus der selbständigen Tätigkeit zu verzeichnen seien. Die Kammer gehe davon aus, dass die Pauschbeträge für den Eigenverbrauch, die durch die zuständigen Finanzbehörden festgesetzt würden, auch tatsächlich als Sachentnahme vom Ehegatten der Antragstellerin entnommen worden seien. Insbesondere sei in der Einnahme-Überschussrechnung eine Privatentnahme in Höhe von 9.369,10 Euro ausgewiesen.

Gegen den dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin am 12. Oktober 2006 zugestellten Beschluss richtete sich die am 24. Oktober 2006 beim Sozialgericht Neuruppin eingegangene Beschwerde der Antragstellerin. Sie hat zur Begründung insbesondere auch den Einkommensteuerbescheid für das Kalenderjahr 2005 vorgelegt, der einen Verlust aus Gewerbebetrieb in Höhe von 2.271,00 Euro ausweist. Bei der Antragstellerin würden fiktiv Einnahmen zugerechnet, von denen sie und ihre Familie nicht leben könnten, da sie tatsächlich nicht erfolgten. Die Privatentnahmen seien aus rein steuerlichen Gründen fiktiv zu buchen gewesen. Andernfalls hätte sich der Ehemann der Steuerhinterziehung schuldig gemacht. Bargeld zur Entnahme sei nicht vorhanden und sämtliche Bargeldeinnahmen aus dem Gaststättenbetrieb müssten umgehend bei der Bank eingezahlt werden, um laufende Rechnungen begleichen zu können.

Die Antragstellerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts vom 09. Oktober 2006 aufzuheben und den Antragsgegner zu verurteilen, über den Monat Mai 2006 hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des Widerspruchsverfahrens über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 27. Juni 2006 Leistungen in der bisherigen Höhe für längstens sechs Monate zu zahlen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie trägt vor, gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II seien als Einkommen alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert zu berücksichtigen. Aus der Einnahmen-Überschussrechnung für das Jahr 2005, die als Grundlage für den Einkommensteuerbescheid gedient habe, sei ersichtlich, dass in dem Kalenderjahr 9.369,10 Euro Privatentnahmen in Geldeswert aus dem Unternehmen getätigt worden seien. Diese Privatentnahmen würden steuerrechtlich als Einkommen gewertet, wie sich aus § 4 Abs. 1 Einkommensteuergesetz ergebe. Danach sei Gewinn der Unterschiedsbetrag zwischen dem Betriebsvermögen am Schluss des Wirtschaftsjahres und dem Betriebsvermögen am Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahres, vermehrt um den Wert der Entnahmen und vermindert um den Wert der Einlagen.

Wenn Mittel aus dem Aktivvermögen eines Gewerbebetriebes entnommen würden, handele es sich um eine unternehmerische Entscheidung, das Vermögen des Gewerbebetriebes zu schmälern, um es in den Bereich der Privatsphäre zu überführen. Die Privatentnahmen stellten damit eine Einnahme der "Privatperson" dar und seien als solche auch anzurechnen. Sofern diese erlangt sei, sei sie grundsätzlich in erster Linie zur Deckung des Lebensbedarfs einzusetzen. Es widerspreche dem Sinn und Zweck des SGB II, die Anrechnung von Privatentnahmen zu unterlassen. Der Hilfebedürftige habe in erster Linie Sorge dafür zu tragen, dass er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seinen eigentlichen Lebensbedarf decke. Die Entnahme stelle ein zur Verfügung stehendes Mittel dar.

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichts- und Verwaltungsakten, die dem Senat bei seiner Beschlussfassung vorgelegen haben.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, nämlich einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, wie einen Anordnungsgrund, einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung i. V. m. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen.

Artikel 19 Absatz IV Grundgesetz stellt dabei besondere Anforderungen an die Ausgestaltung dieses Eilverfahrens. Nach der dazu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das erkennende Gericht verpflichtet, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, sofern die Entscheidung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert werden soll. Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand der Folgenabwägung zu entscheiden, die daran ausgerichtet ist, eine Verletzung grundgesetzlicher Gewährleistungen zu verhindern, auch wenn diese nur möglich erscheint oder nur zeitweilig dauert. Die Sicherung des Existenzminimums (verwirklicht durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose) ist eine grundgesetzliche Gewährleistung in diesem Sinne (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05).

Hiervon ausgehend war dem Antrag der Antragstellerin zu entsprechen. Der Senat vermag im Eilverfahren nicht abschließen zu klären, ob der Anspruch der Antragstellerin auf höhere Leistungen und in der zuvor bewilligten Höhe begründet ist. Bei der Berechnung des Einkommens des Ehemannes der Klägerin wird im Hauptsacheverfahren gemäß § 2 a Absatz 1 Satz 1 der Verordnung über die Bestimmung des Arbeitsentgelts in der Sozialversicherung (Alg-II-V) in der Fassung vom 22.August 2005 (BGBl.I S.2499) vom Arbeitseinkommen im Sinne des Vierten Buches Sozialgesetzbuch auszugehen sein. Die Einnahmen werden nach § 15 Absatz 1 des Einkommenssteuergesetzes zu bestimmen und für das Kalenderjahr zu berechnen sein, in dem der Bedarfszeitraum liegt (Berechnungsjahr). Als Einkommen ist ein Betrag anzusetzen, der auf der Grundlage früherer Betriebsergebnisse und unter Berücksichtigung der im Rahmen des Betriebes im Berechnungsjahr bereits erzielten Einnahmen und geleisteten notwendigen Ausgaben sowie der im Rahmen des Betriebes im Berechnungsjahr noch zu erwartenden Einnahmen und notwendigen Ausgaben zu errechnen ist, § 2 a Absatz 2 und 3 Alg II-V.

Die Folgenabwägung im Rahmen der Prüfung des Anordnungsgrundes nach den o.g. Maßstäben fällt hier zugunsten der Antragstellerin aus. In Anbetracht der hohen Belastungen für das Haus (Tilgung, Zinsen und Nebenkosten) erscheint es möglich, dass das Existenzminimum (vgl. hierzu Urteil des Bundessozialgerichts vom 23.November 1006 B 11b AS 1/0 R) der Antragstellerin ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung längere Zeit nicht gedeckt ist. Nach den Kontoauszügen betrugen die monatlichen Zahlungen an die Wüstenrot Bank AG 577,96 Euro und an die Wüstenrot Bausparkasse AG monatlich 153,39 Euro. Hinzu kommen noch die monatlichen Belastungen für Nebenkosten des Hauses.

Diese Kostenentscheidung beruht auf entsprechende Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

Die Entscheidung ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved