Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 7 KN 74/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 KN 240/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 17.11.2006 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurück verwiesen. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens einschließlich derjenigen des Berufungsverfahrens bleibt dem Sozialgericht vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Der im Februar 1959 geborene Kläger stammt aus der Türkei und wurde im November 1973 im Deutschen Steinkohlenbergbau angelegt. Zum 31.03.1990 kehrte er ab.
Ein erster Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung vom April 2004 blieb erfolglos, die Beklagte gewährte indes ab dem 01.05.2004 Rente für Bergleute wegen verminderter Berufsfähigkeit im Bergbau.
Dem jetzigen Verfahren liegt ein Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung von April 2005 zugrunde. Die Beklagte zog das im früheren Verfahren erstellte Gutachten des Internisten Dr. T, Sozialmedizinischer Dienst (SMD) S, bei, der den Kläger im Juni 2004 mit Einschränkungen noch für in der Lage gehalten hatte, vollschichtig und regelmäßig noch leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Arbeiten zu verrichten (Gutachten vom 01.07.2004), und lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 09.05.2005). Im Widerspruchsverfahren urteilte Gutachterin Ärztin für Allgemeinmedizin und Sozialmedizin Dr. S, SMD S, nach Untersuchung im Oktober 2005, der Kläger könne noch regelmäßig und vollschichtig leichte und mittelschwere körperliche Tätigkeiten verrichten (Gutachten vom 24.10.2005). Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 13.02.2006).
Dagegen hat der Kläger noch im Februar 2006 Klage erhoben und behauptet, er könne seit April 2005 keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit mehr nachgehen.
Er hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 9.5.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 13.2.2006 zu verurteilen, bei ihm ab 12.4.2005 einen Zustand von voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung anzunehmen und ihm die Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren, sowie hilfsweise ein Gutachten gemäß § 109 SGG von Dr. X aus S einzuholen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat ihre Entscheidung weiter für richtig gehalten.
Das Sozialgericht (SG) hat die behandelnden Ärzte befragt, ob der Kläger noch mindestens 3 oder mindestens 6 Stunden (Std) täglich erwerbsfähig sein könne, ggf aufgrund welcher (wie gesicherten) Befunde nicht. Chirurg Dr. C aus N hat geantwortet, seines Erachtens könne der Kläger noch 3-6 Std täglich arbeiten (Bericht vom 20.6.2006). Internist Dr. M aus N hat geantwortet, der Kläger könne noch mindestens 6 Std täglich leicht bis mittelschwer arbeiten (Bericht vom 22.6.2006). Nervenarzt Dr. H aus N hat leichte körperliche Arbeiten für 6 Std täglich noch für möglich gehalten (Bericht vom 15.8.2006).
Mit Verfügung vom 15.8. hat das SG um Stellungnahme bis zum 14.9. gebeten, ob die Klage nunmehr zurück genommen werde, und die Streitsache am 15.9. "zur Sitzung" verfügt. Am 25.9. hat der Kläger mitgeteilt, die Klage werde (selbstverständlich) nicht zurück genommen, sondern weiter für begründet gehalten. Am 2.10. hat das SG ihn auf § 109 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hingewiesen und Termin für den 17.11.2006 anberaumt. Nach Zustellung der Ladung am 6.10. hat der Kläger am 25.10. schriftsätzlich einen (vollständigen) Antrag nach § 109 SGG gestellt und Dr. X aus D als Arzt seines Vertrauens benannt.
Das SG hat die Klage abgewiesen, weil nicht belegt sei, dass der Kläger nicht mehr im Stande ist, mindestens 6 Std täglich erwerbstätig zu sein. Da die Angaben der behandelnden Ärzte schon die Behauptung des Klägers nicht stützten, bestehe keine Veranlassung zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen. Den Hilfsantrag habe der Kläger nach freier Überzeugung des SG aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt (Urteil vom 17.11.2006).
Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt und sein Begehren unter Wiederholung und Vertiefung seines Vorbringens weiter verfolgt. Dr. C habe seinen Vortrag bestätigt.
Der Kläger beantragt,
nach dem Schlussantrag 1. Instanz zu erkennen, hilfsweise das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Sache zu erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zu verweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise nach dem Hilfsantrag des Klägers zu erkennen.
Die Beklagte hat ihre Entscheidung weiter für richtig gehalten.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist im Sinne der Hilfsanträge begründet. Da die bisherigen Tatsachenfeststellungen für eine Sachentscheidung nicht ausreichen, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Streitsache an das SG zurück zu verweisen, weil das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet, § 159 Abs 1 Nr 2 SGG.
Nach § 159 Abs 1 Nr 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurück verweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Das Verfahren leidet an einem wesentlichen Mangel, wenn das SG auf dem Wege zu seiner abschließenden Entscheidung eine das Klageverfahren regelnde Verfahrensvorschrift verletzt hat. Wesentlich ist dieser Mangel, wenn die Entscheidung des SG (hier das Urteil vom 17.11.2006) auf der Verletzung der Verfahrensvorschrift beruhen kann (Meyer-Ladewig. SGG.Kommentar. 8. Auflage 2005. § 159 Rdnr 3a mwN). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Es liegt nahe, dass das SG (auch) gegen die Verfahrensvorschriften des § 109 SGG und des fairen Verfahrens (fair trial) (vgl dazu Keller in: Meyer-Ladewig. aaO. Vor § 60 Rdnr 1b mwN) verstoßen hat , indem es dem am 25.10.2006 gestellten Antrag des Klägers nicht entsprochen hat. Das kann hier jedoch unentschieden bleiben. Jedenfalls liegt ein Verstoß gegen die - hier zusammen zu betrachtenden - Verfahrensvorschriften der §§ 103, 128 SGG vor. Das SG hat auf dem Weg zu seiner Entscheidung §§ 103, 128 SGG nicht beachtet, Vorschriften, die nicht die materielle Rechtslage betreffen, sondern das Verfahren regeln. Dieser Mangel ist auch wesentlich, weil die klageabweisende Entscheidung des SG auf ihm beruhen kann.
Nach § 103 Satz 1 erster Halbsatz SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Dabei ist es verpflichtet, alle Tatsachen zu ermitteln, die für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich, also entscheidungserheblich sind (Leitherer in: Meyer-Ladewig. aaO. § 103 Rdnr 4a mwN; Zeihe. Das SGG und seine Anwendung. Stand 1.11.2006. Vor § 103 Anm 1 A). Da das Gericht in diesem Rahmen den konkreten Umfang der Ermittlungen nach pflichtgemäßem Ermessen grundsätzlich selbst bestimmt, verletzt es § 103 SGG nur dann, wenn es Ermittlungen unterlässt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen, zu denen es sich - mit anderen Worten - gedrängt fühlen musste (Leitherer. aaO. § 103 Rdnrn 4, 5, 11c, 20 mwN; § 128 Rdnr 14 mwN).
Nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG entscheidet es - auf der Grundlage seiner Ermittlungen - nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Dabei muss es alle Beweismittel ausschöpfen, die zur Verfügung stehen (Meyer-Ladewig. aaO. § 128 Rdnr 3g), diese unter Abwägung aller Umstände frei würdigen und entscheiden, ob danach die entscheidungserheblichen Tatsachen mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen (aaO. Rdnr 4). Es kann dabei auch von Beweisergebnissen abweichen, wenn es sich auf eigene Sachkunde stützen kann, die für die Beteiligten auch ersichtlich geworden ist (aaO. Rdnr 7; Zeihe. aaO. Vor § 103 Anm 1 H mwn; ders. Vor § 128 A IV)). Gegen § 128 Abs 1 SGG verstößt das Gericht dabei nur dann, wenn es die Grenzen der freien Beweiswürdigung nicht beachtet, insbesondere, wenn es gegen allgemeine Erfahrungssätze oder gegen Denkgesetze verstößt (Meyer-Ladewig. aaO. Rdnr 10; Zeihe. aaO. Vor § 128 A II + III). Ein Verstoß gegen Denkgesetze liegt zB vor, wenn das Gericht einem ärztlichen Zeugnis eine Erklärung entnimmt, die in ihm nicht enthalten ist (Bundessozialgericht (BSG) SozR § 128 Nr 12), oder wenn es das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt (BSG SozR § 128 Nrn 40 und 56).
Gegen diese Grundsätze hat das SG verstoßen. Es hätte sich nach den Auskünften der behandelnden Ärzte, die von denen der im Verwaltungsverfahren eingeschalteten Ärzte des SMD abwichen, gedrängt fühlen müssen, mit sachverständiger Hilfe eine zusammenfassende Beurteilung der Leistungsfähigkeit unter Berücksichtigung der Leistungseinschränkungen auf allen Fachgebieten einzuholen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie hier - nicht auszuschließen ist, dass sich die Leistungseinschränkungen aus Sicht der verschiedenen Fachgebiete überschneiden und ggf. potenzieren können (vgl BSG SozR 4-1500 § 128 Nr 3). Nimmt man zu den von Dr. C mitgeteilten leistungslimitierenden Befunden die Einschränkungen auf den anderen beiden Fachgebieten hinzu (die Nervenarzt Dr. H für sein Fachgebiet offenbar wiederum gravierender als Dr. M für das seine eingeschätzt hat), ist evident, dass eine für eine abschließende Entscheidungsbildung genügende Tatsachengrundlage (hier: ein medizinisches Gesamturteil) nicht vorliegt.
Soweit das SG die schriftlichen Aussagen der behandelnden Ärzte als richtig unterstellt und zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat, hat es gegen Denkgesetze verstoßen. Es hat zur Begründung seiner Entscheidung nämlich ua ausgeführt hat, schon die (Angaben der) eigenen behandelnden Ärzte stützten den Klageanspruch nicht, aus den durchgeführten Ermittlungen ergebe sich, dass der Kläger zumindest noch in der Lage sei, Tätigkeiten als Bürohilfsarbeiter oder Pförtner vollschichtig (!) zu verrichten. Dies lässt sich aber den Ausführungen der vom SG als sachverständige Zeugen befragten behandelnden Ärzte aus zwei Gründen nicht entnehmen. Zum einen führt Chirurg Dr. C für sein Fachgebiet aus, der Kläger könne "täglich noch 3-6 Stunden arbeiten". Diese Aussage besagt gerade nicht, dass der Kläger durchweg in der Lage ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI)). Zum anderen macht keiner der befragten Ärzte Aussagen dazu, ob der Kläger unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Einschränkungen auf allen Fachgebieten noch imstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, so dass der Schluss, sie stützten den Klageanspruch nicht, aus ihren Äußerungen gerade nicht hergeleitet werden kann.
Sollte das SG hingegen selbst die entsprechende Sachkunde besitzen, gleichwohl die Aussagen der behandelnden Ärzte mit denjenigen der von der Beklagten im Verwaltungsverfahren gehörten Ärzte in Übereinstimmung zu bringen, ist dies für die Beteiligten nicht ersichtlich geworden. Das SG hätte verabsäumt, den Beteiligten diese Sachkunde darzulegen und sie dazu anzuhören (§§62, 128 Abs 2 SGG), und dadurch ebenfalls gegen Verfahrensvorschriften verstoßen.
Dass der Mangel wesentlich ist, liegt auf der Hand. Denn die Berücksichtigung weiterer Beweismittel kann immer zu einer anderen Sachentscheidung führen.
Der Senat hält es im Rahmen seines Ermessen für sachgerecht und zweckmäßig, die Streitsache an das SG zurück zu verweisen. Auch unter Berücksichtigung des Gedankens der Prozessökonomie und des Interesses des Klägers an einer zeitnahen Sachentscheidung überwiegt hier sein Interesse, die erforderliche Sachaufklärung durch das (wohnortnahe) Instanzgericht in einem fairen Klageverfahren (und erst danach ggf. in einer zweiten Instanz) vornehmen zu lassen. Die Beteiligten haben durch ihre (übereinstimmenden) Hilfsanträge auch dokumentiert, dass diese Verfahrensweise in ihrem Interesse liegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 1, 193 Abs 1 SGG.
Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs 2 SGG.
Tatbestand:
Streitig ist die Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Der im Februar 1959 geborene Kläger stammt aus der Türkei und wurde im November 1973 im Deutschen Steinkohlenbergbau angelegt. Zum 31.03.1990 kehrte er ab.
Ein erster Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung vom April 2004 blieb erfolglos, die Beklagte gewährte indes ab dem 01.05.2004 Rente für Bergleute wegen verminderter Berufsfähigkeit im Bergbau.
Dem jetzigen Verfahren liegt ein Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung von April 2005 zugrunde. Die Beklagte zog das im früheren Verfahren erstellte Gutachten des Internisten Dr. T, Sozialmedizinischer Dienst (SMD) S, bei, der den Kläger im Juni 2004 mit Einschränkungen noch für in der Lage gehalten hatte, vollschichtig und regelmäßig noch leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Arbeiten zu verrichten (Gutachten vom 01.07.2004), und lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 09.05.2005). Im Widerspruchsverfahren urteilte Gutachterin Ärztin für Allgemeinmedizin und Sozialmedizin Dr. S, SMD S, nach Untersuchung im Oktober 2005, der Kläger könne noch regelmäßig und vollschichtig leichte und mittelschwere körperliche Tätigkeiten verrichten (Gutachten vom 24.10.2005). Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 13.02.2006).
Dagegen hat der Kläger noch im Februar 2006 Klage erhoben und behauptet, er könne seit April 2005 keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit mehr nachgehen.
Er hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 9.5.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 13.2.2006 zu verurteilen, bei ihm ab 12.4.2005 einen Zustand von voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung anzunehmen und ihm die Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren, sowie hilfsweise ein Gutachten gemäß § 109 SGG von Dr. X aus S einzuholen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat ihre Entscheidung weiter für richtig gehalten.
Das Sozialgericht (SG) hat die behandelnden Ärzte befragt, ob der Kläger noch mindestens 3 oder mindestens 6 Stunden (Std) täglich erwerbsfähig sein könne, ggf aufgrund welcher (wie gesicherten) Befunde nicht. Chirurg Dr. C aus N hat geantwortet, seines Erachtens könne der Kläger noch 3-6 Std täglich arbeiten (Bericht vom 20.6.2006). Internist Dr. M aus N hat geantwortet, der Kläger könne noch mindestens 6 Std täglich leicht bis mittelschwer arbeiten (Bericht vom 22.6.2006). Nervenarzt Dr. H aus N hat leichte körperliche Arbeiten für 6 Std täglich noch für möglich gehalten (Bericht vom 15.8.2006).
Mit Verfügung vom 15.8. hat das SG um Stellungnahme bis zum 14.9. gebeten, ob die Klage nunmehr zurück genommen werde, und die Streitsache am 15.9. "zur Sitzung" verfügt. Am 25.9. hat der Kläger mitgeteilt, die Klage werde (selbstverständlich) nicht zurück genommen, sondern weiter für begründet gehalten. Am 2.10. hat das SG ihn auf § 109 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hingewiesen und Termin für den 17.11.2006 anberaumt. Nach Zustellung der Ladung am 6.10. hat der Kläger am 25.10. schriftsätzlich einen (vollständigen) Antrag nach § 109 SGG gestellt und Dr. X aus D als Arzt seines Vertrauens benannt.
Das SG hat die Klage abgewiesen, weil nicht belegt sei, dass der Kläger nicht mehr im Stande ist, mindestens 6 Std täglich erwerbstätig zu sein. Da die Angaben der behandelnden Ärzte schon die Behauptung des Klägers nicht stützten, bestehe keine Veranlassung zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen. Den Hilfsantrag habe der Kläger nach freier Überzeugung des SG aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt (Urteil vom 17.11.2006).
Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt und sein Begehren unter Wiederholung und Vertiefung seines Vorbringens weiter verfolgt. Dr. C habe seinen Vortrag bestätigt.
Der Kläger beantragt,
nach dem Schlussantrag 1. Instanz zu erkennen, hilfsweise das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Sache zu erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zu verweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise nach dem Hilfsantrag des Klägers zu erkennen.
Die Beklagte hat ihre Entscheidung weiter für richtig gehalten.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist im Sinne der Hilfsanträge begründet. Da die bisherigen Tatsachenfeststellungen für eine Sachentscheidung nicht ausreichen, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Streitsache an das SG zurück zu verweisen, weil das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet, § 159 Abs 1 Nr 2 SGG.
Nach § 159 Abs 1 Nr 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurück verweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Das Verfahren leidet an einem wesentlichen Mangel, wenn das SG auf dem Wege zu seiner abschließenden Entscheidung eine das Klageverfahren regelnde Verfahrensvorschrift verletzt hat. Wesentlich ist dieser Mangel, wenn die Entscheidung des SG (hier das Urteil vom 17.11.2006) auf der Verletzung der Verfahrensvorschrift beruhen kann (Meyer-Ladewig. SGG.Kommentar. 8. Auflage 2005. § 159 Rdnr 3a mwN). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Es liegt nahe, dass das SG (auch) gegen die Verfahrensvorschriften des § 109 SGG und des fairen Verfahrens (fair trial) (vgl dazu Keller in: Meyer-Ladewig. aaO. Vor § 60 Rdnr 1b mwN) verstoßen hat , indem es dem am 25.10.2006 gestellten Antrag des Klägers nicht entsprochen hat. Das kann hier jedoch unentschieden bleiben. Jedenfalls liegt ein Verstoß gegen die - hier zusammen zu betrachtenden - Verfahrensvorschriften der §§ 103, 128 SGG vor. Das SG hat auf dem Weg zu seiner Entscheidung §§ 103, 128 SGG nicht beachtet, Vorschriften, die nicht die materielle Rechtslage betreffen, sondern das Verfahren regeln. Dieser Mangel ist auch wesentlich, weil die klageabweisende Entscheidung des SG auf ihm beruhen kann.
Nach § 103 Satz 1 erster Halbsatz SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Dabei ist es verpflichtet, alle Tatsachen zu ermitteln, die für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich, also entscheidungserheblich sind (Leitherer in: Meyer-Ladewig. aaO. § 103 Rdnr 4a mwN; Zeihe. Das SGG und seine Anwendung. Stand 1.11.2006. Vor § 103 Anm 1 A). Da das Gericht in diesem Rahmen den konkreten Umfang der Ermittlungen nach pflichtgemäßem Ermessen grundsätzlich selbst bestimmt, verletzt es § 103 SGG nur dann, wenn es Ermittlungen unterlässt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen, zu denen es sich - mit anderen Worten - gedrängt fühlen musste (Leitherer. aaO. § 103 Rdnrn 4, 5, 11c, 20 mwN; § 128 Rdnr 14 mwN).
Nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG entscheidet es - auf der Grundlage seiner Ermittlungen - nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Dabei muss es alle Beweismittel ausschöpfen, die zur Verfügung stehen (Meyer-Ladewig. aaO. § 128 Rdnr 3g), diese unter Abwägung aller Umstände frei würdigen und entscheiden, ob danach die entscheidungserheblichen Tatsachen mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen (aaO. Rdnr 4). Es kann dabei auch von Beweisergebnissen abweichen, wenn es sich auf eigene Sachkunde stützen kann, die für die Beteiligten auch ersichtlich geworden ist (aaO. Rdnr 7; Zeihe. aaO. Vor § 103 Anm 1 H mwn; ders. Vor § 128 A IV)). Gegen § 128 Abs 1 SGG verstößt das Gericht dabei nur dann, wenn es die Grenzen der freien Beweiswürdigung nicht beachtet, insbesondere, wenn es gegen allgemeine Erfahrungssätze oder gegen Denkgesetze verstößt (Meyer-Ladewig. aaO. Rdnr 10; Zeihe. aaO. Vor § 128 A II + III). Ein Verstoß gegen Denkgesetze liegt zB vor, wenn das Gericht einem ärztlichen Zeugnis eine Erklärung entnimmt, die in ihm nicht enthalten ist (Bundessozialgericht (BSG) SozR § 128 Nr 12), oder wenn es das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt (BSG SozR § 128 Nrn 40 und 56).
Gegen diese Grundsätze hat das SG verstoßen. Es hätte sich nach den Auskünften der behandelnden Ärzte, die von denen der im Verwaltungsverfahren eingeschalteten Ärzte des SMD abwichen, gedrängt fühlen müssen, mit sachverständiger Hilfe eine zusammenfassende Beurteilung der Leistungsfähigkeit unter Berücksichtigung der Leistungseinschränkungen auf allen Fachgebieten einzuholen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie hier - nicht auszuschließen ist, dass sich die Leistungseinschränkungen aus Sicht der verschiedenen Fachgebiete überschneiden und ggf. potenzieren können (vgl BSG SozR 4-1500 § 128 Nr 3). Nimmt man zu den von Dr. C mitgeteilten leistungslimitierenden Befunden die Einschränkungen auf den anderen beiden Fachgebieten hinzu (die Nervenarzt Dr. H für sein Fachgebiet offenbar wiederum gravierender als Dr. M für das seine eingeschätzt hat), ist evident, dass eine für eine abschließende Entscheidungsbildung genügende Tatsachengrundlage (hier: ein medizinisches Gesamturteil) nicht vorliegt.
Soweit das SG die schriftlichen Aussagen der behandelnden Ärzte als richtig unterstellt und zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat, hat es gegen Denkgesetze verstoßen. Es hat zur Begründung seiner Entscheidung nämlich ua ausgeführt hat, schon die (Angaben der) eigenen behandelnden Ärzte stützten den Klageanspruch nicht, aus den durchgeführten Ermittlungen ergebe sich, dass der Kläger zumindest noch in der Lage sei, Tätigkeiten als Bürohilfsarbeiter oder Pförtner vollschichtig (!) zu verrichten. Dies lässt sich aber den Ausführungen der vom SG als sachverständige Zeugen befragten behandelnden Ärzte aus zwei Gründen nicht entnehmen. Zum einen führt Chirurg Dr. C für sein Fachgebiet aus, der Kläger könne "täglich noch 3-6 Stunden arbeiten". Diese Aussage besagt gerade nicht, dass der Kläger durchweg in der Lage ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI)). Zum anderen macht keiner der befragten Ärzte Aussagen dazu, ob der Kläger unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Einschränkungen auf allen Fachgebieten noch imstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, so dass der Schluss, sie stützten den Klageanspruch nicht, aus ihren Äußerungen gerade nicht hergeleitet werden kann.
Sollte das SG hingegen selbst die entsprechende Sachkunde besitzen, gleichwohl die Aussagen der behandelnden Ärzte mit denjenigen der von der Beklagten im Verwaltungsverfahren gehörten Ärzte in Übereinstimmung zu bringen, ist dies für die Beteiligten nicht ersichtlich geworden. Das SG hätte verabsäumt, den Beteiligten diese Sachkunde darzulegen und sie dazu anzuhören (§§62, 128 Abs 2 SGG), und dadurch ebenfalls gegen Verfahrensvorschriften verstoßen.
Dass der Mangel wesentlich ist, liegt auf der Hand. Denn die Berücksichtigung weiterer Beweismittel kann immer zu einer anderen Sachentscheidung führen.
Der Senat hält es im Rahmen seines Ermessen für sachgerecht und zweckmäßig, die Streitsache an das SG zurück zu verweisen. Auch unter Berücksichtigung des Gedankens der Prozessökonomie und des Interesses des Klägers an einer zeitnahen Sachentscheidung überwiegt hier sein Interesse, die erforderliche Sachaufklärung durch das (wohnortnahe) Instanzgericht in einem fairen Klageverfahren (und erst danach ggf. in einer zweiten Instanz) vornehmen zu lassen. Die Beteiligten haben durch ihre (übereinstimmenden) Hilfsanträge auch dokumentiert, dass diese Verfahrensweise in ihrem Interesse liegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 1, 193 Abs 1 SGG.
Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs 2 SGG.
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