Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 5 Ar 120/78
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 Ar 1332/79
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Für das Wissenmüssen i.S. des § 152 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AFG ist der Zeitpunkt maßgeblich, in dem der Empfänger Kenntnis vom Empfang der Leistung erhält. Dieser maßgebliche Zeitpunkt kann der Zeitpunkt der Überprüfung der Kontoauszüge sein. Vorgänge, die zeitlich nach der Kenntnisnahme liegen, haben regelmäßig keinen Einfluß auf die Beurteilung der Frage, ob beim Empfang der Leistung der Vorwurf grober Fahrlässigkeit erhoben werden kann.
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 19. September 1979 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmässigkeit der Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld – Alg – für die Zeit ab 22. November 1977 sowie die Rückforderung eines Betrages von 444,– DM (§§ 151, 152 Arbeitsförderungsgesetz – AFG –) wegen fehlender Verfügbarkeit der Klägerin (§ 103 AFG).
Nach Ablauf der Mutterschutzfrist bewilligte die Beklagte der Klägerin ab 3. November 1977 Alg (Bescheide vom 21. November und 25. November 1977). Die Klägerin teilte der Beklagten mit, daß im Falle einer Arbeitsaufnahme die Betreuung des Kindes sichergestellt sei. Im November 1977 unterbreitete die Beklagte dieser drei Arbeitsangebote, die sie nicht angenommen hatte. Am 22. November 1977 teilte sie der Beklagten telefonisch mit, sie habe niemanden für die Beaufsichtigung ihres Kindes, da ihre Schwiegermutter krank geworden sei. Daraufhin veranlaßte die Leistungsabteilung des zuständigen Arbeitsamtes W. am 13. Dezember 1977 die Einstellung der Alg-Zahlung. Mit Bescheid vom 22. Dezember 1977 wurde die Bewilligung von Alg mit Wirkung vom 25. November 1977 aufgehoben. Mit Bescheid vom 4. Juli 1978 hob die Beklagte die Bewilligung von Alg mit Wirkung vom 22. November 1977 für die Zeit vom 22. November bis 8. Dezember 1977 auf und forderte einen Betrag in Höhe von 444,– DM zurück; die Klägerin habe beim Empfang der Leistung gewußt, daß die Voraussetzungen hierfür nicht vorgelegen hätten. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. August 1978 zurück.
Die Klägerin hat am 17. August 1978 Klage erhoben. Sie hat vorgetragen, sie habe aus der Tatsache, daß sie trotz ihrer Mitteilung, der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung zu stehen, Alg erhalten habe, den Schluß ziehen müssen, die Leistungsvoraussetzungen seien weiterhin gegeben.
Das Sozialgericht Wiesbaden hat die Klage mit Urteil vom 19. September 1979 abgewiesen; es hat die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat es angeführt, die Aufhebung der Leistungsbewilligung sei rechtens, da die Klägerin für die Zeit vom 22. November 1977 an der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden habe (§ 103 Abs. 1 AFG); der Arbeitsvermittlung habe sie nicht mehr zur Verfügung gestanden, da ihr niemand mehr für die Betreuung des Kindes zur Seite gestanden habe. Gleichfalls sei auch die Rückforderung von Leistungen rechtens, da die Klägerin zumindest infolge grober Fahrlässigkeit nicht gewußt habe, daß die Voraussetzungen für die Gewährung von Alg beim Empfang der Leistung nicht vorgelegen hätten. Die Klägerin sei mehrfach arbeitslos gewesen und habe den Inhalt des Merkblattes für Arbeitslose gekannt. Sie habe bei der Vermittlungsstelle angerufen, um eine rechtserhebliche Änderungsmitteilung zu erstatten. Aus diesen beiden Umständen folgere das Gericht, daß die Klägerin beim Empfang der Leistung ihre Nichtberechtigung hätte erkennen müssen. Dabei sei unerheblich, daß die Beklagte das Alg noch bis zum 8. Dezember 1977 weitergezahlt habe; selbst wenn darin ein Mitverschulden der Beklagten zu erblicken sei, sei dieses für eine Rückzahlungspflicht unerheblich. Gegen dieses der Klägerin am 19. Oktober 1979 zugestellte Urteil richtet sich ihre mit Schriftsatz vom 14. November 1979, eingegangen beim Hessischen Landessozialgericht am 16. November 1979, eingelegte Berufung.
Sie ist der Auffassung, sie sei ihrer Mitteilungspflicht durch den Anruf nachgekommen. Wenn ihr dennoch weiterhin Leistungen ausgezahlt worden seien, so habe sie nicht ohne weiteres davon ausgehen müssen, daß die Voraussetzungen für die Zahlung von Alg nicht mehr vorgelegen hätten. Sie habe angenommen, mit dem Anruf vom 22. November 1977 sei die "Angelegenheit” mit dem Arbeitsamt erledigt gewesen. Erst zu späterer Zeit habe sie Kenntnis vom Eingang der Zahlungen der Beklagten bekommen. Nach Kenntnisnahme habe sie bei der Beklagten angerufen, worauf ihr mitgeteilt worden sei, sie sei noch als arbeitssuchend gemeldet. Deshalb sei sie seinerzeit der Meinung gewesen, Anspruch auf die Leistungen zu haben.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 19. September 1979 sowie den Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 1978 und den Widerspruchsbescheid vom 10. August 1978 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie schließt sich inhaltlich dem Urteil des Sozialgerichts an.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere auf den der beigezogenen Leistungsakte der Beklagten, Stamm-Nr. Arbeitsamt W., der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie durch Zulassung statthaft (§§ 150 Nr. 1, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Sie ist jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 19. September 1979 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 1978 und der Widerspruchsbescheid vom 10. August 1978 sind nicht zu beanstanden. Die Bewilligung von Alg war ab 22. November 1977 aufzuheben, und die für die von der Zeit der Aufhebung umfaßten Zeiträume am 25. November bzw. 12. Dezember 1977 überwiesenen Beträge in der Gesamthöhe von 444,– DM waren zurückzufordern.
Entscheidungen, durch die Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz bewilligt worden sind, werden insoweit aufgehoben, als die Voraussetzungen für die Leistungen nicht vorgelegen haben oder weggefallen sind (§ 151 Abs. 1 AFG). Insoweit war die Leistungsbewilligung für den Zeitraum ab 22. November 1977 aufzuheben, als die Klägerin ausweislich ihrer eigenen Mitteilung an die Beklagte, die inhaltlich insoweit nicht bestritten ist, der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung stand.
Darüber hinaus war auch der für die Zeit ab 22. November 1977 erbrachte Betrag von der Beklagten zurückzufordern. Soweit eine Entscheidung aufgehoben (§ 151 Abs. 1 AFG) worden ist, ist die Leistung insoweit zurückzuzahlen, als der Empfänger beim Empfang der Leistung wußte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht wußte, daß die Voraussetzungen für die Leistung nicht vorlagen (§ 152 Abs. 1 Nr. 2 AFG). Zu Recht hat das Sozialgericht insoweit festgestellt, daß der Rückforderungstatbestand des § 152 Abs. 1 Nr. 1, der an die Anzeigepflicht anknüpft, nicht eingreift. Die Klägerin mußte sich jedoch beim Empfang der Leistung zumindest in grober Fahrlässigkeit darüber im klaren sein, daß ihr Leistungen von dem Tage an nicht mehr zustanden, nachdem sie von der Beklagten nicht mehr vermittelt werden konnte, weil sie der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung stand. Grobe Fahrlässigkeit setzt eine Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmasses, d.h. eine besonders grobe und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung voraus, die das gewöhnliche Maß der Fahrlässigkeit erheblich übersteigt. Subjektiv schlechthin unentschuldbar ist ein Verhalten, wenn schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muß (vgl. ESG, Urt. vom 12. Februar 1980 – 7 RAr 13/79 – SozSich. 1980, S. 218; BSG, Urt. vom 1. August 1978 – 7 RAr 37/77 – SozR 4100 § 152 Nr. 6). Dabei kommt es auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und das Verhalten des Leistungsempfängers sowie auf die besonderen Umstände des Falles an (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff). Auch wenn ein Verschulden des Leistungsträgers in diesem Zusammenhang unerheblich ist, so kann dieses jedoch im Rahmen der Beurteilung des Masses der Fahrlässigkeit des Empfängers der Leistung von Bedeutung sein (vgl. BSG, Urt. vom 13. Februar 1975 – 8/7 RKg 14/73).
Für das Wissenmüssen i.S. des § 152 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AFG ist der Zeitpunkt maßgeblich, in dem der Empfänger Kenntnis vom Empfang der Leistung erhält. Eine ausdrückliche Regelung enthält § 152 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AFG insoweit nicht (vgl. BSG, Urt. 15. Februar 1979 – 7 RAr 63/77 – SozR 4100 § 152 Nr. 8). Der Bezieher von Leistungen kann das Fehlen der Voraussetzungen für den Bezug dieser Leistungen jedoch nur kennen, wenn er die konkrete einzelne Leistung kennt, weshalb hier entscheidend auf den Zeitpunkt der Kenntnisnahme vom Leistungsempfang abzustellen ist. Insoweit hätte sich die Klägerin beim Empfang der Leistungen, d.h. bei Überprüfung der Kontoauszüge, aufgrund naheliegendster Überlegungen gedrängt sehen müssen, von der Fehlerhaftigkeit weiterer Leistungsgewährung auszugehen. Insbesonder könnte sie aus der weiteren Zahlung nicht den Schluß ziehen, die Beklagte belasse alles beim alten und gewähre ihr Alg, obgleich die Klägerin auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelt werden konnte. Die Klägerin hat anläßlich ihrer Anhörung im Termin am 13. November 1980 ausdrücklich erklärt, sie habe die Angelegenheit aufgrund ihres Anrufes als erledigt betrachtet und damit – möglicherweise ohne Kenntnis der rechtlichen und zeitlichen Gegebenheiten im einzelnen – keine Leistungen mehr erwartet. Dies wird auch dadurch bestätigt, daß sie den weiteren Eingang von Leistungen der Beklagten nicht unmittelbar auf ihren Kontoauszügen verfolgte, mag dies auch durch die örtliche Entfernung zum Kreditinstitut erschwert gewesen sein. Nach Feststellung des Zahlungseingangs sah sich die Klägerin vielmehr veranlaßt, sich mit dem Arbeitsamt in Verbindung zu setzen. Auf die hier gegebene Auskunft – die Klägerin gibt an, sie habe erfahren, noch als arbeitssuchend gemeldet gewesen zu sein – kann jedoch hinsichtlich des Wissenmüssens nach § 152 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AFG nicht abgestellt werden, so daß weitere Ermittlungen nicht notwendig waren. Es reicht aus, daß die Klägerin zum Zeitpunkt der Kenntnisnahme die fehlende Leistungsberechtigung kennen mußte. Andernfalls würde maßgeblich auf die Kenntnis hinsichtlich des "Behaltendürfens” abgestellt werden, was zu einer von § 152 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AFG nicht umfaßten Ausdehnung des entscheidenden Zeitraumes in subjektiver Hinsicht führen würde.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision hat der Senat zugelassen, weil er der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmässigkeit der Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld – Alg – für die Zeit ab 22. November 1977 sowie die Rückforderung eines Betrages von 444,– DM (§§ 151, 152 Arbeitsförderungsgesetz – AFG –) wegen fehlender Verfügbarkeit der Klägerin (§ 103 AFG).
Nach Ablauf der Mutterschutzfrist bewilligte die Beklagte der Klägerin ab 3. November 1977 Alg (Bescheide vom 21. November und 25. November 1977). Die Klägerin teilte der Beklagten mit, daß im Falle einer Arbeitsaufnahme die Betreuung des Kindes sichergestellt sei. Im November 1977 unterbreitete die Beklagte dieser drei Arbeitsangebote, die sie nicht angenommen hatte. Am 22. November 1977 teilte sie der Beklagten telefonisch mit, sie habe niemanden für die Beaufsichtigung ihres Kindes, da ihre Schwiegermutter krank geworden sei. Daraufhin veranlaßte die Leistungsabteilung des zuständigen Arbeitsamtes W. am 13. Dezember 1977 die Einstellung der Alg-Zahlung. Mit Bescheid vom 22. Dezember 1977 wurde die Bewilligung von Alg mit Wirkung vom 25. November 1977 aufgehoben. Mit Bescheid vom 4. Juli 1978 hob die Beklagte die Bewilligung von Alg mit Wirkung vom 22. November 1977 für die Zeit vom 22. November bis 8. Dezember 1977 auf und forderte einen Betrag in Höhe von 444,– DM zurück; die Klägerin habe beim Empfang der Leistung gewußt, daß die Voraussetzungen hierfür nicht vorgelegen hätten. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. August 1978 zurück.
Die Klägerin hat am 17. August 1978 Klage erhoben. Sie hat vorgetragen, sie habe aus der Tatsache, daß sie trotz ihrer Mitteilung, der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung zu stehen, Alg erhalten habe, den Schluß ziehen müssen, die Leistungsvoraussetzungen seien weiterhin gegeben.
Das Sozialgericht Wiesbaden hat die Klage mit Urteil vom 19. September 1979 abgewiesen; es hat die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat es angeführt, die Aufhebung der Leistungsbewilligung sei rechtens, da die Klägerin für die Zeit vom 22. November 1977 an der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden habe (§ 103 Abs. 1 AFG); der Arbeitsvermittlung habe sie nicht mehr zur Verfügung gestanden, da ihr niemand mehr für die Betreuung des Kindes zur Seite gestanden habe. Gleichfalls sei auch die Rückforderung von Leistungen rechtens, da die Klägerin zumindest infolge grober Fahrlässigkeit nicht gewußt habe, daß die Voraussetzungen für die Gewährung von Alg beim Empfang der Leistung nicht vorgelegen hätten. Die Klägerin sei mehrfach arbeitslos gewesen und habe den Inhalt des Merkblattes für Arbeitslose gekannt. Sie habe bei der Vermittlungsstelle angerufen, um eine rechtserhebliche Änderungsmitteilung zu erstatten. Aus diesen beiden Umständen folgere das Gericht, daß die Klägerin beim Empfang der Leistung ihre Nichtberechtigung hätte erkennen müssen. Dabei sei unerheblich, daß die Beklagte das Alg noch bis zum 8. Dezember 1977 weitergezahlt habe; selbst wenn darin ein Mitverschulden der Beklagten zu erblicken sei, sei dieses für eine Rückzahlungspflicht unerheblich. Gegen dieses der Klägerin am 19. Oktober 1979 zugestellte Urteil richtet sich ihre mit Schriftsatz vom 14. November 1979, eingegangen beim Hessischen Landessozialgericht am 16. November 1979, eingelegte Berufung.
Sie ist der Auffassung, sie sei ihrer Mitteilungspflicht durch den Anruf nachgekommen. Wenn ihr dennoch weiterhin Leistungen ausgezahlt worden seien, so habe sie nicht ohne weiteres davon ausgehen müssen, daß die Voraussetzungen für die Zahlung von Alg nicht mehr vorgelegen hätten. Sie habe angenommen, mit dem Anruf vom 22. November 1977 sei die "Angelegenheit” mit dem Arbeitsamt erledigt gewesen. Erst zu späterer Zeit habe sie Kenntnis vom Eingang der Zahlungen der Beklagten bekommen. Nach Kenntnisnahme habe sie bei der Beklagten angerufen, worauf ihr mitgeteilt worden sei, sie sei noch als arbeitssuchend gemeldet. Deshalb sei sie seinerzeit der Meinung gewesen, Anspruch auf die Leistungen zu haben.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 19. September 1979 sowie den Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 1978 und den Widerspruchsbescheid vom 10. August 1978 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie schließt sich inhaltlich dem Urteil des Sozialgerichts an.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere auf den der beigezogenen Leistungsakte der Beklagten, Stamm-Nr. Arbeitsamt W., der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie durch Zulassung statthaft (§§ 150 Nr. 1, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Sie ist jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 19. September 1979 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 1978 und der Widerspruchsbescheid vom 10. August 1978 sind nicht zu beanstanden. Die Bewilligung von Alg war ab 22. November 1977 aufzuheben, und die für die von der Zeit der Aufhebung umfaßten Zeiträume am 25. November bzw. 12. Dezember 1977 überwiesenen Beträge in der Gesamthöhe von 444,– DM waren zurückzufordern.
Entscheidungen, durch die Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz bewilligt worden sind, werden insoweit aufgehoben, als die Voraussetzungen für die Leistungen nicht vorgelegen haben oder weggefallen sind (§ 151 Abs. 1 AFG). Insoweit war die Leistungsbewilligung für den Zeitraum ab 22. November 1977 aufzuheben, als die Klägerin ausweislich ihrer eigenen Mitteilung an die Beklagte, die inhaltlich insoweit nicht bestritten ist, der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung stand.
Darüber hinaus war auch der für die Zeit ab 22. November 1977 erbrachte Betrag von der Beklagten zurückzufordern. Soweit eine Entscheidung aufgehoben (§ 151 Abs. 1 AFG) worden ist, ist die Leistung insoweit zurückzuzahlen, als der Empfänger beim Empfang der Leistung wußte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht wußte, daß die Voraussetzungen für die Leistung nicht vorlagen (§ 152 Abs. 1 Nr. 2 AFG). Zu Recht hat das Sozialgericht insoweit festgestellt, daß der Rückforderungstatbestand des § 152 Abs. 1 Nr. 1, der an die Anzeigepflicht anknüpft, nicht eingreift. Die Klägerin mußte sich jedoch beim Empfang der Leistung zumindest in grober Fahrlässigkeit darüber im klaren sein, daß ihr Leistungen von dem Tage an nicht mehr zustanden, nachdem sie von der Beklagten nicht mehr vermittelt werden konnte, weil sie der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung stand. Grobe Fahrlässigkeit setzt eine Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmasses, d.h. eine besonders grobe und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung voraus, die das gewöhnliche Maß der Fahrlässigkeit erheblich übersteigt. Subjektiv schlechthin unentschuldbar ist ein Verhalten, wenn schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muß (vgl. ESG, Urt. vom 12. Februar 1980 – 7 RAr 13/79 – SozSich. 1980, S. 218; BSG, Urt. vom 1. August 1978 – 7 RAr 37/77 – SozR 4100 § 152 Nr. 6). Dabei kommt es auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und das Verhalten des Leistungsempfängers sowie auf die besonderen Umstände des Falles an (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff). Auch wenn ein Verschulden des Leistungsträgers in diesem Zusammenhang unerheblich ist, so kann dieses jedoch im Rahmen der Beurteilung des Masses der Fahrlässigkeit des Empfängers der Leistung von Bedeutung sein (vgl. BSG, Urt. vom 13. Februar 1975 – 8/7 RKg 14/73).
Für das Wissenmüssen i.S. des § 152 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AFG ist der Zeitpunkt maßgeblich, in dem der Empfänger Kenntnis vom Empfang der Leistung erhält. Eine ausdrückliche Regelung enthält § 152 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AFG insoweit nicht (vgl. BSG, Urt. 15. Februar 1979 – 7 RAr 63/77 – SozR 4100 § 152 Nr. 8). Der Bezieher von Leistungen kann das Fehlen der Voraussetzungen für den Bezug dieser Leistungen jedoch nur kennen, wenn er die konkrete einzelne Leistung kennt, weshalb hier entscheidend auf den Zeitpunkt der Kenntnisnahme vom Leistungsempfang abzustellen ist. Insoweit hätte sich die Klägerin beim Empfang der Leistungen, d.h. bei Überprüfung der Kontoauszüge, aufgrund naheliegendster Überlegungen gedrängt sehen müssen, von der Fehlerhaftigkeit weiterer Leistungsgewährung auszugehen. Insbesonder könnte sie aus der weiteren Zahlung nicht den Schluß ziehen, die Beklagte belasse alles beim alten und gewähre ihr Alg, obgleich die Klägerin auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelt werden konnte. Die Klägerin hat anläßlich ihrer Anhörung im Termin am 13. November 1980 ausdrücklich erklärt, sie habe die Angelegenheit aufgrund ihres Anrufes als erledigt betrachtet und damit – möglicherweise ohne Kenntnis der rechtlichen und zeitlichen Gegebenheiten im einzelnen – keine Leistungen mehr erwartet. Dies wird auch dadurch bestätigt, daß sie den weiteren Eingang von Leistungen der Beklagten nicht unmittelbar auf ihren Kontoauszügen verfolgte, mag dies auch durch die örtliche Entfernung zum Kreditinstitut erschwert gewesen sein. Nach Feststellung des Zahlungseingangs sah sich die Klägerin vielmehr veranlaßt, sich mit dem Arbeitsamt in Verbindung zu setzen. Auf die hier gegebene Auskunft – die Klägerin gibt an, sie habe erfahren, noch als arbeitssuchend gemeldet gewesen zu sein – kann jedoch hinsichtlich des Wissenmüssens nach § 152 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AFG nicht abgestellt werden, so daß weitere Ermittlungen nicht notwendig waren. Es reicht aus, daß die Klägerin zum Zeitpunkt der Kenntnisnahme die fehlende Leistungsberechtigung kennen mußte. Andernfalls würde maßgeblich auf die Kenntnis hinsichtlich des "Behaltendürfens” abgestellt werden, was zu einer von § 152 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AFG nicht umfaßten Ausdehnung des entscheidenden Zeitraumes in subjektiver Hinsicht führen würde.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision hat der Senat zugelassen, weil er der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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