L 1 Eg 72/87

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
1
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 Eg 72/87
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der gewöhnliche Aufenthalt ist für alle dem Sozialgesetzbuch unterfallenden Rechtsgebiete einheitlich zu bestimmen.
2. Asylbewerber/innen können angesichts der durchschnittlichen Dauer der Asylverfahren einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet begründen.
3. Dies gilt auch, wenn der Asylantrag rechtskräftig abgelehnt worden ist, die Ausländerbehörde aber eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erteilt hat.
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 4. Dezember 1986 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat der Klägerin auch die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Aufwendungen des Berufungsverfahrens zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Erziehungsgeld und besonders darüber, ob die Klägerin als Asylbewerberin ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat.

Die Klägerin beantragte am 1. Juli 1986 die Leistung von Erziehungsgeld für ihre 1986 geborene Tochter , die seit der Geburt im Haushalt der Mutter lebt und von dieser betreut und erzogen wird. Die am 22. Dezember 1953 geborene Klägerin ist polnische Staatsangehörige und hält sich seit dem 12. August 1985 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Unmittelbar nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik stellte sie einen Antrag auf Gewährung von Asyl als politisch Verfolgte. Ihr wurde der Aufenthalt daraufhin einstweilen gestattet.

Der Antrag auf Leistung von Erziehungsgeld wurde mit Bescheid vom 2. Juli 1986 abgelehnt, weil sich die Klägerin während des Asylverfahrens nur vorübergehend im Bundesgebiet aufhalte und dadurch weder ein Wohnsitz noch ein gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne des Gesetzes begründet werde. Der Widerspruch der Klägerin vom 21. Juli 1986 wurde mit Bescheid vom 7. August 1986 zurückgewiesen.

Auf die hiergegen beim Sozialgericht Kassel erhobene Klage hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide durch Urteil vom 4. Dezember 1986 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin Erziehungsgeld ab 9. Juni 1986 zu gewähren. Das Gericht hat zur Begründung angeführt, die Klägerin erfülle alle Leistungsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 Bundeserziehungsgeldgesetz – BErzGG – einschließlich des von dem Beklagten verneinten und zwischen den Beteiligten allein streitigen Tatbestandsmerkmale des gewöhnlichen Aufenthalts im Bundesgebiet. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Kindergeld, auf die sich der Beklagte stütze, sei auf das Erziehungsgeld nicht anwendbar, da ersteres nach der Rechtsprechung auf die langfristige Möglichkeit, die Kinder gemeinschaftsdienlich zu erziehen, angelegt sei, letzteres aber als kurzfristige Leistung allein dem erziehenden Elternteil und damit dem Kind zugute komme.

Gegen das dem Beklagten am 7. Januar 1987 zugestellte Urteil hat dieser durch Schriftsatz vom 14. Januar 1987 – beim Hessischen Landessozialgericht eingegangen am 21. Januar 1987 – Berufung eingelegt. Die Beteiligten wiederholen im wesentlichen ihre bisherigen Rechtsansichten.

Der Vertreter des Beklagten beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 4. Dezember 1986 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin vorgetragen, daß der Asylantrag der Klägerin zwischenzeitlich vor dem Verwaltungsgericht Kassel abgelehnt worden sei. Die Stadt Kassel – Ausländeramt – habe jedoch aufgrund eines Erlasses des Hessischen Ministers des Innern der Klägerin den weiteren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gestattet.

Im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind. Ausweislich der Verwaltungsakten (Bl. 14) wird der Klägerin vom Arbeitsamt K. Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz – BKGG – gezahlt (Az.: xxx).

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden sowie an sich statthaft (§ 13 BErzGG i.d.F. vom 6. Dez. 1985, §§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –). Ausschlußgründe liegen nicht vor.

Die Berufung ist jedoch sachlich nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Kassel hat im Ergebnis der Klägerin zu Recht den Anspruch auf Zahlung des Erziehungsgeldes zugesprochen.

Die Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Nr. 2–4 BErzGG sind unstreitig erfüllt. Die Klägerin hat auch als Asylbewerberin einen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 BErzGG. Wie sich aus I § 25 Sozialgesetzbuch – SGB – ergibt, ist hierfür die Definition des gewöhnlichen Aufenthaltes in I § 30 Abs. 3 SGB maßgeblich. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung ist zur Annahme eines gewöhnlichen Aufenthaltes dreierlei erforderlich. Erstens muß ein objektiver Umstand gegeben sein, nämlich ein tatsächliches Verhalten der Art, daß es den Mittelpunkt des Lebensbereiches über einen längeren Zeitraum hinweg begründet. Die ursprünglich aus dem Steuerrecht (§§ 13, 14 Abs. 1 Steueranpassungsgesetz vom 16. Okt. 1934 – BGBl. I S. 925) in das Sozialrecht eingeführte Mindestzeit von 6 Monaten (vgl. § 1 Abs. 1 BKGG vom 14. April 1964 i.d.F. des Art. 10 Nr. 3 des Finanzänderungsgesetzes 1967 vom 21. Dez. 1967 – BGBl. I S. 1259) ist durch I § 30 SGB nicht übernommen worden. Ein ständiger Aufenthalt kann somit auch kürzer als 6 Monate dauern (BSG, Urt. vom 31. Jan. 1980 – 8 b RKg 4/79SozR 5870 § 1 Nr. 6). Ist die Verweildauer erst kurz und in der Länge unbestimmt, genügt für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthaltes, daß ein hinreichend langes Verweilen in Betracht kommt. Maßgeblich sind dabei die Verhältnisse, wie sie sich im Beurteilungszeitraum bei vorausschauender Betrachtung mutmaßlich ergeben (BSG, Urt. vom 22. Mai 1984 – 10 RKg 3/83SozR 5870 § 2 Nr. 33). Dieser objektive Umstand als Voraussetzung der Annahme eines ständigen Aufenthaltes ist im Anschluß an das Steuerrecht gewählt worden, um Manipulationen zu verhindern. Es soll hierdurch ausgeschlossen werden, daß die Wahl eines Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthaltsortes nur erfolgt, um Sozialleistungen zu empfangen (BT Drucks. 7/3786, S. 5). Zu dem objektiven Umstand muß ein subjektiver Umstand hinzutreten, nämlich der Wille, auf längere Zeit im Bundesgebiet zu verweilen, der realisierbare Wille, sich an dem betreffenden Ort aufzuhalten (BSG, Urt. vom 10. Dez. 1985 – 10 RKg 14/85SozR 5870 § 2 Nr. 44). Schließlich muß als rechtliche Voraussetzung hinzukommen, daß das Verweilen im Bundesgebiet nicht rechtswidrig ist (BSG, Urt. vom 15. Juni 1982 – 10 RKg 26/86 – SozR 5870 § 1 Nr. 10).

Eine hinreichend lange Verweildauer der Klägerin liegt vor. Sie weilt seit anderthalb Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Die durchschnittliche Dauer der Asylverfahren ist so lang, daß allein vom tatsächlichen Ablauf her während dieser Zeit ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet werden kann (ständige Rechtsprechung, z.B. BSG, Urt. vom 28. Juni 1984 – 3 RK 27/83 – SozR 2200, § 20 Nr. 56; Urt. vom 23. Okt. 1984 – 8 RK 12/83 –). Die Klägerin hat seit ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland hier den Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse begründet und zu erkennen gegeben, daß sie hier nicht nur vorübergehend verweilt. Auf die Frage, ob nach einer etwaigen Ablehnung ihres Asylantrages ihr weiterer Aufenthalt im Bundesgebiet vorläufig genehmigt wird oder nicht, kam es zur Zeit der Entscheidung des Sozialgerichts nicht an. Da die Klägerin beabsichtigt, auf Dauer in der Bundesrepublik Deutschland zu verweilen, ist auch der subjektive Umstand gegeben. Die Klägerin hält sich auch rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland auf. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. vom 19. Mai 1981, – 1 C 168.79DVBl. 1981, S. 1097 ff.) sind Asylbewerber rechtlich nicht nur geduldet, sondern haben einen Anspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung, wenn nicht außergewöhnliche Umstände wie etwa der Verdacht auf kriminelle Tätigkeit oder sonstige, die Belange der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigende Gründe vorliegen, die in der verfassungsrechtlichen Güterabwägung von vergleichbarer Bedeutung sind wie das Grundrecht auf Asyl. Solche Gründe sind nicht ersichtlich. Damit ist nach Wortlaut und Zweck der Vorschrift des I § 30 Abs. 3 SGB ein dauernder Aufenthalt der Klägerin im Bundesgebiet gegeben.

Diesem Ergebnis widerspricht auch nicht die Rechtsprechung des Kindergeldesrats des Bundessozialgerichts, der regelmäßig die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthaltes vor der Entscheidung über einen Asylantrag ablehnt und damit die Vorschrift des I § 30 Abs. 3 SGB für das Kindergeldrecht anders auslegt, als es die anderen Senate für die anderen Sozialrechtsgebiete tun.

I § 30 SGB will die Frage des gewöhnlichen Aufenthaltes für alle Rechtsgebiete, die vom Recht des Sozialgesetzbuches erfaßt werden, einheitlich regeln (BSG, Urt. vom 28. Juni 1984 – 3 RK 27/83SozR 2200 § 205 Nr. 56). Abweichungen bedürfen nach I § 37 SGB der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung (so Hauck/Haines/Freischmidt, Sozialgesetzbuch I, Berlin 1980, § 30, Rdnr. 7, 9). Von diesem Grundsatz ist der Kindergeldsenat abgewichen, wenn er unter Rückgriff auf den Sinn des staatlich gewährten Kindergeldes davon ausgeht, daß der nur für die zeitlich ungewisse Dauer des Asylverfahrens rechtlich gesicherter Aufenthalt kein gewöhnlicher Aufenthalt i.S.d. § 1 Nr. 1 Bundeskindergeldgesetz sei (BSG, Urt. vom 15. Juni 1982 – 10 RKg 26/81 – SozR 5870 § 1 Nr. 10). Diesen Sinn hat er darin gesehen, denjenigen zu entlasten, der in dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein Kind aufzieht und dadurch einen Beitrag zur künftigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Existenz der Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland leistet um ihm die Möglichkeit zu geben, das Kind gemeinschaftsdienlich zu erziehen. Dabei kommt es für den vorliegenden Rechtsstreit nicht in erster Linie darauf an, daß diese Rechtsprechung Kritik gefunden hat. Entscheidend ist vielmehr, daß die Gesichtspunkte, die der Kindergeldsenat für die besonderen Anforderungen des gewöhnlichen Aufenthaltes im Kindergeldrecht aufgestellt hat, für das Erziehungsgeld nicht zutreffen.

Das Erziehungsgeld ist eine kurzfristige staatliche Leistung von 10 bzw. 12 Monaten. Das Kindergeld wird regelmäßig 16 Jahre, in Ausnahmefällen bis zu 27 Jahren und in speziellen Fällen selbst darüber hinaus gewährt. Mögen beim Kindergeld neben der an den Gedanken der Individualgerechtigkeit orientierten teilweisen Entlastung der Unterhaltsverpflichteten von den mit dem Unterhalt eines Kindes verbundenen Mehraufwendungen die vom Bundessozialgericht angeführten gesellschaftspolitischen Gründe für die Gewährung eine Rolle spielen, so entfallen diese Gründe bei der Gewährung von Erziehungsgeld schon wegen der Kürze des Leistungszeitraumes. Das Erziehungsgeld hat den Zweck, es einem Elternteil zu ermöglichen, sich in der für die ganze spätere Entwicklung eines Kindes entscheidenden ersten Lebensphase vorrangig dessen Betreuung und Erziehung zu widmen (vgl. BT-Drucks. 10/3792, v. 07.09.85; Zmarzlik/Zipperer/Viethen, Mutterschutzgesetz, 5. Aufl., Köln 1986, § 1 BErzGG, Rdnr. 2). Das Erziehungsgeld soll also kurzfristig dem Schutz der besonderen individuellen Situation dienen, in der Kind und Elternteil im ersten Lebensjahr stehen.

Diese von den Zwecken des Kindergeldes, die die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts angenommen hat, abweichenden Zwecke rechtfertigen es, der allgemeinen Auslegung der Vorschrift des I § 30 Abs. 3 SGB zu folgen und die durchschnittliche Länge der Asylverfahren und die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes der Asylbewerber im Bundesgebiet ausreichen zu lassen, einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik zu begründen.

Diese bereits vom Sozialgericht im wesentlichen angeführten Gründe tragen dessen Entscheidung. Diese war auch nicht deswegen abzuändern, weil das Asylverfahren in der Zwischenzeit abgeschlossen und die Klägerin eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis erhalten hat. Auch aufgrund dieser Aufenthaltserlaubnis, die erfahrungsgemäß regelmäßig verlängert wird, erfüllt die Klägerin alle Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 BErzGG.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, weil die Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung ist (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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