L 1 Kr 1169/89

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 25 Kr 1488/89
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 Kr 1169/89
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Für die Beantwortung der Frage, ob bei einem Studierenden familiäre oder persönliche Gründe für einen späten Studienbeginn vorliegen, ist auf den gesamten Zeitraum von der Erlangung der Hochschulreife bis zum Beginn des Studiums abzustellen.
2. Eine Befreiung von der Altersgrenze ist dann nicht zulässig, wenn der Studierende nur unmittelbar nach Erlangung der Hochschulreife daran gehindert war, ein Studium zu beginnen.
3. Eine nach Erlangung der Hochschulreife begonnene Ausbildung und der nach fast zehnjähriger Berufstätigkeit erfolgte Verzicht auf gesicherte berufliche Existenz ist nicht gleichzustellen mit der Situation eines Studierenden des Zweiten Bildungsweges, der die Hochschulreife erst erwerben will.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 14. September 1989 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über das Fortbestehen der Mitgliedschaft in der studentischen Krankenversicherung.

Die 1957 geborene Klägerin absolvierte nach Erlangung der Hochschulreife bis März 1979 eine Ausbildung zur Industriekauffrau und war im Anschluß hieran von April 1979 bis Juni 1981 bei einem Makler für Immobilien in der Schweiz, von Juli 1981 bis September 1982 bei einem Sachverständigen für Grundstücke, Mieten und Pachten, von Oktober 1982 bis Juni 1985 bei einer Versicherung und von Juli 1985 bis September 1988 bei der Universitätsklinik F. Abteilung für Medizinische Psychologie, berufstätig. Vom 1. Oktober 1988 bis zum 30. September 1989 studierte sie Architektur an der Technischen Hochschule in D. Seit dem 1. Oktober 1989 ist die Klägerin als Studentin im Fachbereich Psychologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität F. immatrikuliert und war als solche bei der Beklagten in der Krankenversicherung der Studenten versichert. Der Ehemann der Klägerin ist ihren Angaben zufolge privat krankenversichert.

Durch Bescheid vom 12. Dezember 1988 stellte die Beklagte fest, daß die Klägerin infolge der durch das Gesundheits-Reformgesetz (GRG) eingetretenen Neuregelung nicht mehr die Voraussetzungen für eine Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Studenten erfülle, weil sie das Studium erst nach langjähriger Erwerbstätigkeit aufgenommen und das dreißigste Lebensjahr vollendet habe. Die Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Studenten ende deshalb mit Ablauf des 28. Februar 1989 und könne als freiwillige Mitgliedschaft fortgesetzt werden.

Der hiergegen am 22. Dezember 1988 eingelegte Widerspruch blieb in der Sache erfolglos. Durch Widerspruchsbescheid vom 17. April 1989 wurde die Dauer der Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Studenten zwar bis zum 31. März 1989 verlängert (Überleitungsvorschrift Artikel 56 Abs. 6 GRG), der Widerspruch jedoch im übrigen zurückgewiesen. Zur Begründung führte die Beklagte u.a. aus, daß mit der gesetzlichen Neuregelung die Versicherungspflicht der Studenten auf ein Höchstalter und auf eine Höchstdauer der Fachstudienzeit habe begrenzt werden sollen. Sinn und Zweck dieser Regelung bestehe darin, daß in den Genuß der kostengünstigen Mitgliedschaft nur jene Studenten kommen sollten, die unmittelbar nach Erlangung der Hochschulreife mit dem Studium begonnen hätten. Die Klägerin falle auch nicht unter eine gesetzliche Ausnahmeregelung.

Am 17. Mai 1989 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen, daß es für sie nach dem Abitur seinerzeit nicht möglich gewesen sei, gegen den Willen ihrer Eltern ein Studium zu beginnen. Die Ausbildung zur Industriekauffrau habe sie absolviert, weil dies ausdrücklicher Wunsch ihrer Eltern gewesen sei. Unter Hinweis auf die fünf innegehabten Arbeitsstellen in zehn Berufsjahren hat die Klägerin weiter ausgeführt, daß sie sich in den einzelnen Arbeitsstellen anfangs immer recht wohl gefühlt habe. Die meistens nach einem halben Jahr einsetzende und dann immer wieder stärker werdende Unzufriedenheit habe sie auf die permanente Unterforderung zurückgeführt, der sie durch einen Wechsel zu begegnen versucht habe. Erst durch die Tätigkeit in der Abteilung für Medizinische Psychologie an der Universitätsklinik in habe sie begriffen, daß die Ursachen der immer stärker werdenden Unzufriedenheit nicht mit den individuellen Gegebenheiten des jeweiligen Arbeitsplatzes zu begründen gewesen seien, sondern mit der mangelnden geistigen Herausforderung. Daraufhin sei ihr dann langsam klar geworden, daß sie – um auf Dauer psychisch und physisch gesund zu bleiben – ihre berufliche Situation habe verändern müssen und daß als Veränderungsmöglichkeit nur ein Studium habe in Frage kommen können.

Durch Urteil vom 14. September 1989 hat das Sozialgericht Frankfurt am Main die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, "bei der Klägerin auf Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Studenten über den 31. März 1989 hinaus bis zum Abschluß des 14. Fachsemesters zu erkennen sowie die als freiwilliges Mitglied von ihr zu viel gezahlten Beiträge zurückzuerstatten.” In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, daß bei der Klägerin ein persönlicher Grund für die Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Studenten vorliege, der die Überschreitung der im Gesetz festgelegten Altersgrenze von 30 Jahren rechtfertige. Die gesetzliche Neuregelung erfasse als Ausnahmetatbestand u.a. den Erwerb der Zugangsvoraussetzungen in einer Ausbildungsstätte des Zweiten Bildungsweges. Hiervon seien Personen erfaßt mit einem Werdegang "Lehre, Abitur, Studium”. Der vorliegende Fall mit "Abitur, Lehre, Studium” sei nahezu identisch. Die Aufnahme des Studiums nach dem 30. Lebensjahr stelle keinen Mißbrauch dar. Vielmehr sei hier – ebenso wie bei Absolvierung des Zweiten Bildungsweges – ein persönliches Bedürfnis gegeben. Eine Ungleichbehandlung dieser beiden Fälle sei unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zu rechtfertigen.

Gegen dieses der Beklagten gegen Empfangsbekenntnis am 6. Oktober 1989 zugestellte Urteil richtet sich die mit Schriftsatz vom 20. Oktober 1989 – eingegangen bei dem Hessischen Landessozialgericht am 24. Oktober 1989 – eingelegte Berufung. Die Beklagte ist der Auffassung, daß die Klägerin nicht zu dem Personenkreis gehöre, auf den die gesetzliche Ausnahmeregelung für Fortbestehen der Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Studenten Anwendung finde. Die Änderung des Berufszieles, die zur Aufnahme des Studiums geführt habe, sei nicht in der Art der Ausbildung, sondern in der Fehleinschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit zum Zeitpunkt des Eintritts in das Berufsleben zu sehen. Dies rechtfertige nicht die Überschreitung der gesetzlich festgelegten Altersgrenze von 30 Jahren.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 14. September 1989 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Hinsichtlich des Vorbringens der Beteiligten im übrigen wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt, sowie an sich statthaft (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist auch sachlich begründet.

Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main konnte nicht bestätigt werden und war aufzuheben. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Fortbestehen der Mitgliedschaft in der studentischen Krankenversicherung über den 31. März 1989 hinaus. Eine Befreiung von der gesetzlichen Altersgrenze (30 Jahre) ist nicht zulässig.

Nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 – erster Halbsatz – Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) sind eingeschriebene Studenten an staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschulen in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungspflichtig bis zum Abschluß des 14. Fachsemesters, längstens bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres. Bei Beginn des Studiums am 1. Oktober 1988 hatte die Klägerin diese Altersgrenze bereits überschritten. Die Beklagte hat daher zutreffend die zu jenem Zeitpunkt nach § 165 Abs. 1 Nr. 5 Reichsversicherungsordnung (RVO) eingetretene Mitgliedschaft in Anwendung der Überleitungsbestimmung des Artikel 56 Abs. 6 GRG bis zum 31. März 1989 fortbestehen lassen. Eine weitergehende Verlängerung der Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Studenten ist nicht möglich.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts und der Klägerin liegen nicht die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung im zweiten Halbsatz des § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V vor. Danach sind Studenten nach Abschluß des 14. Fachsemesters oder nach Vollendung des 30. Lebensjahres nur versicherungspflichtig, wenn die Art der Ausbildung oder familiäre sowie persönliche Gründe, insbesondere der Erwerb der Zugangsvoraussetzungen in einer Ausbildungsstätte des Zweiten Bildungsweges, die Überschreitung der Altersgrenze oder eine längere Fachstudienzeit rechtfertigen. Bei der Klägerin lagen indessen weder persönliche noch familiäre Gründe vor, nach denen die Anwendung dieser Ausnahmeregelung in Betracht käme. Dies ergibt sich insbesondere aus dem Vorbringen der Klägerin im erstinstanzlichen Klageverfahren. Die Klägerin hat vorgetragen, daß es ihr seinerzeit – u.a. wegen fehlender finanzieller Unterstützung – nicht möglich gewesen sei, gegen den erklärten Willen ihrer Eltern ein Studium zu beginnen. Dies mag durchaus ein in den persönlichen bzw. familiären Lebensverhältnissen liegender Umstand gewesen sein, der die Klägerin nach dem Abitur zunächst an der Aufnahme eines Studiums gehindert hat. Keinesfalls aber liegt darin ein Hinderungsgrund, der es ausschloß, daß die Klägerin vom Zeitpunkt der Erlangung des Abiturs bis zum Erreichen der Altersgrenze ein ihrer Neigung und Eignung entsprechendes Studium hätte beginnen können. Insoweit kann nicht unberücksichtigt bleiben, daß hier immerhin ein Zeitraum einer beruflichen Tätigkeit von fast zehn Jahren seit Erlangung der Hochschulreife vorlag. Nach dem eigenen Vorbringen hat ihr die kaufmännische Ausbildung "wider Erwarten große Freude ob ihrer Vielfältigkeit und guten Erfolge” bereitet. Gleiches gilt für die weiteren nachfolgenden Tätigkeiten, die die Klägerin dann von April 1979 bis Juni 1985 bei verschiedenen Arbeitgebern ausgeübt hat. Ein Wandel ergab sich dann erst bei der Tätigkeit in der Abteilung für Medizinische Psychologie an der Universitätsklinik F. Dort wurde der Klägerin bewußt, "daß sie – um auf Dauer psychisch und physisch gesund zu bleiben – ihre berufliche Situation verändern mußte und daß als Veränderungsmöglichkeit nur ein Studium in Frage kam.” Familiäre oder persönliche Gründe, die für die Anwendung der Ausnahmeregelung des § 5 Abs. 1 Nr. 9 – zweiter Halbsatz – SGB V in Betracht kommen könnten, scheiden damit ersichtlich aus. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist es nicht zulässig, den freiwilligen Verzicht der Klägerin auf eine gesicherte berufliche Existenz mit der Situation eines Studierenden des Zweiten Bildungsweges, der – anders als die Klägerin – erst hiermit die Zugangsvoraussetzungen zum Studium an einer Hochschule erlangt, auf eine Stufe zu stellen.

Die gesetzliche Regelung mit einer Begrenzung auf ein Lebensalter von 30 Jahren begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wie sie das Sozialgericht in seinem angefochtenen Urteil zu Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz angedeutet hat. Hierzu ist zu verweisen auf die Ausnahmeregelung im 2. Halbsatz des § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V, die bereits eine Ungleichbehandlung ohne sachlichen Grund ausschließt. Soweit die Vorschrift abstellt auf ein bestimmtes Lebensalter, ergibt sich ein sachlicher Grund schon im Hinblick darauf, daß die Versicherungspflicht der Studenten auf eine Höchstdauer der Fachstudienzeit und auf ein Höchstalter begrenzt worden ist, um Mißbräuche zu vermeiden. Damit soll auch der Tendenz, das Hochschulstudium zu verlängern, entgegengewirkt werden (vgl. BR-Drucks. 200/88, S. 159). Eine inhaltlich gleiche Regelung findet sich auch in anderen sozialen Leistungsgesetzen. Nach § 10 Abs. 3 Bundesausbildungsförderungsgesetz – BAföG – (in der Fassung der Bekanntmachung vom 6. Juni 1983 – BGBl. I S. 1983) wird Ausbildungsförderung nicht geleistet, wenn der Auszubildende bei Beginn des Ausbildungsabschnitts, für den er Ausbildungsförderung beantragt, das 30. Lebensjahr vollendet hat. Eine Ausnahme hiervon gilt, wenn der Auszubildende aus persönlichen oder familiären Gründen, insbesondere der Erziehung von Kindern bis zu zehn Jahren, gehindert war, den Ausbildungsabschnitt rechtzeitig zu beginnen (§ 10 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BAföG). Auch bei diesen Anspruchsvoraussetzungen ist bei der Frage einer Ausnahme von der vorgesehenen Lebensalterbegrenzung nicht nur auf den Zeitpunkt nach Erlangung des Abiturs, sondern auf den gesamten Zeitraum bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres abzustellen (vgl. dazu BVerwG, in: NVwZ – RR 1989, S. 560; vgl. auch BVerwG, in: NVwZ 1986 S. 216, 218). Die Gewährung von Ausbildungsförderung ist in solchen Fällen deshalb nicht schon dann gerechtfertigt, wenn der Auszubildende nur in den letzten ein oder zwei Jahren vor dem Erreichen der Altersgrenze an der Ausbildungsaufnahme gehindert war. Erforderlich ist vielmehr weiter, daß es ihm auch in der davor liegenden Zeit nicht möglich und zumutbar war, die Ausbildung zu beginnen, die er nunmehr (nach diesem Zeitablauf) gefördert haben möchte (vgl. BVerw, in NVwZ-RR 1989, S. 560 m.w.N.). So liegt der Fall auch hier. Durchgreifende Gründe dafür, daß die Klägerin in der vor Aufnahme des Studiums liegenden Zeit durchgehend gehindert war, ein Studium zu beginnen, sind nicht ersichtlich.

Da das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main bereits dem Grunde nach aufzuheben war, bedurfte es keiner weiteren Prüfung der im Tenor angeordneten – und ausschließlich nur unter den engen Voraussetzungen des § 26 Abs. 2 Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften – (SGB IV) zu prüfenden – Rückzahlung zu viel gezahlter Beiträge.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Da der Senat mit seiner Entscheidung im Einklang steht mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu einer vergleichbaren Situation im Recht der Ausbildungsförderung nach dem BAföG, ergab sich kein Grund zur Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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