L 1 P 1153/95 A

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 2 P 467/95 A
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 P 1153/95 A
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 11. September 1995 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

I.

Die Beteiligten streiten über die Zulassung zur pflegerischen Versorgung von Versicherten.

Die Antragstellerin ist Krankenschwester und betreibt den privaten Pflegedienst "S. R.”. Ab 1. April 1990 erbrachte sie für die ehemalige AOK Frankfurt am Main (AOK) Leistungen der häuslichen Krankenpflege. Das Vertragsverhältnis endete durch fristlose Kündigung der AOK wegen Falschabrechnungen im Mai 1992.

Den erneut mit der Antragstellerin zum 1. November 1992 zunächst auf Probe für ein Jahr und unter Widerrufsvorbehalt geschlossenen Versorgungsvertrag kündigte die AOK wiederum fristlos mit Schreiben vom 19. April 1994 zum 31. Mai 1994, da die Antragstellerin entgegen den vertraglichen Vereinbarungen über einen längeren Zeitraum eine nichtqualifizierte Mitarbeiterin zur Pflege von Versicherten eingesetzt habe. Auf die hiergegen am 21. Juli 1994 erhobene Klage hat das Sozialgericht Wiesbaden durch Urteil vom 11. September 1995 (der Antragstellerin zugestellt am 7. November 1995) unter Klageabweisung im übrigen festgestellt, "daß der Versorgungsvertrag zwischen den Beteiligten nach § 132 SGB V mit Wirkung ab 1. November 1992 durch die Kündigung der Beklagten zum 31. Dezember 1994 beendet worden ist” (S-2/Kr-392/95).

Am 24. Januar 1995 beantragte die Antragstellerin bei den Antragsgegnern "Bestandsschutz” für die Erbringung von Pflegeleistungen zu Lasten der gesetzlichen Pflegekassen ab 1. April 1995.

Nachdem der Antragstellerin mündlich mitgeteilt worden war, daß eine positive Entscheidung nicht ergehen werde und innerhalb der von der Antragstellerin im Schreiben vom 10. Mai 1995 gesetzten Frist von sieben Tagen eine schriftliche Bestätigung der Antragsgegner nicht vorlag, hat die Antragstellerin am 8. Juni 1995 beim Sozialgericht Wiesbaden beantragt, sie im Wege der einstweiligen Anordnung unter Berücksichtigung der gesetzlichen Bestandsschutzregelungen zur pflegerischen Versorgung der Versicherten zuzulassen. Die Kündigungen der Versorgungsverträge mit der AOK und dem Verband der Angestellten Krankenkassen seien unberechtigt gewesen. Sie biete Gewähr für eine leistungsfähige und wirtschaftliche pflegerische Versorgung. Auf die Vergütung der bereits seit 1. April 1995 erbrachten Sachleistungen sei sie angewiesen, da andernfalls das Unternehmen finanziell so ruiniert werde, daß auch bei einem Obsiegen im Nachhinein eine Fortführung der pflegerischen Tätigkeit ausgeschlossen sei.

Mit Bescheid (ohne Rechtsmittelbelehrung) vom 28. Juni 1995 lehnten die Antragsgegner im Einvernehmen mit dem zuständigen Träger der Sozialhilfe die Annahme einer Vertragsfiktion (Bestandsschutzregelung des § 73 Abs. 3 SGB XI) ab. Hiergegen legte die Antragstellerin am 5. Juli 1995 Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden worden ist.

Mit Beschluss vom 11. September 1995 hat das Sozialgericht Wiesbaden den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung abgelehnt und in den Gründen ausgeführt, daß einstweiliger Rechtsschutz nur dann zu gewähren sei, wenn sonst eine nicht zu vermeidende existenzbedrohende Situation des die Pflegeleistung anbietenden Trägers drohe. Die Antragstellerin habe aber weder substantiiert dargetan noch glaubhaft gemacht, daß die Existenz der Pflegeeinrichtung "S. R.” ohne Abwarten einer Entscheidung in dem bisher noch nicht anhängigen Hauptsacheverfahren konkret gefährdet sei. Die Pflegeeinrichtung erbringe bisher überwiegend Leistungen außerhalb des SGB XI. Nach ihrem eigenen Vortrag werde auf längere Sicht der Anteil der Patienten, für die Pflegeleistungen erbracht werden, etwa 33 % betragen. Demgemäß behalte die Antragstellerin zwei Drittel ihrer Patienten unabhängig vom Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache. Der Antragstellerin sei auch zuzumuten, den gegenüber den Vorjahren derzeit hohen Personalbestand von vier Angestellten und zwei Aushilfen gegebenenfalls zu verringern, denn allein wirtschaftliche Gründe reichten als Anordnungsgrund nicht aus. Der Antrag sei auch unzulässig, da im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht die Hauptsache vorweggenommen werden könne. Schließlich sei der Antrag nach summarischer Prüfung auch unbegründet, da die Erfolgsaussichten in der Hauptsache gering seien. Die Antragstellerin habe selbst eingeräumt, über einen längeren Zeitraum Pflegeleistungen durch unqualifiziertes Personal erbracht und Mitarbeiter nicht ordnungsgemäß angegeben zu haben. Ferner habe sie vorübergehend eine weitere Pflegeeinrichtung in Offenbach betrieben, obwohl nach den vertraglichen Vereinbarungen Nebenbeschäftigungen nicht zulässig gewesen seien. Angesichts dessen könne eine überwiegende Erfolgsaussicht des auf Bestandsschutz gerichteten Hauptsacheverfahrens nicht bejaht werden.

Gegen diesen den Prozeßbevollmächtigten der Antragstellerin mit Empfangsbekenntnis am 6. Oktober 1995 zugestellten Beschluss richtet sich die am 24. Oktober 1995 eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 26. Oktober 1995).

Seit Einführung der Pflegeversicherung habe sich die Struktur der Patienten bei der Antragstellerin geändert. Inzwischen würden bei über 50 % der Patienten Leistungen nach dem SGB V und dem SGB XI erforderlich. Wenn aber ein Versorgungsvertrag nach dem SGB XI fehle, entfielen zwangsläufig auch die Leistungen nach dem SGB V, da kein Patient zwei Pflegedienste im Haus haben wolle. Diese Auswirkung mache sich in der Umsatzentwicklung drastisch bemerkbar. Während in den vergangenen Monaten der Umsatz etwa 50.000,00 DM monatlich betragen habe, sei er im Oktober auf 40.000,00 DM abgesunken und werde wohl bis Ende Dezember auf 20.000,00 DM monatlich, die für Personalkosten aufgewandt werden müßten, herabsinken. Es sei ihr unzumutbar, nun Monate oder gar Jahre abzuwarten, bis das Hauptsacheverfahren entschieden sei. Dann hätten sich nicht nur die Patienten zu anderen Unternehmen hin orientiert, sondern es fehle auch an dem erforderlichen Fachpersonal, dem notwendigerweise gekündigt werden müsse.

Die Antragstellerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 11. September 1995 aufzuheben und die Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Antragstellerin gemäß § 73 Abs. 3 SGB XI zur pflegerischen Versorgung der Versicherten zuzulassen.

Die Antragsgegner haben sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.

Hinsichtlich des Vorbringens der Beteiligten im übrigen wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Akten S-2/Kr-392/95 des Sozialgerichts Wiesbaden und Fotokopien der Verwaltungsakte der Antragsgegner verwiesen.

Entscheidungsgründe:

II.

Die Beschwerde ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Beschwerde ist aber sachlich nicht begründet. Zwar hat das Sozialgericht Wiesbaden über den Antrag als örtlich unzuständiges Sozialgericht entschieden, denn die Antragstellerin hat ihren Wohn- und Geschäftssitz in Frankfurt am Main, so daß das dortige Sozialgericht gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG über das Begehren der Antragstellerin hätte entscheiden müssen. Eine ausschließliche Sonderzuständigkeit für Angelegenheiten aus der sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) für das beim Sitz der Landesregierung befindliche Gericht gibt es – anders als für die Fälle der §§ 57 Abs. 4 SGG, 57 a SGG i.V.m. § 5 Abs. 2 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum SGG – nicht. Ungeachtet dieses im Beschwerdeverfahren nicht mehr zu korrigierenden Fehlers hat das Sozialgericht Wiesbaden in der Sache zu Recht entschieden, daß die Voraussetzungen für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht vorliegen.

Auszugehen ist davon, daß es im sozialgerichtlichen Verfahrensrecht keine Vorschriften gibt, die einstweiligen Rechtsschutz für Fälle der vorliegenden Art ermöglichen. Erst die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 1977 (BVerfGE 46, 166 ff) bewirkte, daß über die im Sozialgerichtsgesetz enthaltenen Einzelregelungen hinaus die Grundsätze des einstweiligen Rechtsschutzes im Hinblick auf den in Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz garantierten Anspruch auf effektiven Rechtsschutz auch und gerade im sozialgerichtlichen Verfahren Geltung beanspruchen müssen. Dies gilt aber nur, soweit ohne die Eilentscheidung schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfGE, a.a.O., 184).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze besteht vorliegend weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund. Hinsichtlich der Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen im Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden. Ergänzend wird darauf hingewiesen, daß darüber hinaus noch nicht feststeht, ob vorliegend überhaupt § 73 Abs. 3 SGB XI zugunsten der Antragstellerin anwendbar ist. Dies wird insbesondere von der rechtskräftigen Feststellung der Wirksamkeit der fristlosen Kündigung des Versorgungsvertrages mit der AOK (S-2/Kr-392/95) abhängen.

Ungeachtet der Erfolgsaussichten des Begehrens in der Hauptsache ist für die Entscheidung des Senats aber maßgebend, daß auch durch die Ausführungen der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren kein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden ist. Die Antragstellerin hat zwar darauf hingewiesen, daß sich seit Inkrafttreten des SGB XI die Struktur ihrer Patienten geändert habe und "über 50 % der Patienten Leistungen nach dem SGB V und dem SGB XI” in Anspruch nähmen. Abgesehen davon, daß dieser Vortrag von den Feststellungen im Beschluss des Sozialgerichts abweicht, hat die Antragstellerin auch für diese Behauptung keine beweiskräftigen Unterlagen vorgelegt. Dies gilt ebenso für den behaupteten Umsatzrückgang, der nach dem eigenen Vortrag erstmals im Oktober 1995 von 50.000,00 DM auf 40.000,00 DM herabgesunken ist. Schwankungen im Umsatz von Selbständigen sind nichts besonderes und können auf einer Vielzahl von Ursachen beruhen. Für den behaupteten zwingenden Zusammenhang mit der Einführung der Pflegeversicherung und der fehlenden Zulassung zur Versorgung von Versicherten, ist hingegen nichts vorgetragen worden. Dies gilt ferner für die nicht weiter begründete Annahme, daß der Umsatz bis Dezember 1995 auf monatlich 20.000,00 DM herabsinken werde. Gerade aus diesem Vorbringen wird deutlich, daß der im Juni vor Ablauf der gesetzlichen Prüfungsfrist für die Antragsgegner (30. Juni 1995) gestellte Eilantrag offenbar nicht aus einer im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gegebenen existenzbedrohenden Notlage heraus gestellt worden ist, sondern darauf abzielte, eine Entscheidung der Antragsgegner zu beschleunigen. Das einstweilige Rechtsschutzverfahren ist aber kein Instrument zur Vorwegnahme bzw. Beschleunigung der Entscheidung in der Hauptsache, die noch nicht anhängig ist. Vielmehr dient sie in den engen Grenzen, die die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorgegeben hat, der Abwendung unzumutbarer Härten im Einzelfall, die feststehen müssen. Objektiv nachprüfbare Anhaltspunkte hierfür liegen dem Senat aber nicht vor. Die Antragstellerin muß – ebenso wie andere Antragsteller – den Abschluß des Verwaltungsverfahrens und gegebenenfalls Klageverfahrens abwarten und ihre unternehmerischen Entscheidungen darauf einrichten. In diesem Zusammenhang hat das Sozialgericht zu Recht darauf hingewiesen, daß die aktuelle Zahl der Mitarbeiter der Antragstellerin erheblich über den Vorjahren liegt. Soweit es im Hinblick auf das Inkrafttreten des SGB XI und eine unterstellte Vertragsbeziehung zu den Antragsgegnern zu Neueinstellungen gekommen sein sollte, ist das hierin liegende wirtschaftliche Risiko allein von der Antragstellerin zu tragen. Die Antragsgegner sind insoweit nicht Sachwalter der wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin. Sie sind vielmehr im Interesse der schutzwürdigen Interessen der zu pflegenden Versicherten gehalten, die an der Durchführung von Pflegeleistungen beteiligten Pflegeeinrichtungen sorgfältig zu prüfen. Insgesamt mußte deshalb die Beschwerde erfolglos bleiben und zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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