S 10 AS 34/07 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 10 AS 34/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1.Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin über den Monat Januar 2007 hinaus Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von 191,- EUR monatlich zu zahlen bis zu einer Entscheidung des Job Centers Essen über den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.
2.Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt J. W., A., 4xxx E. bewilligt.

Gründe:

I.

Im Streit ist die Frage, ob die Antragstellerin trotz Wechsels der örtlichen Zuständigkeit gegenüber dem Antragsgegner als bisher zuständiger Behörde einen Anspruch auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen hat.

Der am 17.06.1986 geborenen und bis Anfang 2007 in Kleve wohnhaften Antragstellerin wurden mit Bescheid des Antragsgegners vom 15.12.2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 01.12.2006 bis zum 31.05.2007 in Höhe von 348,25 EUR monatlich bewilligt. Dabei wurde die Regelleistung in Höhe von 345,- EUR und berücksichtigungsfähige Unterkunftskosten in Höhe von 157,25 EUR anerkannt. Als Einkommen wurde das monatliche Kindergeld in Höhe von 154,- EUR berücksichtigt, so dass sich ein monatlicher Bedarf in Höhe von 348,25 EUR ergab (502,25 EUR Bedarf abzüglich 154,- EUR Einkommen).

Aufgrund einer telefonischen Auskunft der Stiefschwester der Antragstellerin vom 17.01.2007, wonach sie die Antragstellerin bereits 2 bis 3 Wochen lang nicht mehr gesehen habe und nicht wisse, ob sie noch in Kleve sei, stellte der Antragsgegner die Zahlung an die Antragstellerin ein. Am 13.02.2007 sprach die Antragstellerin bei dem Antragsgegner persönlich vor und erklärte, sie habe sich im Monat Februar 2007 nicht mehr in Kleve aufgehalten und wohne vorübergehend bei einer Freundin in der H. in E ... Gleichzeitig teilte sie mit, sie werde sich am gleichen Tag ummelden. Daraufhin wurde der Antragstellerin von dem Antragsgegner mit Schreiben vom 13.02.2007 mitgeteilt, dass einem Umzug nach Essen zugestimmt würde, allerdings keine Umzugskosten gewährt würden.

Mit einem am 16.02.2007 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz hat die Antragstellerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, in dessen Rahmen sie die Gewährung von Grundsicherungsleistungen über den 31.01.2007 hinaus begehrt.

Am 20.02.2007 ist ein Bescheid des Antragsgegners ergangen, mit dem die bisher gewährten Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende mit Ablauf des 31.01. 2007 eingestellt worden sind und der Bescheid hinsichtlich der Leistungsgewährung für den Zeitraum vom 01.02.2007 bis zum 31.05.2007 aufgehoben worden ist. Zur Begründung wurde in dem Bescheid ausgeführt, dass die Antragstellerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Bezirk des Antragsgegners habe, da sie sich seit Mitte Januar 2007 in Essen aufhalte.

Die Antragstellerin hat nach ihren Angaben beim Job Center Essen die Gewährung von Grundsicherungsleistungen beantragt. Sie ist der Auffassung, der Antragsgegner sei solange zur Weitergewährung von Leistungen zur Grundsicherung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige Leistungsträger über ihren Leistungsantrag entschieden habe.

Die Antragstellerin beantragt,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung unter Be- rücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten, ihr über den Monat Januar 2007 hinaus Leistungen zum Lebensunterhalt zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzuweisen.

Er ist der Auffassung, er sei nach § 36 SGB II für die Gewährung von Grundsicherungsleistungen nicht mehr zuständig, da sich die Antragstellerin bereits im Monat Februar 2007 nicht mehr in Kleve, sondern bei einer in Essen lebenden Freundin aufgehalten habe. Damit sei für die Leistung ab dem Monat Februar 2007 die Agentur für Arbeit in Essen zuständig geworden.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist das Bestehen eines Anordnungsanspruches, d.h. des materiell-rechtlichen Leistungsanspruches, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. der Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile und die damit verbundene Unzumutbarkeit, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern dass eine Wechselwirkung derart besteht, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhanges ein bewegliches System (vgl. Meyer-Ladewig Kommentar zum SGG § 86 b Rn 27 u. 29 mwN). Ist die Klage bzw. der Widerspruch in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage bzw. der Widerspruch in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.05. 2005, Az.: 1 BvR 569/05).

Ausgehend von diesen Grundsätzen war dem Antrag der Antragstellerin zu entsprechen und vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von 191,- EUR monatlich zuzusprechen. In diesem Umfang hat die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Die Antragstellerin hat gegenüber dem Antragsgegner einen Leistungsanspruch über den 31.01.2007 hinaus nach § 2 Abs. 3 Satz 1 SGB X. Der Anspruch der Antragstellerin ist offensichtlich begründet, sodass ein Anordnungsanspruch gegeben ist. Der Anordnungsgrund ergibt sich aus der Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile und der damit verbundenen Unzumutbarkeit, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.

Der Antragsgegner ist nach § 36 Satz 2 SGB II für die Zeit nach dem 31.01.2007 zwar nicht mehr der örtlich zuständige Leistungsträger, da die Antragstellerin im Monat Februar 2007 ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Bezirk des Antragsgegners hatte. Auf diesem Hintergrund war der Antragsgegner berechtigt, den Bewilligungsbescheid vom 15.12.2006 wegen Änderung der Verhältnisse nach § 48 SGB X zumindest für die Zukunft aufzuheben, da die Antragstellerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Kleve aufgegeben hatte und die örtliche Zuständigkeit des Antragsgegners für die Leistungsgewährung ab Februar 2007 nicht mehr gegeben war.

Gleichwohl hatte die Antragstellerin nach § 2 Abs. 3 Satz 1 SGB X vorerst einen Weitergewährungsanspruch gegenüber dem Antragsgegner, obwohl dieser nicht mehr der zuständige Leistungsträger ist. Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 SGB X muss im Falle des Wechsels der örtlichen Zuständigkeit die bisher zuständige Behörde die Leistungen noch so lange erbringen, bis sie von der nunmehr zuständigen Behörde fortgesetzt werden. § 2 Abs. 3 Satz 1 SGB X enthält eine eigenständige materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage, in dem die Vorschrift einen Leistungsanspruch gegenüber dem bisherigen, nunmehr unzuständig gewordenen Leistungsträger begründet (Hauck/ Noftz Kommentar zum SGB II § 2 Rn 15; von Wulffen-Engelmann Kommentar zum SGB X § 2 Rn 13; Brackmann Bd I 2 Seite 231 d II). Sinn und Zweck dieser Regelung ist es, eine typischerweise bei einem Zuständigkeitswechsel eintretende Unterb rechung der Leistung an den Leistungsempfänger zu verhindern und einen nahtlosen Übergang der Leistungsgewährung zu erreichen (vgl. Gesetzesbegründung in BT-Drucksache 8/2034 zu Artikel I § 2; Hauck-Noftz § 2 Rn 14). Da § 36 SGB II für den Fall des Wechsels der örtlichen Zuständigkeit keine abweichende Regelung enthält, ist die allgemeine Regelung des § 2 Abs. 3 SGB X einschlägig (Mergler/Zink Kommentar zum SGB II § 36 Rn 14).

Ein Anspruch der Antragstellerin ergibt sich allerdings nur in dem Umfang, in dem die Leistungsgewährung rechtmäßig ist und die bisher zuständige Behörde mit Rechtsgrund leistet. Auf diesen Umfang ist auch der in § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X vorgesehene Erstattungsanspruch des Antragsgegners gegen den nach den örtlichen Zuständigkeitsregeln zuständigen Leistungsträger beschränkt (vgl. Brackmann Bd I 2 Seite 231 d III; Hauck/Noftz § 2 Rn 16). Da die Antragstellerin seit dem 01.02.2007 nicht mehr in Kleve wohnt und sie hinsichtlich ihres Aufenthaltes bei einer Freundin in Essen keine Aufwendungen für Unterkunft glaubhaft gemacht hat, besteht gegenüber dem Antragsgegner kein Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen für Unterkunft und Heizung. Somit ist der Leistungsanspruch nach § 20 Abs. 2 SGB II auf die Gewährung der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von 345,- EUR monatlich abzüglich des Kindergeldes in Höhe von 154,- EUR beschränkt, sodass sich ein monatlicher Zahlungsanspruch in Höhe von 191,- EUR ergibt.

Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund vermindern, je offensichtlicher der materiell-rechtliche Anspruch begründet ist (vgl. Meyer-Ladewig Kommentar zum SGG § 86 d Rn 27 und 29). Auf der Grundlage der eidesstattlichen Versicherung der Antragstellerin ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass die Antragstellerin über eigene Einkünfte verfügt.

Das Gericht hat die Verpflichtung des Antragsgegners zur Leistungsgewährung auf die Zeit bis zur Entscheidung des nunmehr zuständigen Leistungsträgers begrenzt, weil eine Leistungspflicht nach § 2 Abs. 3 Satz 1 SGB X nur biszu diesem Zeitpunkt besteht. In diesem Umfang steht dem Antragsgegner ein Erstattungsanspruch gegen den zuständigen Leistungsträger zu (§ 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Die Prozesskostenhilfe war nach § 73 a SGG in Verbindung mit § 114 ZPO zu bewilligen.
Rechtskraft
Aus
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