S 4 KR 269/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 4 KR 269/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 19.12.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2004 verurteilt, die Kosten für die am 15.08.2006 durchgeführte operative Mammareduktion in Höhe von 4.418,23 EUR zu erstatten. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Streitig ist die Kostenerstattung für eine Mammareduktion.

Die am 00.00.1968 geborene Klägerin beantragte bei der Beklagten am 18.10.2002 die Kostenübernahme für die vorgesehene Mammareduktion. Unter Beifügung des Attestes des behandelnden Frauenarztes L1 vom 18.10.2002, indem es u. a. heißt, die Hypertrophie beider Mammae hätte schon zu einer Schonhaltung der Wirbelsäule geführt, die zu einer irreparablen Wirbelsäulenverkrümmung führen könne. Die Reduktionsplastik sei daher aus physiologischen und auch aus psychischen Gründen erforderlich. Der von der Beklagten eingeschaltete MdK führte im Gutachten vom 16.12.2002 u. a. aus, dass die geklagten Beschwerden konservativ behandelt werden könnten (Aufbau der Rückenmuskulatur, Rückenschule und fachorthopädische Mitbehandlung). Es läge keine Indikation für die beantragte Operation vor. Mit Bescheid vom 19.12.2002 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme mit Bezug auf die Begründung im MdK-Gutachten ab.

Den dagegen am 14.01.2003 erhobenen Widerspruch hat die Klägerin u. a. damit begründet, dass sie unter täglichen Nacken- und Schulterschmerzen mit Spannungen im Achselbereich leide und nachts schon nicht mehr schlafen könne. Trotz Spezial-Nackenkissen, Halskrause, Schmerzmittel, Arztbesuchen und Gymnastik sei bis heute keine Besserung der Beschwerden eingetreten. In dem beigefügten Test des Facharztes für plastische Chirurgie I vom 15.01.2004 heißt es u. a., dass bei einer BH-Größe von 95 D sich ein Resektionsgewicht pro Seite von ca. 500 g ergäbe. In dem ebenfalls beigefügten Attest des L2 vom 19.01.2004 werden deutliche Myogelosen und beginnende osteochondrotische Veränderungen im Bereich des Achsenskeletts bestätigt. Der Orthopäde M bestätigt in seinem Attest vom 22.01.2004 immer wiederkehrende HWS- und BWS-Beschwerden, die auf eine statische Fehlbelastung durch die Makromastie hindeutet. Nach erneuter negativer Stellungnahme des MdK vom 25.02.2004 wies die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12.07.2004 als unbegründet zurück. Es läge keine Indikation für die beantragte Operation vor. Die Makromastie stelle keine Krankheit im versicherungsrechtlichen Sinne dar. Es handele sich nicht um einen regelwidrigen Körperzustand.

Dagegen hat die Klägerin am 16.08.2004 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt sie ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren.

Ergänzend trägt sie vor, dass trotz der o. g. konservativen Behandlungsmethoden eine Besserung der Beschwerden nicht erzielt worden wäre. Eine Besserung soll erst nach der am 15.08.2006 durchgeführten Operation eingetreten. Schon am 07.08.2006 hätte sie die Kosten für diese Operation laut Kostenvoranschlägen in Höhe von 3.728,23 EUR und 690,00 EUR überwiesen. Den entsprechenden Kontoauszug fügte sie in Kopie bei.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.12.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2004 zu verurteilen, die Kosten für die am 15.08.2006 durchgeführte operative Mammareduktion in Höhe von 4.418,23 EUR zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Es sei nicht zweifelsfrei nachgewiesen, dass die von der Klägerin genannten Beeinträchtigungen allein durch die bei ihr bestehende Makromastie verursacht würden.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten und Gutachten. Auf die Befundberichte des Chirurgen I vom 18.02.2005, des Frauenarztes B vom 20.02.2005 und des Orthopäden M vom 06.07.2005 sowie auf das orthopädische Gutachten des K vom 02.01.2006 wird verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und den übrigen Inhalt der Akten Bezug genommen. Die Verwaltungsakten der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klägerin hat Anspruch auf Erstattung der Kosten für die inzwischen von ihr durchgeführte Mammareduktionsoperation.

Anspruchsgrundlage ist § 13 Abs. 3 SGB V. Danach sind die Kosten für eine selbst beschaffte Leistung, soweit sie notwendig war, in der entstandenen Höhe von der Krankenkasse zu erstatten, für die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte (Alt. 1), oder wenn sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat (Alt. 2) und dadurch dem bzw. der Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden sind. Dieser Kostenerstattungsanspruch tritt an die Stelle eines an sich gegebenen Sachleistungsanspruchs, den die Kasse rechtswirdrig oder in Folge eines Versagens des Beschaffungssystems nicht erfüllt hat. Die Beklagte war hier verpflichtet, der Klägerin die durchgeführte stationäre Behandlung als Sachleistung zur Verfügung zu stellen.

Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V haben Versicherte Anspruch auf vollstationärer Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationärer, vor- und nachstationärer oder ambulanter Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden.

Der Anspruch auf stationärer Krankenhausbehandlung setzt des weiteren voraus, dass die Voraussetzungen des § 27 SGB V vorliegen: Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Der Anspruch setzt das Bestehen einer "Krankheit" voraus. Damit wird in der Rechtssprechung ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper oder Geisteszustand umschrieben, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (BSGE 85, 36, 38).

Brustgröße, d. h. Umfang und Gewicht stellen keine körperliche Anormalität dar, die als Krankheit im o. g. Sinne zu bewerten wäre. Nicht jede körperliche Unregelmäßigkeit hat Krankheitswert. Eine Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne liegt nur vor, wenn der bzw. die Versicherte in seinen/ihren Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirkt (vgl. BSG Urteil vom 13.07.2004 - B 1 KR 11/04 R). Funktionseinschränkungen an der Brust liegen nicht vor und werden von der Klägerin auch nicht behauptet.

Eine Entstellung durch die Brustgröße liegt ebenfalls nicht vor: Der Sachverständige führte auf Seite 3 des Gutachtens aus, dass Brustform und -größe im Verhältnis zur Körperstatur keinen Krankheitswert hätten.

Eine operative Mammareduktionsoperation ist jedoch zur Besserung der bei der Klägerin bestehenden orthopädischen Beschwerden: Schmerzen im Schulter-, Nacken- und Armbereich und der Wirbelsäule, erforderlich. Die von der Klägerin vorgetragenen Schmerzen im Schulter-, Nacken- und Armbereich waren nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen glaubhaft. Objektivierbar war ein muskulärer Hartspann im Bereich der Nackenmuskulatur und ein Schmerz im Verlauf des M. trapezius. Die Beweglichkeit der Halswirbelsäule war bei Rotation in beide Richtungen eingeschränkt. Die Halswirbelsäule zeigte im unteren Anteil für das Alter voranschreitende degenerative Veränderungen. Der Sachverständige K kommt in seinem Gutachten zu der Auffassung, dass eine Besserung der wirbelsäulenbedingten Beschwerden bei anlagebedingten Störungen zu erwarten sei, wenn das Ausmaß der Reduktion über 500 g pro Seite läge. Arbeiten aus dem Gebiet der plastischen Chirurgie belegten insofern eine 80 %-ige Besserung der Rücken-, Schulter- und Nackenbeschwerden. Eine übergroße Brust könne erhebliche Beschwerden verursachen. Das Gewebe habe keine ausreichende Verankerung am Brustkorb, sondern hänge an der Haut. Über die Haut setze sich der Zug auf die Nacken- und Halspartie fort. Die Rückenmuskulatur müsse eine ständige Gegenspannung aufbauen, um das Gewicht der Brust auszugleichen, was zu chronischen Verspannungen und Muskelverhärtungen führe. Die häufig empfohlene "Stärkung der Rückenmuskulatur" sei auf Dauer eher kontraproduktiv, da durch Zug und Gegenzug eine dauerhafte Mehrbelastung der Wirbelsäule erzeugt werde. Hinzu komme, dass aus der großen Brust der Lymphabfluss erschwert sei, was das Gewicht zusätzlich erhöhe. Das Gewicht der Brüste hätte am Untersuchungstag rechts 980, links 970 g betragen. Bei der normalgewichtigen Klägerin bestehe eine Indikation zur Mammareduktion, wobei er eine Reduktion von ca. 500 g pro Seite empfehle.

Der Anspruch auf Krankenbehandlung beschränkt sich in der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich auf eine Behandlung, die unmittelbar an der Krankheit ansetzt. Dies bedeute, dass den Beschwerden im Schulter-, Nacken- und Armbereich in erster Linie mit den Mitteln der anerkannten orthopädischen und physiotherapeutischen Therapiekonzepte begegnet werden müsse. Ein Anspruch auf mittelbare Behandlung in Form eines Eingriffes in ein funktionell intaktes Organ kann nur ausnahmsweise bestehen und bedarf einer speziellen Rechtfertigung. Zwar hat das BSG im Rahmen der Frage nach der Zulässigkeit mittelbarer Behandlungen einen Anspruch auf Durchführung einer Operation zur Behandlung einer psychischen Störung als Folge der Unzufriedenheit über bestimmte körperliche Begebenheiten grundsätzlich verneint. Es begründete seine Auffassung vor allem damit, dass wegen der Schwierigkeiten einer Vorhersage der psychischen Wirkungen von körperlichen Veränderungen und der deshalb grundsätzlich unsicheren Erfolgsprognose die psychotherapeutische Eignung nicht nachweisen lasse. Die Frage, ob ein Eingriff in ein gesundes Organ zur Behandlung orthopädischer Leiden von Versicherten beansprucht werden könnten, hat das BSG im Urteil vom 19.10.2004 - B 1 KR 9/04 R - noch offen gelassen. Im vorliegenden Fall hat der Sachverständige K dargelegt, dass ein unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang zwischen der Brustgröße und dem Entstehen orthopädischer Schulter-, Nacken- und Rückenbeschwerden besteht. Zwar würden im vorliegenden Fall die geklagten Rückenbeschwerden nicht ausschließlich durch die Brustgröße allein verursacht, trügen aber neben untergeordneten anlagebedingten Störungen mit Wahrscheinlichkeit zur richtungsgebenden Verschlimmerung bei. Nach der auch im Krankenversicherungsrecht anzuwendenden Ursachenlehre von der rechtlich wesentlichen Bedingung (Relevanztheorie; siehe Kasseler Kommentar, § 27 SGB V Rd.Nr. 17) sind daher die bei der Klägerin bestehenden Beschwerden im Schulter-, Nacken- und Armbereich zumindest wesentlich durch die Brustgröße mit bedingt. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten auch auf eine Reihe von Studien und Äußerungen in der medizinischen Fachliteratur verwiesen, nach denen durchweg gute Ergebnisse nach Brustverkleinerung beschrieben werden. Somit besteht ein wesentlicher Unterschied zur mittelbaren Krankenbehandlung psychischer Störungen: Nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen K besteht ein unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang und der Eingriff ist geeignet, die Beschwerden tatsächlich zu lindern. Entgegen der vom LSG Baden-Württemberg im Urteil vom 24.02.2005 (L 4 KR 3936/03) vertretenen Rechtsauffassung ist es nicht erforderlich, dass zum Nachweis der Wirksamkeit randomisierte kontrollierte Studien für das Fachgebiet der Orthopädie vorliegen. Im Bereich der stationären Behandlungen nach § 137 c Abs. 1 SGB V kann der gemeinsame Bundesausschuss in den Krankenhäusern angewandte Methoden nur ausschließen. Ein Genehmigungsvorbehalt, wie er für den ambulanten Bereich im Gesetz geregelt ist, gibt es im stationären Bereich nicht. Dem zufolge ist es hier auch unschädlich, dass die vom Sachverständigen K im Gutachten zitierten Studien und Literaturnachweise sich auf das chirurgische, nicht jedoch auf das orthopädische Fachgebiet beziehen.

Die Voraussetzungen für eine operative stationäre Mammareduktion sind daher gegeben.

Der Klage war daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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