L 11 B 10/07 AS ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 13 AS 910/06 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 B 10/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 22.11.2006 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II - Alg II -) gemäß dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der 1959 geborene, getrennt lebende Antragsteller bewohnt eine 5-Zimmerwohnung, für die er 630,00 EUR Kaltmiete zu zahlen hat. Seit 05.09.2005 bezieht er Alg II. Mit Bescheid vom 03.04.2006 bewilligte die Beklagte Alg II vom 01.04.2006 bis 30.09.2006 unter Berücksichtigung von Unterkunfts- und Heizungskosten (333,34 EUR) in Höhe von 678,34 EUR.

Nachdem die Antragsgegnerin erfahren hatte, dass der Antragsteller bei seiner Tochter Mahlzeiten einnehme bzw von dieser Geld für Nahrung zur Verfügung gestellt bekäme, und vom Konto des Antragstellers kaum Beträge abgehoben worden seien, bewilligte sie auf seinen Fortzahlungsantrag hin mit Bescheid vom 05.10.2006 für die Zeit vom 01.10.2006 bis 31.03.2007 Alg II unter Berücksichtigung der von der Tochter zur Verfügung gestellten Nahrungsmittel entsprechend der Sachbezugsverordnung in Höhe von 202,70 EUR als Einkommen Alg II in Höhe von lediglich 475,64 EUR. Mit Aufhebungsbescheid vom 29.09.2006 hob die Antragsgegnerin die für die Zeit vom 01.04.2006 bis 30.09.2006 bewilligten Leistungen teilweise auf und forderte überzahlte Leistungen in Höhe von 1.216,20 EUR zurück, die ab 01.11.2006 mit entsprechenden Leistungsansprüchen des Antragstellers in Höhe von 100,00 EUR monatlich aufgerechnet werden sollten. Der Antragsteller habe grob fahrlässig nicht mitgeteilt, dass er Einkommen erziele. Den gegen beide Bescheide eingelegten Widerspruch wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheiden vom 02.11.2006 zurück. Hiergegen hat der Antragsteller Klage zum Sozialgericht Nürnberg erhoben.

Am 30.10.2006 hat der Antragsteller beim Sozialgericht beantragt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm vorläufig bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren ab 30.10.2006 Alg II in Höhe von 678,34 EUR monatlich zu gewähren. Er habe allenfalls maximal 15 mal bei seiner Tochter monatlich gegessen. Diese Mahlzeiten sowie das von der Tochter für Nahrungsmittel zur Verfügung gestellte Geld belaufe sich auf maximal 100,00 EUR monatlich. Dies müsse er zurückzahlen. Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 22.11.2006 verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren ab 30.10.2006 Alg II in Höhe von 678,34 EUR monatlich zu gewähren. Vorliegend verbleibe dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner tatsächlichen Mietkosten nicht mehr das zum Lebensunterhalt Unerlässliche. Wegen der Gefahr für die Existenzsicherung sei die begehrte Anordnung zu treffen, zumal die freiwillige Leistung der Tochter nur deshalb erbracht werde, weil der tatsächliche Bedarf des Antragstellers eben gerade nicht gedeckt werde. Auch eine Aufrechnung dürfe nicht erfolgen, denn der Widerspruch gegen den Bescheid vom 29.09.2006 habe diesbezüglich aufschiebende Wirkung.

Dagegen hat die Antragsgegnerin Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Nach § 2b, § 2 Abs 4 Arbeitslosen- geld-II/Sozialgeld-Verordnung iVm § 1 Sachbezugsverordnung sei das von der Tochter gewährte Essen als Einkommen anzurechnen. Auch sei nicht auf den tatsächlichen Bedarf des Antragstellers unter Berücksichtigung der tatsächlichen Unterkunftskosten abzustellen, sondern auf den angemessenen Bedarf. Die teilweise Rücknahme für die Vergangenheit sei rechtmäßig, denn der Antragsteller habe fahrlässig gehandelt.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Akte der Antragsgegnerin sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist zulässig. Das SG hat ihr nicht abgeholfen (§ 174 SGG). Das Rechtsmittel erweist sich jedoch nicht als begründet.

Nachdem vorliegend allein die Beklagte Beschwerde eingelegt hat, ist nicht zu prüfen, ob die ausschiebende Wirkung des Widerspruches gegen den Aufhebungsbescheid vom 29.09.2006 anzuordnen ist.

Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis stellt im vorliegenden Rechtstreit § 86b Abs 2 Satz 2 SGG dar.

Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn dem Ast ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1988 BVerfGE 79, 69/74, vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166/179 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; Niesel, Der Sozialgerichtsprozess, 4.Aufl, RdNr 643).

Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den er sein Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der Ast glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG iVm § 920 Abs 2, § 294 Zivilprozessordnung - ZPO -; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 8.Aufl, § 86b RdNr 41).

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Ast zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 und vom 22.11.2002 aaO).

Zutreffend hat das SG hier eine Interessenabwägung vorgenommen, nachdem die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen sind. So ist zunächst zu prüfen, ob die Antragsgegnerin in zulässiger Weise die Sachbezugsverordnung herangezogen hat. Im Rahmen des Hauptsacheverfahrens ist jedoch vorab zu klären, ob der Antragsteller die Nahrung bzw das Geld hierfür von seiner Tochter lediglich als Darlehen erhalten hat und ob er dies gegebenenfalls zurückzahlen muss. Auch ist noch zu prüfen, in welchem Umfange der Antragsteller überhaupt Mahlzeiten von seiner Tochter zur Verfügung gestellt bekommen hat.

Nachdem hier existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, ist eine Folgenabwägung vorzunehmen. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die dem Antragsteller für die Zeit ab 01.10.2006 bewilligte Leistung ab 01.11.2006 um weitere 100,00 EUR durch die Antragsgegnerin gekürzt werden sollte. Die Rechtmäßigkeit des dieser Aufrechnung zugrunde liegenden Rücknahmebescheides scheint im hohen Maße zweifelhaft. Insbesondere ist hier die Frage der groben Fahrlässigkeit des Antragstellers noch im Einzelnen zu klären. Nachdem selbst unter Berücksichtigung von angemessenen Unterkunftskosten in Höhe von 333,34 EUR dem Kläger lediglich ca. 42,00 EUR bzw ohne die Anrechnung 142,00 EUR zum Leben verbleiben und nachdem die Antragsgegnerin den Sachverhalt im Rahmen der Amtsermittlungspflicht nur lediglich grob aufgeklärt hat, hat das Sozialgericht die Antragsgegnerin zu Recht zur vorläufigen Leistungserbringung bis zur Entscheidung in der Hauptsache verpflichtet. Alg II ist in Höhe von 678,34 EUR bis 31.03.2007 - vom Bescheid vom 05.10.2006 erfasster Zeitraum - vorläufig zu erbringen.

Nach alledem ist die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved