L 18 B 990/06 SB PKH

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 SB 673/06
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 B 990/06 SB PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 17.11.2006 aufgehoben und der Klägerin für das sozialgerichtliche Verfahren antragsgemäß Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung ab 25.09.2006 bewilligt und Rechtsanwalt T. B. , M. beigeordnet.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt die Aufhebung des ablehnenden Prozesskostenhilfe-Beschlusses vom 17.11.2006 des Sozialgerichts (SG) Würzburg und die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) sowie die Beiordnung des Rechtsanwaltes T. B ...

In der Hauptsache streiten die Beteiligten über die Höhe des bei der Klägerin vorliegenden Grades der Behinderung (GdB).

Die 1955 geborene Klägerin - von Beruf angelernte Näherin - beantragte am 12.08.2005 die Feststellung von Behinderungen (Dysplasie, Coxarthrose). Der Beklagte stellte nach Auswertung eines Arztbriefes des Internisten Dr.K. vom 06.05.2005 mit Bescheid vom 06.10.2005 eine Behinderung mit einem GdB von 20 fest. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 04.09.2006).

Im Klageverfahren vor dem SG hat die Klägerin die Feststellung eines wesentlich höheren GdB begehrt und unter Vorlage einer Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse die Bewilligung von PKH beantragt.

Das SG hat die Gewährung von PKH mit Beschluss vom 17.11.2006 abgelehnt. Es hat die Beiordnung eines Bevollmächtigten nicht für erforderlich gehalten, weil nur medizinische Fragen zu beurteilen seien und das Gericht von Amts wegen gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Verfahren zu führen habe.

Gegen diesen Beschluss hat der Bevollmächtigte der Klägerin Beschwerde eingelegt.

Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die Beschwerde der Klägerin ist gemäß § 172 Abs 1 SGG statthaft, und da sie form- und fristgerecht eingelegt worden ist (§ 173 SGG), im Übrigen zulässig. Das Rechtsmittel erweist sich auch als begründet. Die Voraussetzungen für die Gewährung von PKH sind nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats erfüllt (vgl z.B. Beschluss des Senats vom 03.01.2001 E- LSG B - 201 = Behindertenrecht 2001, 107 = ASR 2001, 33). Der Beschluss des SG verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes und ist mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar.

Die Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) über die PKH gelten (im Sozialgerichtsrechtsstreit) entsprechend (§ 73a SGG). Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 114 ZPO). Ist eine Vertretung durch Anwälte nicht vorgeschrieben, wird der Partei auf ihren Antrag ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt ihrer Wahl beigeordnet, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint oder der Gegner durch einen Rechtsanwalt vertreten ist (§ 121 Abs 2 ZPO).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebietet das Grundgesetz (GG) eine w e i t g e h e n d e Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (so BVerfGE 81, 347, 356 mwN). Da der Gleichheitsgrundsatz des GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip keine vollständige Gleichstellung Unbemittelter mit Bemittelten verlangt, sondern nur eine weitgehende Angleichung, ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von PKH davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. PKH darf dann verweigert werden, wenn die Erfolgschance nur eine Entfernte ist (BVerfGE aaO S 357).

Für die Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht genügt eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer 8.Aufl, § 73a RdNr 7 mwN); der Erfolg braucht nicht mit Sicherheit festzustehen. Es muss nicht abschließend abzusehen sein, ob das Rechtsmittel begründet ist, vielmehr ist die Erfolgsaussicht grundsätzlich schon dann als hinreichend anzusehen, wenn sich die Notwendigkeit einer Beweisaufnahme ergibt (Peters-Sautter-Wolff 4.Aufl § 73a, S 258/8 - 14/21). Eine hinreichende Erfolgsaussicht kann somit vorliegen, wenn es erforderlich erscheint, Gutachten einzuholen (Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer aaO; Beschluss des BayLSG vom 06.07.1987 - L 5 B 55/87.Ar und vom 22.03.1989 - L 5 B 305/88.Ar).

Dies ist hier der Fall. Für die Beurteilung des Ausmaßes der Behinderungen und der Höhe des GdB sind aktuelle Befunde zu erheben. Das Sozialgericht wird daher den Sachverhalt in medizinischer Hinsicht durch ein Sachverständigengutachten (auf dem Fachgebiet der Orthopädie) aufzuklären haben.

Die Beiordnung eines Rechtsanwaltes ist auch erforderlich (§ 121 Abs 2 ZPO). Sie entspricht der Absicht des Gesetzgebers (vgl § 73a SGG), kann also nicht - wie das SG meint - unter Bezugnahme auf den in der Sozialgerichtsbarkeit geltenden Amtsermittlungsgrundsatz verneint werden. Nach Art 103 GG hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Danach ist für alle gerichtliche Verfahren ein Mindestmaß an rechtlichem Gehör zu gewährleisten. Die an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten sollen Gelegenheit haben, sich zu dem für die Beurteilung des Gerichts in Betracht kommenden Sachverhalt vor der Entscheidung zu äußern (BVerfGE 7, 53 (57 mwN)). Dieses Recht ist von der Ausgestaltung des Verfahrens durch die verschiedenen Verfahrensordnungen unabhängig und gilt auch im Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz. Dem Beteiligten soll nicht zugemutet werden, sich darauf zu verlassen, dass das Gericht schon aufgrund der Offizialmaxime zu einer richtigen Entscheidung gelangen werde (BVerfG aaO; BayLSG Breith 99, 807). Weder die Vorschriften der §§ 62, 103 Abs 1 und 106 SGG noch sonstige, den Verfahrensbeteiligten dem Gericht gegenüber obliegenden Pflichten schließen aus, dass im sozialgerichtlichen Verfahren schlechthin oder im Verfahren bestimmten Inhalts, etwa nach dem Schwerbehindertengesetz, eine anwaltliche Vertretung erforderlich ist. Auch unter Berücksichtigung des Amtsermittlungsprinzips kann die Erforderlichkeit einer Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht generell in den Fällen verneint werden, in denen (lediglich) medizinische Sachverhalte entscheidungserheblich sind (so auch Jansen Sozialgerichtsbarkeit 5/1982 S 187; wohl anderer Ansicht Behn, Die Sozialversicherung 1981, S 309 und Beschluss des BayLSG vom 15.04.1994 - L 16 B 43/93.Ar). Dies gilt auch für die anwaltliche Vertretung in Schwerbehindertenstreitsachen. Dem SG kann nicht gefolgt werden, wenn es ausführt, dass nach ständiger Rechtssprechung der bayerischen Sozialgerichte und des Bayer. Landessozialgerichts PKH in den Fällen nicht zu gewähren ist, in denen es ausschließlich um die medizinische Frage der Höhe des GdB geht. Eine solche ständige (einheitliche) Rechtsprechung existiert nicht. Die Vertretung durch einen Rechtsanwalt ist erforderlich, auch wenn lediglich medizinische Sachverhalte entscheidungserheblich sind (Beschluss des Senats vom 03.01.2001 aaO). Bei den Schwerbehindertenstreitsachen handelt es sich um Rechtsangelegenheiten. Das SG will mit seiner Auffassung offensichtlich zum Ausdruck bringen, dass bei der Feststellung von Behinderungen nur medizinischer Sachverstand gefragt sei. Die Annahme, dass es sich bei der Frage, welche Gesundheitsstörungen bei der Klägerin vorliegen und wie diese zu bewerten seien, um bloße medizinische Feststellungen und Beurteilungen handele, welche im Rahmen einer Begutachtung durch den ärztlichen Sachverständigen zu treffen seien, ist aber rechtsirrig. Schon den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) 2005 RdNr 15 kann entnommen werden, dass nicht der Arzt über die Feststellung einer Behinderung entscheidet. Vielmehr ist es Aufgabe des Gerichts, die von ihm eingeholten Gutachten zu würdigen. Das Gericht darf Gutachten nicht einfach übernehmen, sondern muss sie kritisch nachvollziehen und überprüfen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer aaO § 128 RdNr 7). Die Schätzung des GdB ist nicht Sache des Sachverständigen, sondern die des Gerichts (aaO RdNr 7a). Die Bildung des GdB ist eine Rechtsfrage. Hierbei fließen im Schwerbehindertenrecht die Vorgaben der AHP ebenso ein wie sonstige medizinische Erfahrungssätze. Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist eine differenzierte oberstgerichtliche Rechtsprechung zu beachten.

Es gehört zu der Aufgabe des Rechtsanwaltes als unabhängiges Organ der Rechtspflege, das Gutachten eines Sachverständigen, das in einem Gerichtsverfahren eingeholt wurde, kritisch nachzuvollziehen und zu überprüfen. Zu seinen Aufgaben gehört es auch, gegebenenfalls Anträge auf Durchführung weiterer gerichtlicher Ermittlungen, Befragung der Sachverständigen, Einholung weiterer Gutachten von Amts wegen und Einholung von Gutachten gemäß § 109 SGG zu stellen. Diese Aufgaben eines Rechtsanwaltes in Schwerbehindertensachen werden nicht deshalb überflüssig, weil das gerichtliche Verfahren vom Grundsatz der Amtsermittlung geprägt ist.

Ein Schwerbehinderten-Rechtsstreit ist materiell rechtlich und prozessual grundsätzlich nicht so einfach gelagert, dass eine anwaltliche Unterstützung entbehrlich wäre. Bei der Frage nach der Schwierigkeit einer Streitsache spielen nicht nur rechtliche, sondern auch tatsächliche Fragen (zB medizinischer Art) eine erhebliche Rolle (so auch Jansen aaO S 186). Die Sach- und Rechtslage ist generell auch in Schwerbehindertenangelegenheiten für Behinderte schwer zu übersehen. Sie bedürfen anwaltlicher Hilfe, um sachgerechte prozessuale Anträge zu stellen. Die Beurteilung von Sachverständigengutachten und die Entscheidung, ob und ggfs welche weitere Fragen an Sachverständige zu stellen sind, die Entscheidung, ob und wann es zweckmäßig erscheint, einen Antrag nach § 109 SGG zu stellen, erfordert Erfahrung im Umfang mit dem Schwerbehindertenrecht und den AHP. Diese Erfahrung hat die Klägerin als angelernte Näherin ersichtlich nicht.

Die Klägerin erfüllt die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von PKH.

Nach alledem war der Beschluss des SG aufzuheben und der Klägerin PKH zu gewähren.

Dieser Beschluss ergeht kostenfrei und ist unanfechtbar, § 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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