L 9 EG 113/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
9
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 EG 166/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 9 EG 113/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 27.10.2004 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die 1971 geborene Klägerin, eine verheiratete tür- kische Staatsangehörige, brachte 1991 ihr Kind S. zur Welt. Nach ihren Angaben betreute und erzog sie das im gemeinsamen Haushalt lebende Kind und übte daneben keine Er- werbstätigkeit aus.

Am 01.02.2002 beantragte die Klägerin beim Amt für Versorgung und Familienförderung Augsburg die Bewilligung von Landeser- ziehungsgeld (LErzG). Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 16.05.2002 die Gewährung von LErzG aufgrund der Rechtsprechung des EuGH ab, nach wel- cher auch türkische Staatsangehörige nur dann Anspruch auf LErzG haben, wenn der mögliche Leistungszeitraum nach Erlass des maßgeblichen Urteils am 04.05.1999 liegt. Dies sei für das Kind der Klägerin nicht der Fall, da ein möglicher Anspruch auf LErzG spätestens am 21.08.1993 geendet habe. Am 23.05.2002 legte die Klägerin hiergegen Widerspruch ein, welcher mit Bescheid vom 06.09.2002 wiederum unter Hinweis auf das Stichtagsprinzip als unbegründet zurückgewiesen wurde. Es könne daneben offen bleiben, ob die Klägerin auch die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfülle.

Am 16.09.2002 erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht Augsburg. Zur Begründung wurde vorgetragen, dass nach der Rechtsprechung des EuGH vom 04.05.1999 im Hinblick auf den Beschluss des Assoziationsrates Nr. 3/80 auch türkische Staatsangehörige Anspruch auf LErzG hätten. Ein rechtzeitiger Antrag sei nur deswegen nicht gestellt worden, weil der Beklagte der Klägerin, die vor Beginn des zweiten Lebensjahres einen Antrag auf LErzG habe stellen wollen, insoweit falsche Rechtsauskünfte erteilt und die Entgegennahme des Antrags verweigert habe. Die Klägerin, die sich bereits vor der Geburt des Kindes in Deutschland aufgehalten habe, werde durch die Rechtsauffassung des Beklagten diskriminiert.

Mit Urteil vom 27.10.2004 wies das SG die Klage nach Verneh- mung des Ehemanns der Klägerin als Zeugen ab. Zur Begründung führte es aus, zwar könnten nach dem Urteil des EuGH vom 04.05.1999 und der darauf beruhenden Rechtsprechung des BSG neben Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates der Europäischen Union auch türkische Staatsangehörige LErzG erhalten, wenn sie in den persönlichen Anwendungsbereich des Beschlusses Nr.3/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 fallen. Jedoch könne die Klägerin daraus keine Rechte herleiten. Denn der EuGH habe Ansprüche auf Leistungen für die Zeit vor dem Erlass seiner Entscheidung vom 04.05.1999 ausgeschlossen und eine Ausnahme hiervon nur zugelassen, wenn vor diesem Zeitpunkt bereits Klage erhoben oder ein gleichwertiger Rechtsbehelf eingelegt worden sei und damit ein offenes Verfahren vorliege. Diese Voraussetzungen hätte von Seiten der Klägerin nicht nachgewiesen werden können. Auf einen Herstellungsanspruch könne sich die Klägerin trotz der im Nachhinein falschen Beratung durch den Beklagten nicht berufen.

Am 10.12.2004 legten die Bevollmächtigten der Klägerin Beru- fung ein. Die Klägerin wie auch ihr Ehemann hätten bestätigt, dass ein Antrag auf LErzG rechtzeitig beim Beklagten abgegeben worden sei. Der Sachbearbeiter habe der Klägerin jedoch erklärt, sie hätte keinen Anspruch, woraufhin die ausgefüllten Antragsformulare "hingeschmissen" worden seien. Auf den Umstand, dass für eine Fortführung des Verfahrens die Verbescheidung eines schriftlichen Antrags nötig ist, sei die Klägerin nicht hingewiesen worden. Hätte die Klägerin gewusst, dass sie mit Beschreiten des Rechtswegs ihre Ansprüche langfristig sichern hätte können, hätte sie diesen Rechtsweg beschritten.

Die Klägerin beantragt:

Auf die Berufung der Klägerin hin wird das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 27.10.2004 aufgehoben und der Klage stattgegeben

Der Beklagte beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 27.10.2004 zurückzuweisen.

Zur Begründung verweist er auf das seiner Ansicht nach zutreffende Urteil des Sozialgerichts.

In einem am 09.06.2005 durchgeführten Termin zur Erörterung des Sachverhalts haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Beschluss erklärt. Der Senat hat die Erziehungsgeldakte des Beklagten sowie die Streitakte des ersten Rechtszuges beigezogen, auf welche zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen wird.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Beru- fung der Klägerin ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt. Die Entscheidung kann ohne münd- liche Verhandlung im Beschlussweg ergehen, da eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist und der Senat die Berufung einstimmig für unbegründet hält, § 153 Abs.4 SGG. Die Betei-ligten wurden gehört.

Im Ergebnis zutreffend hat das SG die erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage abgewiesen, denn der Beklagte hat zurecht mit den streitgegenständlichen Bescheiden einen Anspruch der Klägerin auf Landeserziehungsgeld für das 1991 geborene Kind S. abgelehnt.

Ein Anspruch der Klägerin scheitert an den einschlägigen Vor- schriften des Gesetzes zur Gewährung eines LErzg und zur Aus- führung des BErzGG (BayLErzGG) in der Ausprägung, die sie durch die sog. Sürül-Entscheidung des EuGH vom 04.05.1999, Az.: C-262/96, erlangt haben.

Rechtsgrundlage für die Gewährung von Landeserziehungsgeld (LErzG) ist das Gesetz zur Gewährung eines LErzg und zur Aus- führung des BErzGG (BayLErzGG) vom 12.06.1989 (GVBl. 89 S.206). Anspruch auf LErzG hatte gemäß Art.1 Abs.1 BayLErzGG, wer seine Hauptwohnung oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit der Geburt des Kindes, mindestens jedoch 15 Monate in Bayern hatte (Nr.1), mit einem nach dem 30.06.1989 geborenen Kind, für das ihm die Personensorge zustand, in einem Haushalt lebte (Nr.2), dieses Kind selbst betreute und erzog (Nr.3), keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübte (Nr.4) und schließlich die deutsche Saatsangehörigkeit oder diejenige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union besaß (Nr.5).

Nach Art.3 des Gesetzes wurde LErzG ab dem in § 4 Abs.1 BErzGG für das Ende des Bezuges von BErzG festgelegten Zeitpunkt bis zur Vollendung von weiteren zwölf Lebensmonaten des Kindes gewährt (Abs.1). Vor dem Ende des zwölften Bezugsmonates endete der Anspruch mit dem Ablauf des Lebensmonats, in dem eine der Anspruchsvoraussetzungen entfallen war. Im Fall der Aufnahme einer vollen Erwerbstätigkeit endete der Anspruch mit dem Beginn der Erwerbstätigkeit (Abs.3). Nach Art.5 betrug das LErzg DM 500,00 monatlich. Bei einer Überschreitung der nach §§ 5, 6 BErzGG zu berechnenden Einkommensgrenzen wurde es auf den Betrag von fünf Sechstel des Betrages des maßgeblichen BErzG gekürzt (Abs.1 Satz 1, 2).

In der vorliegenden Streitsache erfüllte die Klägerin im Be- willigungszeitraum nach eigenen Angaben die Voraussetzungen des Art.1 Abs.1 Satz 1 Nrn.1 mit 4 BayLErzGG, denn sie wohnte im Anspruchszeitraum in Bayern, lebte mit ihrem Kind, für das ihr die Personensorge zustand, in einem Haushalt, betreute ihre Tochter selbst und übte daneben keine Erwerbstätigkeit aus. Nicht erfüllt wurde aber die Voraussetzung in Nr.5 der Vor-schrift, da die Klägerin im streitigen Zeitraum weder die deutsche Staatsangehörigkeit noch die eines Mitgliedstaates der EU oder eines anderen Vertragsstaates des EWR besaß. Diese Bestimmung verstößt aber gegen übergeordnetes europäisches Gemeinschaftsrecht. Nach der genannten Sürül-Entscheidung des EuGH vom 04.05.1999 (SozR 3 - 6935 Alg Nr.4) verbietet es Art.3 Abs.1 des Beschlusses Nr.3/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 einem Mitgliedstaat, den Anspruch eines türkischen Staatsangehörigen auf Familienleistungen nach Art.4 Abs.1 des Beschlusses von anderen Voraussetzungen abhängig zu machen als für Angehörige des Mitgliedstaats. Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit Urteil vom 10.07.1997 (Az.: 14 REg 8/96) das Bundeserziehungsgeld in Anwendung des Urteils des EuGH vom 10.10.1996 (Az.: C-245/94 und C-312/94) zur Familienleistung erklärt. Diese Ansicht hat das BSG mit Urteil vom 29.01.2002 (Az.: B 10 EG 2/01 R) auch hinsichtlich des Bayer. Landeserziehungsgeld vertreten.

Damit hat die Klägerin zwar grundsätzlich unter denselben Vor-aussetzungen wie Deutsche oder Angehörige der EU oder des EWR Anspruch auf LErzg. Jedoch kann sie sich auf die unmittelbare Wirkung des Art.3 Abs.1 ARB Nr.3/80 für den Anspruchszeitraum nicht berufen. Nach Ansicht des EuGH kann die unmittelbare Wirkung des Art.3 Abs.1 ARB nämlich nicht zur Begründung von Ansprüchen auf Leistungen für Zeiten vor Erlass dieses Urteils am 04.05.1999 geltend gemacht werden, soweit die Betroffenen nicht vor diesem Zeitpunkt gerichtlich Klage erhoben oder einen gleichwertigen Rechtsbehelf eingelegt haben. Wie das Bundessozialgericht (u.a. Urteil vom 27.05.2004, Az.: B 10 EG 11/03 R) darlegt, bezieht sich die im Urteil vom EuGH ausgesprochene zeitliche Beschränkung nicht nur auf Verfahren über Kindergeld, sondern auf alle Verfahren, in denen es, wie auch beim Landeserziehungsgeld, um die Geltendmachung von Sozialleistungsansprüchen geht, die auf eine unmittelbare Anwendbarkeit des Art.3 Abs.1 ARB gestützt werden. Ebenso wie die Hauptaussage des EuGH zur unmittelbaren Anwendbarkeit des assoziationsrechtlichen Diskriminierungsverbots ist auch die von ihm verfügte zeitliche Beschränkung, wie das Bundessozialgericht darlegt, verbindlich. An der Rechtmäßigkeit dieser "Neben"-Entscheidung bestehen laut BSG (a.a.O.) keine Zweifel. Voraussetzung für eine wie vom EuGH angenommene zeitliche Beschränkung ist es laut BSG (a.a.O.), dass Unklarheiten des anzuwendenden Rechts oder das Verhalten der Gemeinschaftsorgane einen Zustand der Rechtsunsicherheit geschaffen haben, der es nicht angemessen erscheinen lässt, in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse rückwirkend in Frage zu stellen (Vorliegen eines Vertrauenstatbestandes). Darüber hinaus muss die Gefahr unerwarteter und erheblicher finanzieller Auswirkungen bestehen. Es ist laut BSG nicht ersichtlich, dass der EuGH in der Rechtssache Sürül diese Voraussetzungen zu Unrecht bejaht hat. Der EuGH hat dargelegt, dass sich aus seinem Urteil vom 10.09.1996, Az.: C-277/94, Ungewissheit über eine unmittelbare Anwendbarkeit des Art.3 Abs.1 ARB ergeben konnte. Unter diesen Umständen durften die Mitgliedstaaten davon ausgehen, sie könnten die Anpassung ihres innerstaatlichen Rechts bis zum Erlass entsprechender Umsetzungsakte zurückstellen. Daraus hat der EuGH den Schluss gezogen, dass abschließend geregelte Rechtsverhältnisse durch sein Urteil vom 04.05.1999 nicht wieder in Frage gestellt werden sollten. Überdies war zu berücksichtigen, dass die Frage, ob Erziehungsgeld eine Familienleistung im Sinne des Europarechts ist, erst durch das Urteil des EuGH vom 10.10.1996 geklärt wurde. Bei der Einsetzung der finanziellen Auswirkungen musste der EuGH schon aus Gründen der Gleichbehandlung alle Sozialleis- tungen in Betracht ziehen, die europaweit vom ARB erfasst werden.

Die vom EuGH angeordnete zeitliche Beschränkung hindert die Klägerin, ihre Ansprüche auf Landeserziehungsgeld für Zeiten vor dem Erlass des Urteils geltend zu machen. Die vom EuGH vorgesehene Ausnahme für Betroffene, die "vor diesem Zeitpunkt gerichtlich Klage erhoben oder einen gleichwertigen Rechtsbe- helf eingelegt haben", kommt ihr nicht zugute. Nach der Begründung der Entscheidung des EuGH vom 04.05.1999 soll diese Ausnahmeregelung verhindern, dass der Schutz der Rechte, die die Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht herleiten, durch die verfügte zeitliche Beschränkung in nicht gerechtfertigter Weise eingeschränkt wird. Aus der Bezugnahme auf einen effektiven Rechtsschutz ergibt sich, dass mit den vom EuGH angesprochenen "Rechtsbehelfen" nur solche gemeint sind, die bei Erlass des Urteils vom 04.05.1999 noch rechtshängig, also offen waren. Denn bei abgeschlossenen Verfahren stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit des Rechtsschutzes von vornherein nicht. Als Rechtsbehelf sind in diesem Zusammenhang auch erstmalige Leistungsanträge zu verstehen, denn auch sie dienen der Geltendmachung von Rechten und unterbrechen z.B. die Verjährung von Ansprüchen (§ 45 Abs.3 SGB I). Dabei stellt der EuGH nicht darauf ab, aus welchen Gründen entsprechende Anträge nicht gestellt oder nach abschlägigen Entscheidungen nicht weiterverfolgt worden sind.

Zur Begründung des Anspruchs hätte die Klägerin laut BSG zwei Fristen einhalten müssen: Zum einen könnte sie sich auf das Diskriminierungsverbot des Art.3 Abs.1 ARB nur dann berufen, wenn sie bereits vor dem Erlass des Sürül-Urteils vom 04.05.1999 einen auf Landeserziehungsgeld gerichteten Rechts- behelf eingelegt hätte. Zum anderen ist zu beachten, dass Landeserziehungsgeld gemäß Art.3 Abs.2 Bayerisches Landeserziehungsgeld rückwirkend höchstens für zwei Monate vor der schriftlichen Antragstellung zu gewähren ist.

Die Klägerin hat vorliegend erst am 01.02.2002 einen Antrag auf Landeserziehungsgeld gestellt und demnach die beiden genannten Fristen nicht eingehalten. Anhaltspunkte für eine Antragstellung vor dem 04.05.1999 bestehen nicht. Eine solche ist nicht aktenkundig. Auch die Klägerin sowie ihr Ehemann als Zeuge konnten nicht belegen, dass vor dem 04.05.1999 ein schriftlicher Antrag tatsächlich gestellt wurde. Ohne dass Zeit, Ort oder die näheren Umstände der Antragstellung benannt werden konnten, wurde nur bestätigt, dass die Antragsformulare "hingeschmissen" worden seien, nachdem die Auskunft erteilt worden war, es bestehe kein Anspruch.

Auch die Regelung des § 27 SGB X hilft der Klägerin nicht wei- ter. Nach dessen Abs.1 gilt: War jemand ohne Verschulden ver- hindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm auf An- trag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Eine derartige Wiedereinsetzung ist jedoch nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden, außer, wenn dies vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war, § 27 Abs.3 SGB X. Da die Klägerin den Antrag erst im Februar 2002 gestellt hat, kommt es darauf an, ob ihr die Antragstellung vor der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war.

Der Begriff der höheren Gewalt hat eine subjektive Komponente und ist nicht auf von außen kommende nicht beeinflussbare Er- eignisse beschränkt (vgl. BSG a.a.O.). Höhere Gewalt ist jedes Geschehen, das auch durch die größtmögliche, von dem Betroffe- nen unter Berücksichtigung seiner Lage, Bildung und Erfahrung vernünftigerweise zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte. Als unabwendbar in diesem Sinn ist eine Fristversäumnis grundsätzlich auch dann anzusehen, wenn sie durch eine falsche oder irreführende Auskunft oder Beleh- rung oder sonst durch ein rechts- oder treuwidriges Verhalten der Verwaltungsbehörde verursacht wird (BSG, a.a.O., m.w.N.).

Höhere Gewalt kann aber vorliegend nicht etwa durch die feh-lerhafte Beratung von Seiten des den Beklagten begründet wer- den. Diese Beratung war zwar im Licht der Entscheidung des BSG vom 29.01.2002 (BSGE 89, 129) objektiv falsch gewesen, auch wenn sie der damaligen Rechtsprechung entsprochen hat. Denn eine unrichtige Beratung liege auch dann vor, wenn der Versicherungsträger ohne Verschulden von der Richtigkeit seiner Rechtsansicht ausgehen durfte. Entscheidend ist insoweit die damalige Sach- und Rechtslage aus heutiger Sicht. Das BSG weist aber ausdrücklich auf Folgendes hin: Zur Begründung der Fehlerhaftigkeit des behördlichen Handelns bedarf es gerade der Berufung auf die unmittelbare Wirkung des Art.3 Abs.1 ARB für einen Zeitraum vor Erlass der Sürül-Entscheidung des EuGH. Es greift hier somit ebenfalls die in diesem Urteil ausgesprochene zeitliche Beschränkung ein. Da die Klägerin wie bereits dargestellt, am 04.05.1999 kein offenes Verfahren über die Gewährung des LErzG mehr hatte, kann sie die objektive Unrichtigkeit der Ablehnung auch nicht über § 44 SGB X unter Zuhilfenahme eines Wiedereinsetzungsantrags geltend machen.

Andere Umstände, die unter dem Gesichtspunkt höherer Gewalt- eine Wiedereinsetzung ohne Rückgriff auf die unmittelbare An- wendung des Art.3 Abs.1 ARB begründen würden, sind nicht er- sichtlich. In Betracht kämen insoweit nur gravierende Verfah- rensverstöße der Behörde wie etwa eine Nichtannahme von Anträ- gen oder dem gleichzustellende Rechtsverstöße (BSG vom 27.05.04, a.a.O.). Ein derartiges Fehlverhalten von Bediensteten des Beklagten ist nach dem Ergebnis der Ermittlungen nicht belegt. Insbesondere ist entgegen der Auffassung der Klägerbevollmächtigten nicht nachgewiesen, dass der Beklagte die Klägerin durch die Verweigerung der Entgegennahme der ausgefüllten Formulare willkürlich von einer Antragsstellung abgehalten hat.

Wie die Vielzahl der beim Senat anhängigen, gleichgelagerten Verfahren zeigt, wurden vom Beklagten bei einem Beharren auf einer Antragstellung oder bei Übersendung auch formloser An-träge auf dem Postwege diese entgegengenommen und regelmäßig schriftliche Ablehnungsbescheide erteilt. Es ist nicht er-sichtlich, dass dies vorliegend willkürlich verweigert wurde. Klägerseits wird nicht bestritten, dass dem Antrag auf LErzG von Seiten des Beklagten im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit, und damit aus sachlichen Gründen, keine Erfolgsaussicht eingeräumt wurde. Durch die Zeugenaussage des Ehemanns der Klägerin wird gerade nicht belegt, dass abgegebene Anträge etwa ohne sachliche Befassung durch den Beklagten aus Willkür oder sonstigen sachfremden Gründen gegen den ausdrücklichen Willen des Antragstellers nicht bearbeitet worden wären, um damit die Klägerin rechts- und treuwidrig von einer Antragstellung abzuhalten. Es besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass - hätte die Klägerin gleichwohl auf einer förmlichen Entgegennahme und schriftlichen Verbescheidung bestanden oder hätte sie beispielsweise den Antrag wieder mitgenommen und auf dem Postweg eingereicht - der Antrag nicht verbeschieden worden wäre.

Der geschilderte Ablauf deutet damit gerade nicht auf eine willkürliche Weigerung des Beklagten hin, förmliche Anträge auszugeben oder entgegenzunehmen, sondern vielmehr auf ein letztlich selbstbestimmtes Absehen von einer Antragsstellung durch die Klägerin bzw. ihren Ehemann, wenn auch aufgrund einer retrospektiv objektiv falschen Beratung durch den Beklagten. Diese Falschberatung kann aber nach Auffassung des BSG (Urteil vom 27.05.2004, a.a.O.) wie bereits dargestellt, höhere Gewalt i.S. des § 27 SGB X gerade nicht begründen.

Auch aufgrund des richterrechtlich entwickelten Rechtsinsti- tuts eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs steht der Klägerin kein Landeserziehungsgeld für ihr Kind zu. Die Vor- aussetzungen eines Herstellungsanspruchs sind vorliegend nicht erfüllt. Dessen Tatbestand fordert zunächst das Vorliegen ei- ner Pflichtverletzung. Das Bundessozialgericht (Urteile vom 27.05.2004 u. 02.02.2006 a.a.O.) hält den Herstellungsanspruch neben der Wiedereinsetzung für anwendbar. Ein auf die objektiv fehlerhafte Beratung durch den Beklagten gestützter Herstel- lungsanspruch ist nach dem BSG jedoch wegen des Ausspruchs der zeitlichen Beschränkung in der Sürül-Entscheidung für Leis- tungszeiträume vor dem 04.05.1999 nicht gegeben. Ebensowenig ist die Verletzung einer Pflicht des Beklagte anzunehmen, die Klägerin nach der Ablehnung auf einen sich abzeichnenden Wan- del in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bzw. entspre- chende anhängige Verfahren hinzuweisen. Eine solche Hinweis- pflicht könnte allenfalls dann entstehen, wenn es aufgrund gravierender Umstände wahrscheinlich erscheint, dass ein Wandel in der Rechtsprechung eintreten wird. Vor dem 04.05.1999 kann eine solche Hinweispflicht sicher nicht bejaht werden (BSG v. 27.05.2004 a.a.O.).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG und be- rücksichtigt das Unterliegen der Klägerin.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor. Weder wirft dieses Urteil nämlich eine entscheidungserhebliche höchstrichterlich bisher unge- klärte Rechtsfrage grundsätzlicher Art auf, noch weicht es ab von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungs- gerichts und beruht hierauf.
Rechtskraft
Aus
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