L 16 R 858/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 4 RA 1743/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 858/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. April 2006 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von höherer Altersrente für Frauen ab Rentenbeginn am 01. Oktober 2001 unter Zugrundelegung von Entgeltpunkten (EP) anstelle von EP (Ost) im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X).

Die 1941 in K geborene und dort bis 1996 beschäftigte Klägerin besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und ist Spätaussiedlerin i.S. des § 4 Bundesvertriebenengesetz (BVFG). Am 27. Mai 2001 übersiedelte sie aus K in die Bundesrepublik Deutschland, wurde zunächst in der Außenstelle F des Bundesverwaltungsamtes registriert und am 29. Mai 2001 zur Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler in B-M weitergeleitet. Ab Mai 2001 hielt sie sich in einem Aussiedlerheim in B-M-H auf. Seit 01. Mai 2002 wohnt sie in B-S.

Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 18. April 2002 Altersrente für Frauen ab 01. Oktober 2001 in Höhe von monatlich 478,57 EUR (Zahlbetrag) unter Zugrundelegung von persönlichen EP (Ost) von 23,4250.

Im Oktober 2002 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Neufeststellung ihrer Versichertenrente mit der Begründung, dass ihr lediglich EP (Ost) zuerkannt worden seien, obwohl sich ihr Wohnort in B (W) befinde. Sie habe lediglich ca. 11 Monate, d.h. von Mai 2001 bis Mai 2005, in einem Aussiedlerheim in M-H gewohnt, wohin man sie gegen ihren Willen geschickt habe. Ihre erste richtige Wohnung hätte sie sofort in B (W) gewählt. Sie habe ohnehin von Anfang an nur in B (W) leben wollen, da auch ihre Mutter in B (W) lebe. Außerdem habe sie im Westteil der Stadt auch deshalb leben wollen, weil sie sich vom Leben in dieser Hälfte der Stadt eine höhere Lebensqualität erwartet habe.

Mit Bescheid vom 02. Dezember 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. März 2003 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 18. April 2002 nach § 44 Abs. 1 SGB X ab mit der Begründung, dass weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei und die Rente in zutreffender Höhe festgestellt worden sei.

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die auf die Zuerkennung von EP anstelle der bisher zu erkannten EP (Ost) gerichtete Klage ohne mündliche Verhandlung mit Urteil vom 26. April 2006 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Voraussetzungen für eine (teilweise) Rücknahme (und Abänderung) des bindenden Rentenfeststellungsbescheides vom 18. April 2002 gemäß § 44 Abs. 1 SGB X seien nicht erfüllt. Zu Recht habe die Beklagte die Rente unter Berücksichtigung von EP (Ost) festgestellt. Dies ergebe sich aus Artikel 6 § 4 Abs. 6 Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz (FANG). Die Beklagte sei zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet gehabt und dort ihren Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem FRG erworben habe. Entgegen der Begründung im Widerspruchsbescheid sei nicht anhand einer Prognose zu beurteilen, ob und wo ein gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne des § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) vorliege. Entscheidend hierfür seien vielmehr die objektiv gegebenen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse des Einzelfalls im entscheidungserheblichen Zeitraum. "Dauerhaft" sei ein Aufenthalt, wenn und so lange er zukunftsoffen sei. Dabei sei ein Domizilwille, der mit den sonstigen tatsächlichen Umständen nicht übereinstimme, rechtlich unerheblich. Die Registrierung der Klägerin in der Außenstelle F des Bundesverwaltungsamtes und die Weiterleitung am 29. Mai 2001 zur Aufnahmestelle des Landes B für Aussiedler in B-M hätten keinen gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin begründet, weil sie dort nur jeweils einige Tage bis zur Zuweisung einer Unterkunft gewesen sei. Nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen habe dann danach der Lebensschwerpunkt der Klägerin im Beitrittsgebiet gelegen. Sie habe in einem Wohnheim in B-M bis Mai 2002 gewohnt, dort im Beitrittsgebiet Leistungen des Sozialamtes L bezogen, das Rentenverfahren vor dort betrieben, beim dortigen Standesamt ihren Geburtsnamen wieder angenommen und auch den vorläufigen Personalausweis sowie die Bescheinigung über die Spätaussiedlereigenschaft erhalten. Auch in einem Wohnheim könne sich der oder die Betroffene im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhalten und dort den Mittelpunkt seiner/ihrer Lebensbeziehungen haben. Ein Aufenthalt in einem Übergangswohnheim für Aussiedler sei als gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I anzusehen.

Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter und führt zur Begründung aus: Das Urteil sei schon deswegen rechtswidrig, weil es ohne mündliche Verhandlung ergangen sei. In diesem Fall sei ein Gerichtsbescheid zu erstellen. Die Beteiligten seien vorher zu hören. Mit ihr habe niemand diesen Vorgang vereinbart. Es gebe jetzt drei Argumente zum gewöhnlichen Aufenthalt. Die Beklagte setze eine Frist von sechs Monaten; das Landessozialgericht (LSG) Reinland-Pfalz setze in der vom SG Berlin zitierten Entscheidung eine Frist von einem Jahr; der Gesetzgeber setze überhaupt keine Frist. Entscheidend sei natürlich das Gesetz. Der Bezug von Sozialhilfe, das Betreiben des Rentenverfahrens und die Erlangung eines vorläufigen Personalausweises seien unaufschiebbare Sachen. Diese könnten jedoch den vorübergehenden Aufenthalt im Wohnheim nicht in einen gewöhnlichen (ständigen) Aufenthalt verwandeln. In einem Wohnheim verweile der Mensch eindeutig nur vorübergehend.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. April 2006 und den Bescheid der Beklagten vom 02. Dezember 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. März 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine höhere Altersrente für Frauen ab 01. Oktober 2001 unter Zugrundelegung von Entgeltpunkten anstelle von Entgeltpunkten (Ost) zu gewähren und insoweit den Bescheid vom 18. April 2002 zurückzunehmen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie weist darauf hin, dass sich beide Beteiligten mit Schriftsätzen vom 01. August 2003 bzw. vom 01. September 2003 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt hätten.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die zum Verfahren eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Rentenakte der Beklagten sowie die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Gewährung von höherer Altersrente für Frauen ab 01. Oktober 2001 unter Zugrundlegung von EP anstelle von EP (Ost) und Rücknahme des Bescheides vom 18. April 2002 insoweit.

Es kann dahinstehen, ob die Klägerin mit der einen wesentlichen Verfahrensmangel iS des § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bezeichnenden Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) durchgedrungen wäre. Eine Zurückverweisung an das SG scheidet jedenfalls schon deshalb aus, weil - bei unveränderter Sach- und Rechtslage - der Klägerin in der zweiten Tatsacheninstanz rechtliches Gehör gewährt worden ist.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Hiernach hat die Klägerin keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Änderung des Rentenfeststellungsbescheides vom 18. April 2002 gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, weil dieser Bescheid rechtmäßig ist. Die materielle Rechtmäßigkeit des Rentenfeststellungsbescheides beurteilt sich nach den im Zeitpunkt seines Erlasses (Bekanntgabe) gültigen Vorschriften (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 1997, 4 RA 55/95 = SozR 3-2600 § 300 Nr. 10).

Die Ermittlung von EP erfolgt nach Maßgabe des § 22 FRG, denn dieses Gesetz findet gemäß § 1 Buchstabe a FRG auf die als Spätaussiedlerin (§ 4 BVFG) anerkannte Klägerin Anwendung. Die Klägerin hat nur Beitragszeiten bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt (§ 15 FRG). Gemäß Artikel 6 § 4 Abs. 6 Satz 1 Buchstabe a FANG werden bei Berechtigten nach dem FRG, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet haben und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem FRG erwerben, für nach dem FRG anrechenbare Zeiten EP (Ost) ermittelt. Für die nach dem FRG anrechenbaren Zeiten sind somit zwingend EP (Ost) zu ermitteln und der Rentenberechnung zugrunde zu legen. Denn die Klägerin hatte zum maßgeblichen Zeitpunkt ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittgebiet.

Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat den gewöhnlichen Aufenthalt jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Für die Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts sind die objektiv gegebenen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse des Einzelfalls im entscheidungserheblichen Zeitraum maßgebend; auf Prognosen über zukünftige Entwicklungen, auf Veränderungswünsche oder -absichten oder auf den Willen des Betroffenen, sich an einem Ort aufzuhalten oder einen Wohnsitz zu begründen, kommt es nicht an (vgl. BSG, Urteil vom 03. April 2001, B 4 RA 90/00 R = SozR 3-1200 § 30 Nr. 21). Eine feste zeitliche Grenze für die Dauer des "nicht nur vorübergehenden" Verweilens ist weder vom Gesetzgeber noch von der Rechtsprechung definiert worden. Es bedarf keiner Entscheidung, ob "vorübergehend" mit "nicht dauernd" gleichzusetzen ist oder eine Zeitdimension zwischen "vorübergehend" und "dauerhaft" bezeichnet (vgl. dazu KassKomm-Seewald § 30 SGB I Rn. 11).

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts ist der Beginn der Altersrente für Frauen am 01. Oktober 1991. Denn seit diesem Zeitpunkt stehen der Klägerin sowohl das volle Recht (Stammrecht) auf Altersrente für Frauen als auch die daraus als dessen Rechtsfrüchte zu Beginn jeden Monats entstehenden (Einzel-) Ansprüche zu. Nach den objektiv gegebenen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse des Einzelfalls hatte die Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt ihren gewöhnlichen Aufenthalt iS des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I im Beitrittsgebiet (siehe Artikel 3 Einigungsvertrag). Sie hatte dort seit fast vier Monaten in dem Aussiedlerwohnheim in B-M-H gewohnt, im Beitrittsgebiet Leistungen des Sozialamtes L bezogen, das Rentenverfahren von dort betrieben, beim dortigen Standesamt ihren Geburtsnamen wieder angenommen und auch den vorläufigen Personalausweis sowie die Bescheinigung über die Spätaussiedlereigenschaft erhalten. An dieser Beurteilung ändert nichts die Absicht der Klägerin, ihren ständigen Wohnsitz in B (W) begründen zu wollen, weil auch ihre Mutter im Westteil der Stadt lebe und dort eine bessere Lebensqualität bestehe; denn ihr mit den tatsächlichen Umständen nicht übereinstimmender Domizilwille ist nicht erheblich. Eine Veränderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen trat erst nach weiteren sieben Monaten durch den Umzug nach B-S ein.

Durch das jeweils nur einige Tage dauernde Verweilen der Klägerin in der Außenstelle des Bundesverwaltungsamtes und in der Aufnahmestelle des Landes B für Aussiedler in B-M wurde demgegenüber ein gewöhnlicher Aufenthalt iS des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I nicht begründet; ein Verweilen an einem Ort für nur wenige Tage ist in jedem Falle nur "vorübergehend" (vgl. LSG Reinland-Pfalz, Urteil vom 25. September 2003, L 6 R 132/03, veröffentlicht in juris).

Obgleich die Klägerin mit dem Umzug nach B-S ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegt hat, verbleibt es gemäß Artikel 6 § 4 Abs. 6 Satz 3 FANG für Zeiten nach dem FRG bei den ermittelten EP (Ost). Die Regelung des Artikel 6 § 4 Abs. 6 FANG verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz (Art 3 Abs. 1 Grundgesetz - GG) ist nicht verletzt. Zwar wird die Klägerin bei der Ermittlung der EP gegenüber einer Spätaussiedlerin mit vergleichbarer Erwerbsbiographie ungleich behandelt, wenn jene zum maßgeblichen Zeitpunkt ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet begründet hatte. Diese unterschiedliche Behandlung ist jedoch sachlich gerechtfertigt, denn damit wird nur das derzeit in Deutschland noch unterschiedliche Rentenniveau auf FRG-Zeiten übertragen. Der Gesetzgeber knüpft in einer Vielzahl von Regelungen des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung an den gewöhnlichen Aufenthalt oder den Ort der Beschäftigung im Beitrittsgebiet an. Die durch das FRG begründeten Rentenanwartschaften unterliegen auch nicht dem Schutz des Artikel 14 Abs. 1 Satz 1 GG, wenn ihnen ausschließlich Beitritts- und Beschäftigungszeiten zugrunde liegen, die in den Herkunftsgebieten erbracht oder zurückgelegt wurden (vgl. BVerfG, Vorlagebeschluss vom 13. Juni 2006, 1 BvL 9/00, 1 BvL 11/00, 1 BvL 12/00, 1 BvL 5/01, 1 BvL 10/04).

Die bei der Rentenfestsetzung nach Maßgaben des § 22b Abs. 1 FRG durchgeführte Begrenzung der EP (Ost) auf 25 (siehe Anlage 6 zum Rentenbescheid vom 18. April 2002) ist im Übrigen ebenfalls verfassungsgemäß (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 3. Juli 2006, 1 BvR 1224/03, veröffentlicht in juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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