L 6 B 220/07 R

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 9 R 1199/05
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 6 B 220/07 R
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Beklagten wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 15. Januar 2007 aufgehoben.

Gründe:

Der Kläger begehrt mit seiner Klage Rente wegen Erwerbsminderung.

Nach zwei erfolglos gebliebenen Rentenanträgen stellte der Kläger am 23. September 2004 einen erneuten Folgeantrag. Die Beklagte beauftragte die Ärztin für Innere Medizin Dr W mit der Erstellung eines Gutachtens. Diese bescheinigte dem Kläger in ihrem Gutachten vom 22. November 2004 noch eine vollschichtige Leistungsfähigkeit für leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Tätigkeiten. Mit Bescheid vom 24. November 2004 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein. Die Beklagte beauftragte im Widerspruchsverfahren den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr K mit der Erstellung eines Gutachtens. In seinem Gutachten vom 03. Februar 2005 hielt Dr K den Kläger noch für fähig vollschichtig leichte Tätigkeiten auszuüben.

Hiergegen hat der Kläger am 7. März 2005 Klage erhoben, mit der er unter Bezugnahme auf Atteste seiner behandelnden Ärzte Rente wegen Erwerbsminderung geltend macht. Das SG hat zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte (des Internisten Dr B, des Orthopäden Dr G, des Allgemeinmediziners Dr K, des Neurologen Dr B und des Hals-Nasen-Ohren-Arztes Dr S) eingeholt. Der Kläger befand sich vom 01. Juni bis 16. Juni 2005 in stationärer Behandlung im S G Krankenhaus (Entlassungsbericht vom 15. Juni 2005). Er litt nach einem Sturz an einem Schädelhirntrauma und akuter Ertaubung und wurde dort operiert. Das SG hat Prof Dr E mit der Erstellung eines Gutachtens auf dem Gebiet der Hals-Nasen-Ohren-(HNO)-Heilkunde beauftragt. Dieser hat eine Ruptur der runden Fenstermembran des rechten Ohres festgestellt, welche eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit rechts und Schwindel bedinge. Daher sei der Kläger derzeit nicht arbeitsfähig. Erst in einem zeitlichen Abstand von weiteren ein bis zwei Jahren könne geklärt werden, ob ein von dem Unfall unabhängiger Schwindel bereits vor dem Unfall bestanden oder sich verstärkt habe.

Die Beklagte hat dem Kläger ein Vergleichsangebot unterbreitet, wonach sie das Vorliegen von voller Erwerbsminderung seit dem 01. Juni 2005 auf Zeit bis zum 31. Juli 2007 anerkennt und sich verpflichtet, für die Zeit vom 01. Januar 2006 bis 31. Juli 2007 die gesetzlich zustehende Leistung zu gewähren. Dieses Angebot hat der Kläger mit der Begründung nicht angenommen, seine Leistungsfähigkeit sei bereits vor dem Unfall erheblich eingeschränkt gewesen. Mit Bescheid vom 21. September 2006 hat die Beklagte den Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01. Januar 2006 auf Zeit bis zum 31. Juli 2007 anerkannt. Mit Schreiben vom 20. Oktober 2006 hat der Kläger klargestellt, dass er weiterhin ab Antragstellung eine Rente beanspruche. Mit Schreiben vom 26. Januar 2006 hat das SG mitgeteilt, dass es beabsichtige, das Verfahren bis Januar 2008, bis zu einer erneuten Begutachtung, auszusetzen. Mit Schreiben vom 01. November 2006 hat die Beklagte um Klarstellung gebeten, ob die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens für Januar 2007 oder Januar 2008 beabsichtigt sei. Mit Schreiben vom 13. November 2006 hat das SG mitgeteilt, dass bis Januar 2008 gewartet werden solle, um sicherzustellen, dass die Unfallfolgen tatsächlich abgeklungen seien. Mit Schreiben vom 17. November 2006 hat der Kläger dazu sein Einverständnis erklärt.

Mit Beschluss vom 15. Januar 2007 hat das SG Berlin das Verfahren bis zum 31. Januar 2008 ausgesetzt. Da der Sachverständige Prof Dr E in seinem Gutachten festgestellt habe, dass eine Begutachtung der Frage, ob eine Schwindelerkrankung vorliege, erst nach ein bis zwei Jahren nach der Erstattung seines Gutachtens vom Januar 2006 möglich sei, sei das Verfahren in analoger Anwendung des § 114 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bis zum 31. Januar 2008 auszusetzen.

Gegen den am 25. Januar 2007 zugestellten Beschluss wendet sich die Beklagte mit der Beschwerde. Es fehle an einer Rechtsgrundlage für die Aussetzung. Für eine analoge Anwendung des § 114 SGG fehle es an einer gesetzlichen Regelungslücke. Nachdem mit Bescheid vom 21. September 2006 der Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung ausgehend von einem Eintritt des Leistungsfalles am 01. Juni 2005 für die Zeit vom 01. Januar 2006 auf Zeit bis zum 31. Juli 2007 anerkannt worden sei, sei Gegenstand des Klageverfahrens nur noch die Frage, ob dem Kläger statt des Anspruchs auf Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit ein Anspruch auf Dauerrente zustehe und daneben die Frage, ob der Leistungsfall bereits vor dem 01. Juni 2005 eingetreten sei. Hinsichtlich der Frage der Dauerrente könne im Hinblick auf die Regelung des § 102 Abs 2 Satz 4 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) eine Entscheidung nach der Beweislast getroffen werden. Die Ungewissheit über die künftige Entwicklung des Gesundheitszustandes des Klägers, aus der Rückschlüsse auf einen für möglich gehaltenen früheren Eintritt des Leistungsfalles gezogen werden sollen, begründe keine vergleichbare "Vorgreiflichkeit" im Sinne des § 114 SGG. Außerdem seien die Möglichkeiten der medizinischen Sachaufklärung nicht hinreichend ausgeschöpft worden.

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.

II.

Die gemäß §§ 172 , 173 SGG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig und auch sachlich begründet. Eine gesetzliche Grundlage für die Aussetzung des Verfahrens besteht nicht. Von der Verpflichtung zur zügigen Bearbeitung anhängiger Rechtsstreite lässt § 114 SGG Ausnahmen zu. Die Richter dürfen einen Rechtsstreit aussetzen und damit einen Stillstand des Verfahrens herbeiführen, wenn der Ausgang des Rechtsstreits von vorgreiflichen Rechtsfragen abhängt (Peters/Sautter/Wolf, SGG, 4. Aufl § 114 Rdnr 1). Zweck der Vorschrift ist es, überflüssige Mehrarbeit und Gefahr einander widersprechender Entscheidungen dadurch zu vermeiden, dass die Entscheidung des in erster Linie zuständigen Gerichts oder der Verwaltungsstelle abgewartet wird (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl, Vor § 114 Rdnr 1a). § 114 SGG enthält dabei verschiedene Aussetzungstatbestände: Aussetzung wegen Vorgreiflichkeit eines familien- oder erbrechtlichen Verhältnisses (§ 114 Abs 1 SGG), Aussetzung wegen Vorgreiflichkeit wegen Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses (§ 114 Abs 2 Satz 1 SGG), Aussetzung zur Heilung von Verfahrensfehlern (§ 114 Abs 2 Satz 2 SGG) und Aussetzung wegen des Verdachts strafbarer Handlungen (§ 114 Abs 3 SGG). Wie das SG zutreffend erkannt hat, liegt keiner der gesetzlich normierten Aussetzungstatbestände vor. Auch eine analoge Anwendung scheidet entgegen der Ansicht des SG aus. In der Praxis wird zwar ein Bedürfnis für die entsprechende Anwendung des § 114 SGG in weiteren Fällen anerkannt und aus prozesswirtschaftlichen Gründen auch vom Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung bejaht, insbesondere bei Fehlen einer Prozessvoraussetzung, die der Kläger nachträglich erfüllen kann (zB Nachholung des Vorverfahrens vgl BSG 25, 66, 68, BSG SozR 3-5540 Anl 1 § 10 Nr 1) oder wenn zur selben Rechtsfrage bereits Verfassungsbeschwerden anhängig sind, nicht zu erwarten steht, dass weitere Vorlagen an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dessen Entscheidung beeinflussen können, und mit der Entscheidung des BVerfG in absehbarer Zeit zu rechnen ist (vgl BSG Breith 1992, 791 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). In solchen Fällen soll durch die Möglichkeit der Aussetzung des Verfahrens ua verhindert werden, dass die obersten Gerichtshöfe des Bundes und das BVerfG mit einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle "überschwemmt" werden. Einer dieser Fälle oder eine diesen Fällen vergleichbare Situation liegt hier nicht vor. Das SG geht davon aus, dass der Rechtsstreit derzeit nicht entscheidungsreif ist, weil die Beweisaufnahme noch nicht abgeschlossen ist. Dieser Ansatz ist zu teilen. Jedenfalls über die Frage, ob ein Versicherungsfall der Erwerbsminderung vor dem 1. Juni 2005 eingetreten ist, könnte derzeit nur nach Beweislastgrundsätzen entschieden werden. Dies kommt im sozialgerichtlichen Verfahren aber erst in Betracht, wenn alle nach Lage der Sache erforderlichen Ermittlungen, wozu das SG in vertretbarer Weise eine weitere HNO-ärztliche Begutachtung rechnet, durchgeführt sind. Davon ausgehend liegt nach der – von der Beklagten bezweifelten - Einschätzung des SG die Situation der aktuell nicht möglichen, zukünftig aber möglich werdenden Beweisaufnahme vor. Dieser ist nicht durch eine Aussetzungsentscheidung zu begegnen. Vielmehr ist das SG gehalten, seine verfahrensleitende Funktion unter Beachtung der Interessenlage der Beteiligten bezüglich dieser Problematik auszuüben. Das SG steht insoweit also nicht "unter der Kontrolle" des Rechtsmittelgerichts, unter die es sich mit dem angefochtenen Beschluss begeben wollte. Als Korrektiv für gänzlich unvertretbare Verfahrensweisen kommt vielmehr allein der in der Rechtsprechung teilweise bei willkürlichem Verhalten in Betracht gezogene außerordentliche Rechtsbehelf der sogenannten Untätigkeitsbeschwerde in Betracht (vgl BVerfG NJW 1997, 2811; LSG Berlin, Beschluss vom 27. Januar 2005 – L 9 B 11/05 KR- veröffentlicht in Juris mwN; LSG Nordrhein-Westfalen SGb 2002, 734; LSG Berlin, Beschluss vom 20. Februar 2002 – L 12 B 4/02 RA; LSG Rheinland-Pfalz Breithaupt 2000, 618, VGH München NVwZ 2000, 693). Nicht analogiefähig ist insbesondere § 640f Zivilprozessordnung (ZPO); die Vorschrift ist nach Kenntnis des Senats, die einzige in den gerichtlichen Verfahrensordnungen vorfindliche Regelung zur Aussetzung des Verfahrens, wenn bestimmte Gutachten erst zu einem späteren Zeitpunkt eingeholt werden können. Dieser besondere Aussetzungstatbestand besteht nur in Verfahren in Kindschaftssachen (Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, ZPO, 65. Aufl. § 640f Rdnr 2); eine analoge Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 640f ZPO ist nicht möglich (vgl OLG Köln FamRZ 1983, 825, 826). In den übrigen Zivilprozessen ist das Möglichwerden der Beweisaufnahme abzuwarten, soweit das dem Gegner billigerweise zugemutet werden kann (Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl § 356 Rdnr 8; vgl OLG Frankfurt NJW 1963, 912 in einer Beschwerdeentscheidung über eine Beweisanordnung zu der Frage der Funktionstauglichkeit eines Mähdreschers, die im dortigen Fall erst nach Ablauf von neun Monaten - zur Erntezeit - überprüft werden konnte). Die Voraussetzungen der Aussetzung des erstinstanzlichen Verfahrens sind demnach nicht erfüllt. Da auch eine Umdeutung des Beschlusses in eine Ruhensanordnung nach § 202 SGG iVm § 251 ZPO wegen fehlendem Einverständnis der Beklagten an einem Nichtbetreiben des Verfahrens nicht in Betracht kommt, war der angefochtene Beschluss deshalb aufzuheben. Ein Rechtsmittel gegen diesen Beschluss ist nicht gegeben (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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