Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Konstanz (BWB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 8 KR 1641/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 06.04.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.06.2005 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von der Rechnung der H.-J.-GmbH vom 19.12.2005 in Höhe von 540 EUR freizustellen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand:
Die Klägerin verlangt die Kostenübernahme für ein Selbstbehauptungstraining.
Die 1994 geborene Klägerin leidet unter einer geistigen Behinderung und motorischen Entwicklungsstörung. Am 16.02.2005 fragte die Berufs- und Arbeitstherapeutin B. N. vom H.-J., einem neurologischen Krankenhaus und Rehabilitationszentrum, bei der Beklagten an, ob die Klägerin an einem Therapieangebot zur Selbstbehauptung teilnehmen könne. Mädchen mit Behinderungen seien stärkerer Gewalt ausgesetzt und oftmals leichte Opfer.
Hierauf antwortete die Beklagte am 17.02.2005, dass sie als Krankenkasse nicht für Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins zuständig sei. Bei diesem Therapieangebot sei der Sozialhilfeträger zuständig.
Vom 18.02.2005 bis 15.04.2005 nahm die Klägerin an einem "Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungstraining nach Sunny Graf" teil (9 Übungseinheiten in einer Gruppe). Hierfür wurden 540 EUR in Rechnung gestellt (Rechnung vom 19.12.2005).
Unter dem 09.03.2005 beantragte Frau N. im Namen von der Klägerin erneut die Kostenübernahme für das Training nach § 44 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch (SGB) IX. Das Sozialamt hätte eine Kostenübernahme abgelehnt. Vorgelegt wurde ein Antrag auf Kostenübernahme für Rehabilitationssport vom Kinderarzt Dr. W. vom 18.02.2005, worin eine Übung zur Stärkung des Selbstbewusstseins empfohlen wurde.
Mit Schreiben vom 06.04.2005 lehnte die Beklagte gegenüber der Klägerin die Kostenübernahme ab. Die Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins seien keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung und das J. in G. kein anerkannter Leistungsanbieter für Rehabilitationssport.
Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 02.06.2005).
Am 01.07.2005 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht Konstanz Klage erhoben. Zur Begründung hat sie u.a. eine Bescheinigung von Dr. W. vom 28.06.2005 vorgelegt, wonach der Klägerin von der Rentenversicherung eine Rehabilitationsmaßnahme (Stationäre Kinderheilbehandlung) im Herbst 2005 bewilligt worden sei. Vorher habe sie die Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins wahrgenommen, die unter ständiger Supervision der Ärzte erfolgt seien. Die Übungen seien notwendig gewesen, da Pubertät, in der sich die Klägerin befinde, eine gefährliche Phase für geistig behinderte Mädchen sei.
Das H.-J. hat dem Gericht die Auskunft erteilt (Schreiben vom 17.01.2006), dass das Selbstbehauptungstraining nicht von Ärzten überwacht werde, da dies nur in besonders schwierigen Fällen notwendig sei. Wäre eine ärztliche Versorgung notwendig gewesen, hätte diese jederzeit sofort stattfinden können.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 06.04.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.06.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, sie von der Rechnung der H.-J.-GmbH vom 19.12.2005 in Höhe von 540 EUR freizustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte führt ergänzend an, dass die Krankenkassenleistungen "Rehabilitationssport und Funktionstraining" in einer Rahmenvereinbarung geregelt worden seien. In dieser Vereinbarung seien auch spezielle Übungen für behinderte Mädchen, deren Selbstbewusstsein in Folge der Behinderung eingeschränkt sei, vorgesehen. Das H.-J. sei nicht als Rehabilitationssportgruppe anerkannt gewesen. Das Selbstbehauptungstraining könne zudem nicht in eigenständigen Übungen sondern nur innerhalb von anderen Rehabilitationssportveranstaltungen wahrgenommen werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten, auf die im Gerichtsverfahren gewechselten Schriftsätze und die Sitzungsniederschrift vom 29.06.2006 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und auch begründet. Der Bescheid vom 06.04.2005 und der Widerspruchsbescheid vom 02.06.2005 sind rechtwidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin kann von der Beklagten die Freistellung von den Kosten verlangen, die ihr durch die Teilnahme an dem Selbstbehauptungstraining vom 18.02.2005 bis 15.04.2005 entstanden sind.
Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V erhalten die Versicherten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen, soweit das SGB V oder das SGB IX nicht Abweichendes vorsehen. Die Krankenkasse darf anstelle der Sach- oder Dienstleistung (§ 2 Abs. 2 SGB V) Kosten nur erstatten, soweit es das SGB V oder das SGB IX vorsieht (§ 13 Abs. 1 SGB V).
Die Kosten für selbstbeschaffte Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach dem SGB IX werden nach § 15 SGB IX erstattet. § 15 Abs. 1 Satz 3 SGB IX bestimmt, dass eine Erstattungspflicht besteht, wenn der Rehabilitationsträger eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen kann oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat.
Der notwendige Kausalzusammenhang zwischen Ablehnung durch die Krankenkasse und der Selbstbeschaffung der Leistung (vgl. hierzu Höfler in Kasseler Kommentar, § 13 SGB V Rn. 38) besteht, da die Beklagte noch vor Antritt der Reha-Maßnahme diesbezüglich angefragt wurde und noch am 17.02.2005 eine Ablehnung der Leistungserbringung erfolgte. Die von der Klägerin wahrgenommene Rehabilitationsmaßnahme wurde von der Beklagten auch zu Unrecht abgelehnt.
Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sowie auf unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, die notwendig sind, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mindern. Zu diesen ergänzenden Leistungen zur medizinischen Rehabilitation der gesetzlichen Krankenversicherung gehört nach § 43 SGBV i.V.m. § 44 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX ärztlich verordneter Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung, einschließlich Übungen für behinderte oder von Behinderung bedrohten Frauen und Mädchen, die der Stärkung des Selbstbewusstseins dienen. Dabei wird vorausgesetzt, dass diese Leistung im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB V ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich und notwendig ist.
Für die Prüfung der Notwendigkeit des Rehabilitationssports ist auch die Rahmenvereinbarung der Rehabilitationsträger, die am 01. Oktober 2003 in Kraft getreten ist und für alle ab 01. Oktober 2003 ausgestellten ärztlichen Verordnungen gilt, heranzuziehen.
Nach Ziff. 2.3 der Rahmenvereinbarung beinhaltet der Rehabilitationssport bei Bedarf spezielle Übungen, mit denen die Stärkung des Selbstbewusstseins im Rahmen des Rehabilitationssports erreicht werden kann. Hierunter versteht man nicht die intensive Ausbildung in Kampfsportarten, sondern lediglich das Hinwirken auf sensible Verhaltensweisen in bedrohenden Situationen (z.B. Aufklärung einschließlich Übungen von geschicktem Verhalten bei Situationen, in denen der behinderte Mensch verbal oder körperlich von anderen angegriffen wird; vgl. Jahn/Wurm, SGB IX, § 44 Rz. 13). Diese Übungseinheiten müssen von Übungsleiterinnen geleitet werden (Ziff. 13.3 der Rahmenvereinbarung).
Der Rehabilitationssport wurde vom Gesetzgeber im Jahr 2001 um diese Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins erweitert (vgl. BT-Drs. 14/5074, S. 95), da Untersuchungen ergeben hatten, dass behinderte oder von Behinderung bedrohte Frauen und Mädchen seelisch besonders intensiv unter ihrer Behinderung leiden und dass dadurch ihr Selbstbewusstsein wesentlich schwächer ausgeprägt ist. Aufgrund der Behinderung und ihrer Verhaltensweisen sind sie wesentlich mehr Straftaten ausgesetzt als die übrige Bevölkerung. Um diesen Personenkreis präventiv vor diesen möglichen Straftaten zu schützen, werden in den Rehabilitationssport erstmals Übungen eingebettet, die speziell behinderte oder von einer Behinderung bedrohte Frauen und Mädchen befähigen sollen, sich bei Gefahren für sich und ihr Leben zu schützen (Jahn/Wurm, a.a.O.).
Ausweislich der Verordnung des Kinder- und Jugendarztes Dr. W. vom 18.02.2005 lag bei der Klägerin eine Indikation für die Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins vor. Sie wird durch den Vortrag des Vaters der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, dass sich die Klägerin bereits mehrerer sexueller Angriffe ausgesetzt sah, veranschaulicht. Die Indikation wird von der Beklagten auch nicht in Frage gestellt.
Da ausweislich der von der Beklagten vorgelegten Unterlagen (Bl. 22, 23 der Gerichtsakte) die im Landkreis K. anerkannten Rehabilitationssportgruppen keine Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins anbieten, war es der Klägerin nicht verwehrt bei einem nicht anerkannten Träger, dem H.-J., die Maßnahme durchzuführen. Bei derartigen Versorgungslücken bzgl. einer gesetzlichen Leistung kann der Versicherte auf nichtzugelassene Leistungserbringer zurückgreifen (vgl. Höfler in Kasseler Kommentar, a.a.O., Rn. 34).
Die durchgeführte Maßnahme entsprach auch den Bestimmungen der Rahmenvereinbarung: Die Übung wurde in einer Gruppe durchgeführt. Eine Beratung der Veranstaltung nach Bedarf durch einen Arzt (vgl. 12.1 der Rahmenvereinbarung) war ausweislich der Auskunft des H.-J. vom 17.01.2006 gewährleistet. Die Übungsveranstaltung wurde zudem durch eine ausgebildete Übungsleiterin (vgl. 13.3 der Rahmenvereinbarung) geleitet. Die Leiterin Frau N. ist gelernte Berufs- und Arbeitstherapeutin.
Die Argumentation der Beklagten, dass das Selbstbehauptungstraining nur innerhalb anderer Rehabilitationssportübungen stattfinden müsse und nicht selbständig wahrgenommen werden könne, dringt nicht durch. Es ist weder aus dem Gesetz noch aus der Rahmenvereinbarung ersichtlich, dass Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins nur im Rahmen von anderen Sportübungen stattfinden können. Es ist auch keineswegs zwingend, dass die Teilnehmer an Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins jeweils auch Bedarf an körperlicher Rehabilitation zeigen. Dies gilt insbesondere für geistige Behinderungen. Dem folgend spricht die Rahmenvereinbarung ausdrücklich von speziellen oder eigenständigen Übungsveranstaltungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins (vgl. 2.5, 5.1 und 13.3 der Rahmenvereinbarung)
Weiter war die beklagte Krankenkasse für die Maßnahme als Rehabilitationsträger auch zuständig. § 43 Abs. 1 SGB V verweist ausdrücklich auf die ergänzenden Leistungen des § 44 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 SGB IX, zu denen auch die streitgegenständliche Selbstbehauptungsmaßnahme gehört. Außerdem hat die Beklagte trotz Unzuständigkeitsfeststellung den Rehabilitationsantrag der Klägerin nicht an den von ihr als zuständig erachteten Träger weitergeleitet, so dass sie nicht mit dem Argument der Unzuständigkeit gehört werden kann (vgl. § 14 SGB IX; vgl. hierzu auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 03.05.2005, Az. L 11 KR 1634/04)
Ein Anspruch nach § 15 SGB IX scheitert hier nicht an einer fehlenden eigenen finanziellen Betroffenheit der Klägerin. Sind Kosten entstanden, aber gestundet, besteht gleichwohl Anspruch auf Freistellung von der eingegangenen Verbindlichkeit (BSGE 73, 271, 276; 79, 190, 191; 86, 54, 55).
Nach alledem war der Klage in vollem Umfang stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Tatbestand:
Die Klägerin verlangt die Kostenübernahme für ein Selbstbehauptungstraining.
Die 1994 geborene Klägerin leidet unter einer geistigen Behinderung und motorischen Entwicklungsstörung. Am 16.02.2005 fragte die Berufs- und Arbeitstherapeutin B. N. vom H.-J., einem neurologischen Krankenhaus und Rehabilitationszentrum, bei der Beklagten an, ob die Klägerin an einem Therapieangebot zur Selbstbehauptung teilnehmen könne. Mädchen mit Behinderungen seien stärkerer Gewalt ausgesetzt und oftmals leichte Opfer.
Hierauf antwortete die Beklagte am 17.02.2005, dass sie als Krankenkasse nicht für Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins zuständig sei. Bei diesem Therapieangebot sei der Sozialhilfeträger zuständig.
Vom 18.02.2005 bis 15.04.2005 nahm die Klägerin an einem "Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungstraining nach Sunny Graf" teil (9 Übungseinheiten in einer Gruppe). Hierfür wurden 540 EUR in Rechnung gestellt (Rechnung vom 19.12.2005).
Unter dem 09.03.2005 beantragte Frau N. im Namen von der Klägerin erneut die Kostenübernahme für das Training nach § 44 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch (SGB) IX. Das Sozialamt hätte eine Kostenübernahme abgelehnt. Vorgelegt wurde ein Antrag auf Kostenübernahme für Rehabilitationssport vom Kinderarzt Dr. W. vom 18.02.2005, worin eine Übung zur Stärkung des Selbstbewusstseins empfohlen wurde.
Mit Schreiben vom 06.04.2005 lehnte die Beklagte gegenüber der Klägerin die Kostenübernahme ab. Die Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins seien keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung und das J. in G. kein anerkannter Leistungsanbieter für Rehabilitationssport.
Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 02.06.2005).
Am 01.07.2005 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht Konstanz Klage erhoben. Zur Begründung hat sie u.a. eine Bescheinigung von Dr. W. vom 28.06.2005 vorgelegt, wonach der Klägerin von der Rentenversicherung eine Rehabilitationsmaßnahme (Stationäre Kinderheilbehandlung) im Herbst 2005 bewilligt worden sei. Vorher habe sie die Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins wahrgenommen, die unter ständiger Supervision der Ärzte erfolgt seien. Die Übungen seien notwendig gewesen, da Pubertät, in der sich die Klägerin befinde, eine gefährliche Phase für geistig behinderte Mädchen sei.
Das H.-J. hat dem Gericht die Auskunft erteilt (Schreiben vom 17.01.2006), dass das Selbstbehauptungstraining nicht von Ärzten überwacht werde, da dies nur in besonders schwierigen Fällen notwendig sei. Wäre eine ärztliche Versorgung notwendig gewesen, hätte diese jederzeit sofort stattfinden können.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 06.04.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.06.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, sie von der Rechnung der H.-J.-GmbH vom 19.12.2005 in Höhe von 540 EUR freizustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte führt ergänzend an, dass die Krankenkassenleistungen "Rehabilitationssport und Funktionstraining" in einer Rahmenvereinbarung geregelt worden seien. In dieser Vereinbarung seien auch spezielle Übungen für behinderte Mädchen, deren Selbstbewusstsein in Folge der Behinderung eingeschränkt sei, vorgesehen. Das H.-J. sei nicht als Rehabilitationssportgruppe anerkannt gewesen. Das Selbstbehauptungstraining könne zudem nicht in eigenständigen Übungen sondern nur innerhalb von anderen Rehabilitationssportveranstaltungen wahrgenommen werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten, auf die im Gerichtsverfahren gewechselten Schriftsätze und die Sitzungsniederschrift vom 29.06.2006 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und auch begründet. Der Bescheid vom 06.04.2005 und der Widerspruchsbescheid vom 02.06.2005 sind rechtwidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin kann von der Beklagten die Freistellung von den Kosten verlangen, die ihr durch die Teilnahme an dem Selbstbehauptungstraining vom 18.02.2005 bis 15.04.2005 entstanden sind.
Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V erhalten die Versicherten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen, soweit das SGB V oder das SGB IX nicht Abweichendes vorsehen. Die Krankenkasse darf anstelle der Sach- oder Dienstleistung (§ 2 Abs. 2 SGB V) Kosten nur erstatten, soweit es das SGB V oder das SGB IX vorsieht (§ 13 Abs. 1 SGB V).
Die Kosten für selbstbeschaffte Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach dem SGB IX werden nach § 15 SGB IX erstattet. § 15 Abs. 1 Satz 3 SGB IX bestimmt, dass eine Erstattungspflicht besteht, wenn der Rehabilitationsträger eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen kann oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat.
Der notwendige Kausalzusammenhang zwischen Ablehnung durch die Krankenkasse und der Selbstbeschaffung der Leistung (vgl. hierzu Höfler in Kasseler Kommentar, § 13 SGB V Rn. 38) besteht, da die Beklagte noch vor Antritt der Reha-Maßnahme diesbezüglich angefragt wurde und noch am 17.02.2005 eine Ablehnung der Leistungserbringung erfolgte. Die von der Klägerin wahrgenommene Rehabilitationsmaßnahme wurde von der Beklagten auch zu Unrecht abgelehnt.
Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sowie auf unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, die notwendig sind, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mindern. Zu diesen ergänzenden Leistungen zur medizinischen Rehabilitation der gesetzlichen Krankenversicherung gehört nach § 43 SGBV i.V.m. § 44 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX ärztlich verordneter Rehabilitationssport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung und Überwachung, einschließlich Übungen für behinderte oder von Behinderung bedrohten Frauen und Mädchen, die der Stärkung des Selbstbewusstseins dienen. Dabei wird vorausgesetzt, dass diese Leistung im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB V ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich und notwendig ist.
Für die Prüfung der Notwendigkeit des Rehabilitationssports ist auch die Rahmenvereinbarung der Rehabilitationsträger, die am 01. Oktober 2003 in Kraft getreten ist und für alle ab 01. Oktober 2003 ausgestellten ärztlichen Verordnungen gilt, heranzuziehen.
Nach Ziff. 2.3 der Rahmenvereinbarung beinhaltet der Rehabilitationssport bei Bedarf spezielle Übungen, mit denen die Stärkung des Selbstbewusstseins im Rahmen des Rehabilitationssports erreicht werden kann. Hierunter versteht man nicht die intensive Ausbildung in Kampfsportarten, sondern lediglich das Hinwirken auf sensible Verhaltensweisen in bedrohenden Situationen (z.B. Aufklärung einschließlich Übungen von geschicktem Verhalten bei Situationen, in denen der behinderte Mensch verbal oder körperlich von anderen angegriffen wird; vgl. Jahn/Wurm, SGB IX, § 44 Rz. 13). Diese Übungseinheiten müssen von Übungsleiterinnen geleitet werden (Ziff. 13.3 der Rahmenvereinbarung).
Der Rehabilitationssport wurde vom Gesetzgeber im Jahr 2001 um diese Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins erweitert (vgl. BT-Drs. 14/5074, S. 95), da Untersuchungen ergeben hatten, dass behinderte oder von Behinderung bedrohte Frauen und Mädchen seelisch besonders intensiv unter ihrer Behinderung leiden und dass dadurch ihr Selbstbewusstsein wesentlich schwächer ausgeprägt ist. Aufgrund der Behinderung und ihrer Verhaltensweisen sind sie wesentlich mehr Straftaten ausgesetzt als die übrige Bevölkerung. Um diesen Personenkreis präventiv vor diesen möglichen Straftaten zu schützen, werden in den Rehabilitationssport erstmals Übungen eingebettet, die speziell behinderte oder von einer Behinderung bedrohte Frauen und Mädchen befähigen sollen, sich bei Gefahren für sich und ihr Leben zu schützen (Jahn/Wurm, a.a.O.).
Ausweislich der Verordnung des Kinder- und Jugendarztes Dr. W. vom 18.02.2005 lag bei der Klägerin eine Indikation für die Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins vor. Sie wird durch den Vortrag des Vaters der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, dass sich die Klägerin bereits mehrerer sexueller Angriffe ausgesetzt sah, veranschaulicht. Die Indikation wird von der Beklagten auch nicht in Frage gestellt.
Da ausweislich der von der Beklagten vorgelegten Unterlagen (Bl. 22, 23 der Gerichtsakte) die im Landkreis K. anerkannten Rehabilitationssportgruppen keine Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins anbieten, war es der Klägerin nicht verwehrt bei einem nicht anerkannten Träger, dem H.-J., die Maßnahme durchzuführen. Bei derartigen Versorgungslücken bzgl. einer gesetzlichen Leistung kann der Versicherte auf nichtzugelassene Leistungserbringer zurückgreifen (vgl. Höfler in Kasseler Kommentar, a.a.O., Rn. 34).
Die durchgeführte Maßnahme entsprach auch den Bestimmungen der Rahmenvereinbarung: Die Übung wurde in einer Gruppe durchgeführt. Eine Beratung der Veranstaltung nach Bedarf durch einen Arzt (vgl. 12.1 der Rahmenvereinbarung) war ausweislich der Auskunft des H.-J. vom 17.01.2006 gewährleistet. Die Übungsveranstaltung wurde zudem durch eine ausgebildete Übungsleiterin (vgl. 13.3 der Rahmenvereinbarung) geleitet. Die Leiterin Frau N. ist gelernte Berufs- und Arbeitstherapeutin.
Die Argumentation der Beklagten, dass das Selbstbehauptungstraining nur innerhalb anderer Rehabilitationssportübungen stattfinden müsse und nicht selbständig wahrgenommen werden könne, dringt nicht durch. Es ist weder aus dem Gesetz noch aus der Rahmenvereinbarung ersichtlich, dass Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins nur im Rahmen von anderen Sportübungen stattfinden können. Es ist auch keineswegs zwingend, dass die Teilnehmer an Übungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins jeweils auch Bedarf an körperlicher Rehabilitation zeigen. Dies gilt insbesondere für geistige Behinderungen. Dem folgend spricht die Rahmenvereinbarung ausdrücklich von speziellen oder eigenständigen Übungsveranstaltungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins (vgl. 2.5, 5.1 und 13.3 der Rahmenvereinbarung)
Weiter war die beklagte Krankenkasse für die Maßnahme als Rehabilitationsträger auch zuständig. § 43 Abs. 1 SGB V verweist ausdrücklich auf die ergänzenden Leistungen des § 44 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 SGB IX, zu denen auch die streitgegenständliche Selbstbehauptungsmaßnahme gehört. Außerdem hat die Beklagte trotz Unzuständigkeitsfeststellung den Rehabilitationsantrag der Klägerin nicht an den von ihr als zuständig erachteten Träger weitergeleitet, so dass sie nicht mit dem Argument der Unzuständigkeit gehört werden kann (vgl. § 14 SGB IX; vgl. hierzu auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 03.05.2005, Az. L 11 KR 1634/04)
Ein Anspruch nach § 15 SGB IX scheitert hier nicht an einer fehlenden eigenen finanziellen Betroffenheit der Klägerin. Sind Kosten entstanden, aber gestundet, besteht gleichwohl Anspruch auf Freistellung von der eingegangenen Verbindlichkeit (BSGE 73, 271, 276; 79, 190, 191; 86, 54, 55).
Nach alledem war der Klage in vollem Umfang stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
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