L 3 R 539/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 6 RJ 1851/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 R 539/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 13. November 2003 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die teilweise Aufhebung der Entscheidung über die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und die Erstattung überzahlter Leistungen in Höhe von 3888,74 DM.

Der am 15.2.1938 geborenen Klägerin türkischer Staatsangehörigkeit, die keinen Beruf erlernt hat und zuletzt als Putzfrau beschäftigt war, gewährte die Beklagte auf Antrag vom 21.7.1994 mit Bescheid vom 11.11.1994 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab dem 1.7.1994. Zu Grunde lagen eine chirurgische und nervenärztliche Begutachtung mit dem Ergebnis eines zweistündigen bis unter halbschichtigen Leistungsvermögens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Rentengewährung erfolgte damit abhängig von den Verhältnissen des Arbeitsmarktes. Hierauf und auch auf die Möglichkeit des (teilweisen) Entfallens des Rentenanspruchs für die Dauer eines gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland sowie auf die Verpflichtung zur Mitteilung der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in das Ausland wurde die Klägerin im Rentenbescheid ausdrücklich hingewiesen (zur näheren Feststellung der Einzelheiten wird auf den Rentenbescheid vom 11.11.1994 Bezug genommen).

Nachdem die Klägerin in der Folgezeit vom 7.4.1999 bis zum 14.11.2000 ihren Aufenthalt in der Türkei genommen hatte (vgl. u. a. die Nachweise auf Blatt 14 und 21 der Rentenakte, hier und im Folgenden Teil II), ohne die Beklagte, die dies erst durch eine am 19.6.2000 bei ihr eingegangene Mitteilung der Landesversicherungsanstalt (LVA) B. erfuhr, hierüber zu informieren, hörte die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 25.7.2000 zur beabsichtigten Aufhebung der mit Bescheid vom 11.11.1994 erfolgten Rentengewährung für die Vergangenheit gemäß § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und zur Erstattungsforderung bezüglich der Überzahlung (für die Dauer des gewöhnlichen Aufenthalts in der Türkei stehe der Klägerin nach § 112 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VI] - in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung - nämlich lediglich eine Rente wegen Berufsunfähigkeit in Höhe von monatlich 503,38 DM zu) an und forderte die Klägerin zur Stellung eines Antrags auf Gewährung von Altersrente für Frauen auf (wegen der Einzelheiten vgl. Blatt 6 der Rentenakte). Den entsprechenden Rentenantrag stellte die Klägerin am 5.10.2000 (Blatt 20 der Rentenakte).

Mit Bescheid vom 20.11.2000 gewährte die Beklagte der Klägerin sodann Altersrente für Frauen ab dem 1.10.2000.

Mit Bescheid vom 16.2.2001 hob die Beklagte die mit Bescheid vom 11.11.1994 erfolgte Rentengewährung für die Zeit ab dem 1.5.1999 gemäß § 48 SGB X auf und gewährte ab diesem Zeitpunkt nur noch eine Rente wegen Berufsunfähigkeit, nachdem sie bereits zuvor mit - nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehenem - Schreiben vom 9.2.2001 für die Zeit vom 1.5.1999 bis zum 30.9.2000 eine Überzahlung in Höhe von 3888,74 DM festgestellt hatte (zur näheren Feststellung der Einzelheiten wird auf Blatt 88/90 der Rentenakte Bezug genommen).

Dagegen erhob die Klägerin am 13.3.2001 Widerspruch, mit welchem sie u. a. bestritt, ab dem 7.4.1999 den gewöhnlichen Aufenthalt in die Türkei verlegt zu haben (sie habe sich lediglich zu Urlaubszwecken im Heimatland aufgehalten), und geltend machte, sie hätte bereits ab dem 1.3.1998 Antrag auf Gewährung von Altersrente für Frauen stellen können, sei von der Beklagten hierüber aber nicht informiert worden. In der Folgezeit machte sie außerdem geltend, dass sie bereits für die Zeit vor Oktober 2000 Anspruch auf Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage gehabt habe.

Mit - mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehenem - Bescheid vom 27.3.2001 stellte die Beklagte Bezug nehmend auf den Bescheid vom 9.2.2001 eine Überzahlung in Höhe von 3888,74 DM fest und verlangte insoweit die Erstattung gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X unter Hinweis mit Einräumung einer Äußerungsmöglichkeit auf einen beabsichtigten Einbehalt von der Altersrente in Höhe von monatlich 200 DM ab dem 1.6.2001 (wegen der Einzelheiten vgl. Blatt 101/102 der Rentenakte). Gegen die endgültige Festsetzung eines monatlichen Einbehalts in Höhe von 200 DM für die Zeit ab dem 1.7.2001 im Rentenneuberechnungsbescheid vom 15.5.2001 erhob die Klägerin gesondert Widerspruch, worauf der Einbehalt nicht vollzogen wurde (Blatt 111, 113 der Rentenakte). Mit Zustimmung der Klägerin einbehalten wurde in der Folgezeit ab dem 1.1.2002 monatlich ein Betrag in Höhe von 100 EUR im Hinblick auf die - hier nicht streitgegenständliche - Doppelzahlung von Altersrente durch die Beklagte und die - damalige - LVA A. (vgl. Blatt 136, 140 und 142 der Rentenakte).

Im Hinblick auf den Vortrag der Klägerin zum Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit bereits für die Zeit vor Oktober 2000 veranlasste die Beklagte die nochmalige nervenärztliche und sozialmedizinische Begutachtung (Gutachten Dr. S. und Dr. M. vom 18.12.2000), woraufhin Medizinaldirektor Heinz in seiner Stellungnahme vom 9.1.2001 zur Feststellung eines seit Oktober 2000 nur noch unter zweistündigen Leistungsvermögens und Medizinaldirektor Dr. L. im Hinblick auf eine am 29.9.2000 erbetene ärztliche Kontrolle des Gesundheitszustandes der Klägerin zur Feststellung eines entsprechenden Leistungsvermögens bereits seit September 2000 gelangte (zur näheren Feststellung der Einzelheiten wird auf Blatt 28 ff. der ärztlichen Unterlagen Bezug genommen).

Der Widerspruch der Klägerin wurde daraufhin mit Widerspruchsbescheid vom 20.6.2002 zurückgewiesen.

Dagegen hat die Klägerin am 18.7.2002 beim Sozialgericht Reutlingen (SG) Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren im Wesentlichen mit der bisherigen Begründung weiterverfolgt hat. Ergänzend ist darauf hingewiesen worden, dass sie im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs wegen unterlassener Beratung Anspruch auf Gewährung von Altersrente für Frauen bereits ab dem 1.3.1998 habe. Die Beklagte fordere daher Leistungen für einen Zeitraum zurück, für den sie einen Leistungsanspruch in gleicher Höhe aus einem anderen Rechtsgrund habe. Die Beklagte habe dies in fehlerhafter Weise nicht in ihre Ermessensausübung einbezogen.

Das SG hat den von der Klägerin als behandelnden Arzt benannten Allgemeinmediziner Dr. R. als sachverständigen Zeugen befragt, der sich aber in seiner Auskunft vom 18.8.2003 zu einer Leistungsbeurteilung für die Zeit vor September 2000 nicht in der Lage gesehen hat.

Das SG hat auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 13.11.2003 durch Urteil vom selben Tag den Bescheid der Beklagten vom 16.2.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.6.2002 aufgehoben und die Beklagte zur Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Klägerin verpflichtet.

Zur Begründung hat es ausgeführt, dass bei der Klägerin bis September 2000 ein zweistündiges bis unter halbschichtiges Leistungsvermögen bestanden habe. Erst ab September 2000 sei die Leistungsfähigkeit der Klägerin auf unter zweistündig herabgesunken. Dies ergebe sich aus den 1994 erstellten Gutachten und den Gutachten vom Dezember 2000 sowie den ärztlichen Stellungnahmen der Medizinaldirektoren Heinz und Dr. L ... Anhaltspunkte dafür, dass bei der Klägerin schon vor September 2000 bzw. vor Mai 1999 Erwerbsunfähigkeit bei einem nur noch unter zweistündigen Leistungsvermögen vorgelegen habe, seien nicht ersichtlich. Damit habe die Klägerin bis September 2000 Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit abhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage gehabt. Der Beklagten sei ferner darin zu folgen, dass die Klägerin in der Zeit vom 7.4.1999 bis zum 14.11.2000 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Türkei genommen habe. Dafür sprächen u. a. die Angaben der Klägerin selbst sowie verschiedene türkische Meldestempel. Insgesamt sprächen die Umstände gegen die Behauptung der Klägerin, dass es sich insofern nur um Besuchsreisen in die Türkei gehandelt habe. Nach § 112 Abs. 1 Satz 1 SGB VI in der hier maßgebenden Fassung habe die Klägerin damit ab dem Monat nach dem Verzug ins Ausland (bis zum Beginn der Altersrente für Frauen) lediglich Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit gehabt. Die Voraussetzungen für die teilweise Aufhebung der Rentengewährung für die Zeit ab dem 1.5.1999 nach § 48 SGB X und für die Geltendmachung der Erstattung der eingetretenen Überzahlung in Höhe von 3888,74 DM seien damit grundsätzlich erfüllt. Allerdings habe die Beklagte deshalb ermessensfehlerhaft gehandelt, weil hier ein atypischer Fall vorliege, der hinsichtlich der Aufhebung eines Verwaltungsaktes für die Vergangenheit die Ausübung von Ermessen erfordere. Der atypische Fall bestehe darin, dass die Klägerin für die Zeit ab dem 1.3.1998 die Voraussetzungen für die Gewährung einer Altersrente für Frauen erfülle. Hätte die Beklagte die Klägerin rechtzeitig auf diesen Anspruch hingewiesen, hätte sie nach entsprechender Antragstellung trotz ihres Auslandsaufenthaltes für den streitgegenständlichen Zeitraum Rentenleistungen im bisherigen Umfang erhalten. Die Beklagte fordere daher eine Leistung zurück, auf die die Klägerin aus anderen Gründen für den selben Zeitraum einen Anspruch in derselben Höhe gehabt hätte. Dies verstoße gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Auf die Entscheidungsgründe im Übrigen wird Bezug genommen.

Gegen das ihr am 19.1.2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 9.2.2004 Berufung eingelegt. Sie führt zum einen aus, dass die Klägerin im Rentenbescheid vom 11.11.1994 darauf hingewiesen worden sei, dass die Rentengewährung abhängig von den Verhältnissen des Arbeitsmarktes erfolge. Auch auf die Möglichkeit des (teilweisen) Entfallens des Rentenanspruchs für die Dauer eines gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland sowie auf die Verpflichtung zur Mitteilung der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in das Ausland und auf die Aufhebungsmöglichkeit für den Fall der Verletzung von Mitteilungspflichten sei die Klägerin im Rentenbescheid ausdrücklich hingewiesen worden. Zum anderen macht die Beklagte geltend, dass vorliegend nicht vom Vorliegen eines atypischen Falles ausgegangen werden könne. Die Überzahlung beruhe allein auf der Verletzung der Mitteilungspflicht über die Wohnsitzverlegung. Wäre die Klägerin ihrer Mitteilungspflicht nachgekommen, wäre sie bereits vor Verlegung ihres Wohnsitzes über den teilweisen Wegfall ihrer bis dahin bezogenen Rente aufgeklärt und zur Antragstellung bezüglich der Altersrente aufgefordert worden. Eine Verpflichtung oder Notwendigkeit, die Klägerin bereits zu einem früheren Zeitpunkt (z. B. zum Zeitpunkt der Vollendung des 60. Lebensjahres) und noch während des Inlandsaufenthalts über die erfüllten Anspruchsvoraussetzungen der Altersrente aufzuklären, habe nicht bestanden, da die Klägerin bereits eine "Vollrente" mit dem Rentenartfaktor 1,0 bezogenen habe. Auch bei deutschen Versicherten erfolge kein entsprechender Hinweis. Nur wegen der Besonderheiten bei einer möglichen, aber nicht zwingenden Rückkehr in die Türkei und des sich daraus möglicherweise ergebenden Beratungsbedarfs sei hier der Rentenbescheid mit den entsprechenden Zusätzen versehen worden. Die verspätete Antragstellung bezüglich der Altersrente resultiere allein aus dem Fehlverhalten der Klägerin.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 13. November 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Rentenakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), ist zulässig und begründet.

Gegenstand des Verfahrens ist der Aufhebungsbescheid der Beklagten vom 16.2.2001 und der - zum Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gewordene - Erstattungsbescheid vom 27.3.2001. Dahinstehen bleiben kann, ob das Schreiben der Beklagten vom 9.2.2001 als Bescheid zu werten ist, weil insoweit jedenfalls eine Ersetzung durch den Erstattungsbescheid vom 27.3.2001 stattgefunden hat, sodass selbst bei Qualifizierung dieses Schreibens als Bescheid dieser keine Rechtswirkungen mehr entfaltet (§ 39 Abs. 2 SGB X). Die zunächst nur in Aussicht gestellte und erstmals im Neuberechnungsbescheid vom 15.5.2001 vorgenommene Regelung eines Einbehalts ist nicht Gegenstand des Verfahrens, weil zum einen die Klägerin gegen den Neuberechnungsbescheid gesondert Widerspruch erhoben und zum anderen die Beklagte auf diesen Widerspruch den Einbehalt auch nicht umgesetzt hat.

Der Senat folgt dem SG und der Beklagten vollumfänglich, was die Erfüllung der Aufhebungs- und Erstattungsvoraussetzungen anbelangt, und nimmt insoweit auf die zutreffenden Ausführungen des SG und die Ausführungen in den Bescheiden der Beklagten Bezug. Insbesondere hat auch der Senat nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens keinen Zweifel daran, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Türkei hatte und dass bei ihr frühestens während des Monats September der Versicherungsfall eines nur noch unter zweistündigen Leistungsvermögens eingetreten ist. Gegenteiliges hat die Klägerin auch mit ihrer Berufungserwiderung nicht vorgetragen.

Ergänzend ist insoweit auszuführen, dass Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebungsentscheidung der Beklagten hier § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2 SGB X ist. Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grobfahrlässig nicht nachgekommen ist.

Der Eintritt einer wesentlichen Änderung ist hier darin zu sehen, dass der Klägerin ab Beginn des auf die Verlegung des Aufenthalts in das Ausland folgenden Monats nach der Regelung des § 112 Satz 1 SGB VI in der hier maßgebenden Fassung lediglich noch ein Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit zustand. Nachdem hier davon auszugehen ist, dass der Versicherungsfall eines nur noch unter zweistündigen Leistungsvermögens noch nicht zu Beginn des Monats September, sondern erst in dessen Verlauf eingetreten ist, ist diese wesentliche Änderung bis zum Beginn der Altersrente für Frauen auch nicht wieder entfallen (§ 99 Abs. 1 SGB VI).

Dabei hat es die Klägerin entgegen der in § 60 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) geregelten Mitteilungspflichten unterlassen, der Beklagten den bevorstehenden Auslandsaufenthalt anzuzeigen, obwohl sie diesbezüglich im Rentenbescheid vom 11.11.1994 ausdrücklich belehrt worden ist. Insoweit bejaht der Senat zumindest das Vorliegen grober Fahrlässigkeit. Grobe Fahrlässigkeit liegt nämlich vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Sie liegt nach der Rechtsprechung zwar nicht schon dann vor, wenn der Betroffene mit dem relevanten Umstand lediglich "rechnen musste ". Vorausgesetzt wird vielmehr, dass er ihn "aufgrund einfachster und (ganz) nahe liegender Überlegungen" hätte erkennen können bzw. dass "dasjenige unbeachtet geblieben ist, was im gegebenen Falle jedem hätte einleuchten müssen". Hierbei sind auch die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit und das Einsichtsvermögen des Betroffenen zu berücksichtigen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff, BSGE 62, 103, 107).

Die entsprechenden Handlungsfristen wurden von der Beklagten eingehalten.

Entgegen der vom SG vertretenen Rechtsauffassung lag vorliegend allerdings kein sogenannter atypischer Fall vor, weshalb die Beklagte insoweit zu Recht von einer Ermessensausübung abgesehen hat, was im Rahmen des in § 48 geregelten "Soll-Ermessens" nicht zu beanstanden ist (vgl. hierzu KassKomm-Steinwedel zu § 48 Rdnr. 36/38). Insbesondere stand der Klägerin hier für den streitgegenständlichen Zeitraum mangels entsprechenden Rentenantrags kein Anspruch auf Gewährung von Altersrente für Frauen zu, auch nicht im Wege des so genannten sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs.

Das richterrechtliche Institut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs setzt auf seiner Tatbe¬standseite voraus, dass der Versicherungsträger eine ihm entweder auf Grund Gesetzes oder auf Grund eines bestehenden Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Aus¬kunft und Beratung sowie zu einer dem konkreten Anlass entsprechenden "verständnisvollen Förderung", verletzt und dadurch dem Versicherten einen rechtlichen Nachteil zugefügt hat (BSG SozR 2100 § 27 Nr. 2, Seite 4). Diese - letztlich auf dem Grundsatz von Treu und Glauben beruhenden - Pflichten sind verletzt, wenn sie - obwohl ein konkreter Anlass zu den genannten Dienstleistungen bestanden hat - nicht oder nur unzureichend erfüllt worden sind (BSG SozR 1200 § 14 Nr. 15 Seite 26).

Hier wäre - insoweit folgt der Senat der von der Beklagten vertretenen Rechtsauffassung - bei gleichem Rentenartfaktor der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und der Altersrente für Frauen ein Beratungsbedarf zur Stellung eines Altersrentenantrags nur entstanden, wenn - für die Beklagte erkennbar - der Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Wegfall zu geraten drohte. Dies wäre allerdings erst dann der Fall gewesen, wenn die Klägerin entsprechend der gerade für diese Konstellation in den Rentenbescheid aufgenommenen Belehrungszusätze die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in die Türkei der Beklagten angezeigt hätte. Nachdem die Klägerin dies nicht getan hat, hat sie die Aufklärung durch die Beklagte in der Tat quasi selbst vereitelt. Keinesfalls kann die allgemeine Verpflichtung des Rentenversicherungsträgers angenommen werden, Versicherte, die eine Erwerbsunfähigkeitsrente beziehen, zur Stellung eines Antrags auf Gewährung einer Altersrente mit dem selben Rentenartfaktor aufzufordern. Allenfalls kommt nach Auffassung des Senats eine entsprechende Verpflichtung des Rentenversicherungsträgers für die Fälle in Betracht, in denen Versicherte keine oder nur eine Rente mit einem geringeren Rentenartfaktor beziehen.

Infolge der rechtmäßigen (teilweisen) Aufhebung der Entscheidung über die Rentengewährung ist die Klägerin gemäß § 50 Abs. 1 SGB X zur Erstattung der überzahlten Leistungen verpflichtet, wobei Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte die Erstattungsforderung unrichtig berechnet hätte, weder ersichtlich noch vorgetragen sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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