S 9 AS 2113/06 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Leipzig (FSS)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 9 AS 2113/06 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Der Sanktionsbescheid ist jedenfalls dann rechtswidrig, wenn 1.die Rechtsfolgen-belehrung nicht vollständig ist, 2. eine konkrete Frist für die Umsetzung einer Vereinbarung nicht gesetzt wurde, 3. unberücksichtigt geblieben ist, ob eine Verkürzung der Absenkung auf 6 Wochen möglich ist, 4. nicht festgestellt ist, dass der Betroffene vorsätzlich gehandelt hat.
I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin auch für die Zeit vom 01.01.2007 bis 31.03.2007 neben den Leistungen für Unter-kunft und Heizung auch die Regelleistung zur Sicherung des Lebens-unterhaltes gemäß § 20 SGB II in Höhe von monatlich 187,00 EUR zu zahlen.
II. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Gründe:
I.
Die Antragstellerin (Ast) begehrt im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach § 20 des Zweites Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) auch für die Zeit vom 01.01.2007 bis 31.03.2007; für diesen Zeitraum ist nach Auffassung der Antragsgegnerin (Ag) wegen einer Pflichtverletzung der Ast das Arbeitslosengeld II (Alg II) ganz weg-gefallen.

Der im Jahr ... geborenen Ast bewilligte die Ag zuletzt mit Bescheid vom 17.08.2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 01.10.2006 bis 31.03.2007 in Höhe von 328,62 EUR pro Monat.

Am 27.09.2006 schloss die Ast mit der Ag eine sogenannte Einglie-derungsvereinbarung. Zu den Leistungen, die die Ag zu erbringen hatte, gehörte auch die Aushändigung des Prospektes ("Flyer") für das Projekt transfer.ek. Die Ast hingegen verpflichtet sich u. a. darin, mit dem Träger der transfer.ek einen Gesprächstermin zu vereinbaren.Außerdem sollte die Ast auf Vermittlungsvorschläge innerhalb von 5 Werk-tagen "reagieren". Die Eingliederungsvereinbarung war mit einer Rechts-folgenbelehrung – die allerdings nicht vollständig ist; es fehlt der volle Wortlaut von Ziffer 3 und Ziffer 4 – versehen.

Die Ast vereinbarte indes mit der transfer.ek keinen Gesprächstermin.

Auf Grund der Anhörung gemäß § 24 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) äußerte sich die Ast hierzu wie folgt: Sie habe die Ausfüh-rungen durch die Arbeitsvermittlerin bei dem Gespräch, welches am 27.09.2006 stattgefunden habe, so verstanden, dass sich je-mand von der Maßnahme transfer.ek bei ihr melde; so sei dies auch bei einem anderen Projekt der Fall gewesen. Als sich nach einiger Zeit niemand gemeldet habe, habe sie an-genommen, dass sie wohl für dieses Projekt nicht infrage komme. In der Zwischenzeit hätte sie ihre Eigen-bemühungen fortgesetzt und – was zutrifft – einen Einstiegsqualifizie-rungsvertrag für Jugendliche am 10.11.2006 abgeschlossen und die Maßnahme am 13.11.2006 begonnen.

Mit Bescheid vom 30.11.2006 stellte die Ag fest, dass der der Ast zu-stehende Anteil des Alg II für die Zeit vom 01.01.2007 bis 31.03.2007 wegfallen werde. Der Ast sei am 27.09.2006 eine Arbeit bei der Firma transfer.ek angeboten worden. Dieses Angebot sei unter Berück-sichtigung der Leistungsfähigkeit der Ast und deren persönlichen Verhältnissen zumutbar gewesen. Trotz Belehrung über die Rechts-folgen habe sie, die Ast, durch ihr Verhalten das Zustandekommen dieser Tätigkeit vereitelt. Die ursprüngliche Bewilligungsentscheidung werde daher insoweit ab dem 01.01.2007 gemäß § 48 Abs. 1 SGB X aufgehoben.

Hiergegen erhob die Ast Widerspruch und verwies auf ihre Ausführungen im Rahmen der Anhörung. Zusätzlich wies sie darauf hin, sie habe von ihrer Arbeitsvermittlerin einige Unterlagen erhalten, jedoch sei das Prospekt von transfer.ek nicht dabei gewesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 22.12.2006 wies die Ag den Wider-spruch zurück. Bei der Unterzeichnung der Eingliederungsvereinbarung am 27.09.2006 sei der 20jährigen Ast das Prospekt für das Projekt transfer.ek ausgehändigt worden. Auch sei sie in der Eingliederungs-vereinbarung aufgefordert worden, dort einen Gesprächstermin zu vereinbaren und ggf. aktiv an dem Projekt teilzunehmen. Dieser Aufforderung sei die Ast, ohne einen wichtigen Grund zu haben, nicht nachgekommen. Durch ihr Verhalten habe die Ast von vorn-herein den Abschluss eines Ausbildungsvertrages grob fahrlässig verhindert. Auch wenn die Ast zwischenzeitlich einen Einstiegsqualifizierungsvertrag unterschrieben habe und an der Maßnahme regelmäßig teilnehme, könne dies das Fehlverhalten vom September 2006 nicht aufwiegen. Durch die zu jener Zeit in Aussicht gestellte Ausbildung hätte die Ast perspektivisch die Möglichkeit gehabt, dauerhaft ihre Hilfsbedürftigkeit zu beenden; dies sei durch die Teilnahme an der Einstiegsqualifizierung in diesem Umfang eher nicht zu erwarten. Da ein wichtiger Grund nicht vorliege, seien die Voraussetzungen der Sanktion erfüllt. § 31 Abs. 6 SGB II bestimme, dass die Sanktion mit Wirkung des Kalendermonats eintrete, der auf das Wirksamwerden der Entscheidung folge und 3 Monate dauere. Die Sanktion umfasse damit die Kalendermonate Januar bis März 2007. Für diesen Zeitraum sei die ursprüngliche Bewilligungsentscheidung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X teilweise aufzuheben gewesen.

Bereits am 18.12.2006 beantragte die Ast sinngemäß im Wege des einstweiligen Rechts-schutzes,

die Ag zu verpflichten, ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhal-tes nach § 20 SGB II auch für die Zeit vom 01.01.2007 bis 31.03.2007 zu zahlen.

Die Ag beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz sei nicht begründet, weil kein Anordnungsan-spruch bestehe.

Die Ag legte außerdem die Gesprächsnotiz der Arbeitsvermittlerin vom 27.09.2006 vor. Darin ist u. a. vermerkt, dass der Ast das Prospekt für das Projekt transfer.ek ausgehändigt worden sei.

II.

Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist zulässig und begründet. Die Ast hat Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in vollem Umfang auch über den 31.12.2006 hinaus.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einst-weiligen Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Eine Regelungsanordnung kann nach allgemeiner Ansicht (vgl. Binder u. a., SGG, Handkommentar, § 86 b Rdnr. 32, 33) nur getroffen werden, wenn ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund sowie keine Vorwegnahme der Hauptsa-che gegeben sind.

Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn die Ast einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Gewährung der begehrten Leistung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit hat. Ein Anordnungsgrund liegt hingegen dann vor, wenn eine besondere Eilbedürftigkeit gegeben ist und deshalb ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache der Ast nicht zumut-bar ist.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung scheidet grundsätzlich dann aus, wenn diese die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen würde. Von diesem Grundsatz ist allerdings dann abzuweichen, wenn nur die Befriedigung des von der Ast geltend gemachten Anspruches in der Lage ist, einen irrreparablen Schaden zu verhindern (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Auflage, V, Rdnr. 41).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm § 120 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Diese sind glaubhaft gemacht, wenn sie überwiegend wahr-scheinlich sind. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn trotz der Möglichkeit des Gegenteils die Zweifel nicht überwiegen. Für die Glaubhaftmachung genügt grundsätzlich die Versicherung an Eides statt.

Unter Anwendung dieser Grundsätze sind sowohl der Anordnungs-anspruch als auch der Anordnungsgrund gegeben.

Der Anordnungsanspruch ist deshalb gegeben, weil der Bescheid vom 30.11.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.12.2006 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit rechtwidrig ist.

Die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 30.11.2006 misst sich an § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X iVm § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II und § 330 Abs. 3 Satz 1 Drittes Buch Sozialge-setzbuch (SGB III).

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 4 SGB X iVm § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II und § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung vom Zeitpunkt einer we-sentlichen Änderung der Verhältnisse an aufzuheben, soweit der Betroffene dies wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist. Wesentlich ist jede tatsächliche und rechtliche Änderung, die sich auf Grund oder Höhe der bewilligten Leistung auswirkt (BSG, Urteil vom 05.09.2006, B 7 a AL 14/05 R).

Nach § 31 Abs. 5 iVm Abs. 1 Nr. 1 b SGB II wird bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die das 15. Lebensjahr, jedoch noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, das Arbeits-losengeld II (Alg II) auf die Leistungen nach § 22 SGB II (Leistungen für Unterkunft und Heizung) u. a. beschränkt, wenn sich dieser trotz Belehrung über die Rechtsfolgen und ohne einen wichtigen Grund für sein Verhalten zu haben, weigert, die in der Eingliede-rungsvereinbarung festgelegte Pflicht zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen.

Im vorliegenden Fall kann es im Rahmen des einstweiligen Rechts-schutzes dahingestellt bleiben, ob ein Vermittlungsvorschlag überhaupt vorlag und dieser zumutbar war und ob die Ast für ihr Verhalten einen wichtigen Grund gehabt hat. Denn der Bescheid vom 30.11.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.12.2006 erweist sich schon aus folgenden Gründen als rechtswidrig:
1. Die Rechtsfolgenbelehrung muss konkret, verständlich, richtig und vollständig sein. Das war sie im vorliegenden Fall schon deshalb nicht, weil zumindest nach Aktenlage die Ziffern 3. und 4. nicht vollständig abgedruckt waren.

2. Entgegen der Behauptung der Ast wurde sie zum einen in der Eingliederungsvereinbarung und zum anderen in dem Gespräch vom 27.09.2006 aufgefordert, bei der Firma transfer.ek einen Gesprächs-termin zu vereinbaren. Anhand des Aktenvermerkes über das Gespräch vom 27.09.2006 steht darüber hinaus mit überwiegender Wahrschein-lichkeit fest, dass die Ast auch das Prospekt von ihrer Arbeitsvermittle-rin ausgehändigt erhalten hat.

Die Erfüllung der in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflicht, bei dem Träger transfer.ek einen Gesprächstermin zu vereinbaren, wurde aber zu unpräzise gefasst. Der Ast wurde nämlich keine konkrete Frist für die Vereinbarung eines Ge-sprächstermins gesetzt. Dies war aber schon wegen der erheblichen Folgen einer Sanktion, die der Ast dann drohten, notwendig. Zwar wurde die Ast in dem Gespräch vom 27.09.2006, das sie mit ihrer Vermittlerin führte, darauf hingewiesen, sie müsse "schnellstmöglich" einen Gesprächstermin vereinbaren. Dies ist aber in Anbetracht der drohenden Sanktion zu ungenau und zu unbe-stimmt. Zwar heißt es in der Eingliederungsvereinbarung, die Ast müsse auf Vermittlungsvorschläge innerhalb von 5 Werktagen reagieren. Anhand der vorgelegten Akten kann aber nicht festgestellt werden, ob es sich bei dem Prospekt transfer.ek um einen solchen Vermittlungs-vorschlag gehandelt hat. Das Prospekt transfer.ek liegt der Kammer näm-ich nicht vor. Damit steht nicht mit überwiegender Wahrschein-lichkeit fest, dass die Ast eine Pflicht aus der Eingliederungsverein-barung verletzt hat.

3. Nach § 31 Abs. 6 Satz 3 SGB II kann der Träger bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die das 15. Lebensjahr, jedoch noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, die Absenkung und den Wegfall der Regelleistung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles auf 6 Wochen verkürzen.

Die Ast hat am 13.11.2006 eine Maßnahme zur Einstiegsqualifizierung angetreten.

Darin ist ein Umstand zu sehen, der es rechtfertigen könnte, den Wegfall der Regelleistung auf 6 Wochen zu verkürzen. Die Ag hat diesen Umstand lediglich im Rahmen der Prüfung eines wichtigen Grundes gewürdigt. Sie hat damit nicht geprüft, ob die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Satz 3 SGB II vorliegen. Sie hat somit insbesondere von dem ihr eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht. Das Gericht darf sein Ermessen aber nicht an die Stelle des Ermessens der Verwaltung setzen, vielmehr darf es nur prüfen, ob die Grenzen des Ermessens eingehalten worden sind.

Im vorliegenden Fall liegt somit ein sogenannter Ermessensnicht-gebrauch vor.

4. Die Ag hat darüber hinaus nicht mit überwiegender Wahrschein-lichkeit glaubhaft gemacht, dass die Ast den Abschluss eines Aus-bildungsvertrages vorsätzlich verhindert hat. Sie, die Ag, geht nämlich davon aus, dass eine solche Verhinderung durch die Ast grob fahrlässig gewesen sei.

Die Voraussetzungen des § 31 SGB II sind nur dann erfüllt, wenn der Betroffene vorsätzlich gehandelt hat. Grobe Fahrlässigkeit oder Fahrlässigkeit reichen hierfür nicht aus (Eicher/Spellbrink, SGB II, Kommentar, § 31 Rdnr. 9).

Von einer vorsätzlichen Begehungsweise geht die Ag offenbar selbst nicht aus.

Die aufgeführten 4 Punkte führen jeweils zur Rechtswidrigkeit des Sanktionsbescheides. Ein rechtswidriger Bescheid kann aber nicht als Grundlage für den Wegfall des Anspruchs herangezogen werden. Das bedeutet, dass die Ag der Ast die bisher bewilligten Leistungen über den 31.12.2006 hinaus zu gewähren hat.

Auch der Anordnungsgrund ist gegeben. Die Leistungen der Grund-sicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II dienen der Sicherung eines menschenwürdigen Lebens, mithin der Erfüllung einer verfas-sungsrechtlichen Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (BVerfG, Be-schluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05). Ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung bliebe das Existenzminimum der Ast für 3 Monate nicht gedeckt. Dabei handelt es sich um eine erhebliche Beeinträchtigung, die auch nachträglich bei einem erfolgreichen Ab-schluss des Klageverfahrens nicht mehr bzw. nur mit längerer Verzö-gerung ausgeglichen werden kann. Denn der elementare Lebensbedarf eines Menschen kann grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden, in dem er zusteht. Damit ist ein Abwarten bis zur Entschei-dung in der Hauptsache der Ast nicht zumutbar.

Aus demselben Grund ist die Vorwegnahme der Hauptsache zulässig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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