S 3 R 26/07

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 3 R 26/07
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist der Klägerin im Wege einer Zugunstenentscheidung rückwirkend und mit Wirkung für die Zukunft abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente (Zugangsfaktor 1,0) zu zahlen.

In Ausführung eines gerichtlichen Vergleichs vom 07.02.2006 bewilligte die Beklagte der 1959 geborenen Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.05.2006 bis 30.04.2009. Bei der Berechnung des monatlichen Zahlbetrages legte die Beklagte einen um 10,8 %-Punkte geminderten Zugangsfaktor zugrunde.

Am 18.09.2006 beantragte die Klägerin die rückwirkende Neuberechnung der Rente auf der Basis eines Zugangsfaktors in Höhe von 1,0. Zur Begründung verwies sie auf das Urteil des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.05.2006 (B 4 RA 22/05 R).

Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 14.12.2006 ab und wies den hiergegen erhobenen Widerspruch mit Bescheid vom 16.01.2007 als unbegründet zurück. Die Voraussetzungen für eine Zugunstenentscheidung seien nicht erfüllt. Die Gremien der Rentenversicherungsträger hätten sich in der Sitzung des zuständigen Fachausschusses am 26.09.2006 geeinigt, dem BSG-Urteil über den Einzelfall hinaus nicht zu folgen. Die Rechtsanwendung durch die Beklagte entspreche sowohl dem Wortlaut des Gesetzes wie auch dem gesetzgeberischen Willen.

Hiergegen hat die Klägerin am 22.01.2007 Klage erhoben. Sie hält die Entscheidung des 4. Senats des BSG für schlüssig und überzeugend und leitet daraus ihren Anspruch auf eine abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente für die Zeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres im Wege einer Zugunstenentscheidung ab.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 14.12.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.01.2007 zu verpflichten, den Bescheid vom 10.03.2006 zurückzunehmen und ihr rückwirkend ab Rentenbeginn Er werbsminderungsrente ohne Abschlag, also mit Zugangsfaktor 1,0 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist weiterhin der Überzeugung, dass ihre bisherige Rechtsanwendung zutreffend sei. Die vom BSG favorisierte Auslegung sei nicht schlüssig und beraube die vom Gesetzgeber geschaffene Regelung ihres Inhalts.

Die Beteiligten haben übereinstimmend eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren beantragt.

Beigezogen waren die Verwaltungsakten der Beklagten. Sie waren ebenso wie die Gerichtsakte Gegenstand der Entscheidung. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Unterlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 87, 90, 92 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht sowie auch im Übrigen zulässig erhobene Klage ist nicht begründet. Die Kammer konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, weil beide Beteiligte dies beantragt haben (§ 124 SGG).

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig. Sie ist nicht verpflichtet der Klägerin im Wege einer Zugunstenentscheidung gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) rückwirkend und laufend (höhere) Erwerbsminderungsrente unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 zu zahlen.

I.

Nach § 44 SGB X ist ein Verwaltungsakt, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt worden ist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Die Beklagte hat bei Erlass des Bescheides vom 10.03.2006 das Recht nicht unrichtig angewandt und der Klägerin gegenüber nicht zu Unrecht Sozialleistungen nicht erbracht. Im Zentrum der Betrachtung steht § 77 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (EM- ReformG) vom 20. Dezember 2000. Die Vorschrift regelt in Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, dass der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird um 0,003 niedriger als 1,0 ist. Weiter heißt es in der Vorschrift, dass die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend ist, wenn eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt (Satz 2) und dass die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gilt (Satz 3).

Übertragen auf den Rentenanspruch der Klägerin bedeutet dies, dass der im Rahmen der Rentenberechnung für sie maßgebliche Zugangsfaktor gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI wegen der Beanspruchung der Rente vor Vollendung des 63. Lebensjahres um 0,003 je Monat der vorzeitigen Inanspruchnahme niedriger als 1,0 ist. Allerdings bestimmt Satz 2 der Vorschrift, dass bei Bezug einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres dieser Zeitpunkt für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend ist, also der in § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI zeitlich noch völlig offen geregelte Vorzeitigkeitszeitraum auf den Zeitpunkt der Vollendung des 60. Lebensjahres begrenzt wird. Der Gesetzgeber stellt dadurch sicher, dass eine höhere Reduzierung des Zugangsfaktors als 10,8 % (0,003 x 36 Monate) ausgeschlossen ist.

Diese Rechtsanwendung praktizierend hat die Beklagte den Rentenanspruch der Klägerin mit Bescheid vom 10.03.2006 zutreffend und in rechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt. Sie ist nicht zu seiner Rücknahme verpflichtet.

II.

Die Klägerin beruft sich demgegenüber auf das Urteil des BSG vom 16.05.2006 (B 4 RA 22/05 R), mit dem entschieden wurde, dass auch nach Inkrafttreten des EM-ReformG EM- Renten vor Vollendung des 60. Lebensjahres mit einem Zugangsfaktor 1,0 zu berechnen sind.

Entgegen der bis dahin völlig unbestrittenen und einhelligen Rechtsauffassung zu § 77 SGB VI (Nachweise vgl. Plagemann, Anm. zu BSG B 4 RA 22/05 R in ASR 1/2007, 21 f.) geht der 4. Senat des BSG davon aus, dass nach § 77 Abs. 2 SGB VI Zeiten des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht als zu einer Verringerung des Zugangsfaktors führende Zeit eines vorzeitigen Rentenbezugs gehören. Die gegenteilige Rechtsauffassung der Rentenversicherungsträger verletze das Prinzip der (Vor-)Leistungsbezogenheit der Rente und sei deshalb rechtswidrig. Von dem Systemgrundsatz der (vor-) leistungsbezogenen Rente (also Rentenberechnung mit Zugangsfaktor 1,0) dürfe nur abgewichen werden, wenn besondere, im Gesetz ausdrücklich angestellte und verfassungsmäßige Sachgründe es ausnahmsweise erlauben. Dies sei nicht der Fall. Drei Gruppen von EM-Rentnern seien nach § 77 SGB VI i.d.F. des EM-ReformG zu unterscheiden:

"Erstens die 63- bis 65-Jährigen, die keine Kürzung ihrer Vorleistung hinnehmen müssen. Erwerbsminderungsren ten können höchstens bis zur Vollendung des 65. Lebens jahres bezogen werden (§ 43 Abs 1 SGB VI). Für ältere Personen gibt es - anders als 1889 "von Bismarck" einge führt - seit 1992 keinen Versicherungsschutz gegen Er werbsminderung mehr.

Zweitens ältere Rentner, bei denen der Versicherungsfall der "Erwerbsminderung" zwar vor Vollendung des 63. Le bensjahres, aber erst eingetreten ist, als sie älter als 35 Jahre und zwei Monate waren. Diese müssen für jeden Monat der "vorzeitigen Renteninanspruchnahme" eine Minde rung des Zugangsfaktors ("Rentenabschlag") um 0,003 hinnehmen.

Drittens die Versicherten, die im Alter von 35 Jahren und zwei Monaten oder früher nach Erfüllung der Wartezeit ei nen der Versicherungsfälle der Sparte der Erwerbsminde rungsversicherung erleiden; sie erhalten keine Rente. Denn bei ihnen ist gemäß § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI idF des EM-ReformG (333,3 Periode an Kalendermonaten mal 0,003 = 1) der gesamte Zugangsfaktor abgeschmolzen und deshalb überhaupt keine Vorleistung mehr anzurech nen (Zugangsfaktor 0,0) mit der Folge, dass dieses Recht (als nudum ius) keinen Geldwert mehr hat."

Diese (vom 4. Senat als schlechthin objektiv willkürlich qualifizierte) Regelung müsse verfassungskonform auf die Anordnung reduziert werden, dass Abschläge nur für die Zeit zwischen Vollendung des 60. und 63. Lebensjahres, also bei einer (vom BSG so definierten) vorzeitigen Erwerbsminderungsrente, zulässig seien. Weder in der Entstehungsgeschichte des EM-ReformG noch in den Gesetzesmaterialien hierzu fänden sich Äußerungen dafür, dass Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Rechtsinhabers begonnen haben, auch für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres gekürzt werden dürften. In einem obiter dictum schließlich konkretisiert der 4. Senat seine Vorstellungen dahin gehend, dass bei Erwerbsminderungsrentnern, deren Rente vor dem Ende ihres 60. Lebensjahres begonnen hatte und über dieses hinaus zu zahlen sei ab Vollendung des 60. Lebensjahres der Rentenabschlag von 10,8 v.H. (36 x 0,003) greife.

III.

Dieser Entscheidung ist nicht zu folgen. Sie steht mit dem nach Auffassung der Kammer klar erkennbaren gesetzgeberischen Willen nicht im Einklang und begegnet in ihren konkreten Auswirkungen verfassungsrechtlichen Bedenken.

1.
In der Fachliteratur und der seitdem ergangenen Rechtsprechung ist das Urteil des BSG zutreffend auf einhellige Ablehnung gestoßen (vgl. Mey, RV Aktuell 3/2007 S. 44; Bredt, NZS 2007, 192, von Koch/Kolakowsky SGb 07, 71; Plagemann a.a.O.). Die 8. Kammer des Sozialgerichts Aachen (Az S 8 R 96/06 und ihr folgend die 13. Kammer - Az. S 13 R 76/06 -) haben sich mit überzeugenden Argumenten gegen die Rechtsauffassung des 4. Senats gewandt, der 2. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen verweigerte in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes dem 4. Senat insoweit die Gefolgschaft.

Wie bereits dargelegt findet die von der Beklagten praktizierte Rechtsanwendung eines um maximal 10,8 v.H. verminderten Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer EM-Rente auch vor Vollendung des 60. Lebensjahres hinreichende Stütze im Wortlaut von § 77 SGB VI. Es ist nicht zu bestreiten, dass dies auch auf die Interpretation des 4. Senats zutrifft. Bei konsequent systematischer Gesetzesauslegung und isolierter Betrachtung und Interpretation allein von § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI muss man in der Tat wegen der drohenden Situation eines nudum jus (s.o.) für EM-Rentner im Alter von 35 Jahren 2 Monaten und jünger zur Feststellung einer nicht verfassungskonformen Regelung gelangen. Ein solcher Fokus trennt § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI aber ohne Notwendigkeit aus dem Zusammenhang mit § 77 Abs. 2 S. 2, 3 SGB VI (und § 59 SGB VI) und blendet den gesetzgeberischen Willen einer generellen Kürzung der EM-Renten für Erstbewilligungen ab 2001 aus. Der Behauptung des 4. Senats, die Rechtsauffassung der Beklagten und der Rentenversicherungsträger fände in den Gesetzesmaterialien keinen Rückhalt, die von diesen "praktizierte allgemeine, ... Senkung des Rentenniveaus der Erwerbsminderungsrenten" sei "nirgends auch nur angesprochen worden", ist zu widersprechen.

2.
§ 77 SGB VI in der hier zur Diskussion stehenden Fassung wurde so, abgesehen von einem im Gesetzgebungsverfahren noch eingefügten Abs. 2 Satz 4, der in diesem Zusammenhang jedoch ohne Bedeutung ist, wortgleich von den Fraktionen SPD und Bünd- nis 90/Die Grünen als Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht (Drucksache 14/4230). Die Kammer hat daher keine Bedenken zur Ermittlung des gesetzgeberischen Willens auf die dem damaligen Gesetzentwurf beigefügte Begründung zurückzugreifen. Unter ihrem Gliederungspunkt A Allgemeiner Teil II. Schwerpunkte des Gesetzentwurfs 3. Rentenhöhe ist Folgendes nachzulesen:

" Es ist davon auszugehen, dass viele Versicherte anstelle einer Altersrente mit Abschlägen die Erwerbsminderungs rente beantragen und insbesondere bei Beibehaltung der konkreten Betrachtungsweise auch erhalten werden. Im Ren tenzugangsjahr 1998 sind rund 33 % aller Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus arbeitsmarktbedingten Gründen bewilligt worden. Dieser Prozentsatz dürfte sich erheblich erhöhen, wenn die Abschläge bei den vorzeitigen Altersrenten greifen.

Um dies zu vermeiden, wird die Höhe der Erwerbsminde rungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genom menen Altersrenten in der Weise angeglichen, dass diese Renten mit einem Abschlag von höchstens 10,8 % versehen werden. Die Auswirkungen einer solchen Regelung werden dadurch abgemildert, dass die Zeiten zwischen dem vollen deten 55. und 60. Lebensjahr (statt wie im geltenden Recht zu einem Drittel) künftig voll als Zurechnungszeit angerechnet wird.

Der Versicherte wird damit so gestellt, als ob er ent sprechend der Bewertung seiner Zurechnungszeit bis zum 60. Lebensjahr weitergearbeitet hätte. Bei Inanspruchnah me einer Altersrente zu diesem Zeitpunkt müsste er einen Abschlag von 18 % hinnehmen. Bei Inanspruchnahme einer Rente wegen Erwerbsminderung ergibt sich jedoch bei einem Eckrentner eine gegenüber dem geltenden Recht nur um 3,3 % (Rentenfall bis zum Lebensalter 56 Jahre und 8 Mo nate) bzw. um maximal 10,8 % (Rentenfall bei Lebensalter 60 Jahre) niedrigere Rente".

Die hier bewusst vollständig wiedergegebene Gesetzesbegründung zur Rentenhöhe bei Erwerbsminderungsrenten ab 2001 belegt:

Zum einen beschäftigt sich der Gesetzgeber erkennbar nur ganz allgemein mit einer Absenkung der Erwerbsminderungsrenten, d.h. ohne jegliche Differenzierung nach Altersgruppen. Anders ausgedrückt, die Gesetzesmaterialien spiegeln eine Unterscheidung von EM-Rentner vor und nach Vollendung des 60. Lebensjahres nur dort wider, wo von einer verbesserten Bewertung der Zurechnungszeiten (bis zum 60. Lebensjahr) die Rede ist. Wo der Gesetzgeber sich mit der Höhe des Abschlags bei künftigen EM-Renten befasst, macht er dies mit klarem generellen Bezug und nicht begrenzt auf eine altersmäßige Teilgruppe von EM-Rentenberechtigten. Ein abweichender gesetzgeberischer Wille ist nicht erkennbar und kann auch nicht der parallel zu den Altersgrenzen vorgesehenen Wertbegrenzung auf (max.) 10,8 % entnommen werden.

Zum anderen wird die von der Beklagten praktizierte allgemeine Senkung des Rentenniveaus der EM-Renten klar angesprochen. Bereits im Abs. 2 der Begründung werden die Auswirkungen des auf höchstens 10,8 % festgelegten Abschlags bei Erwerbsminderungsrenten diskutiert und ausgeführt, dass die Auswirkung einer solchen Regelung dadurch abgemildert werden, dass die Zeit zwischen dem vollendeten 55. und 60. Lebensjahr künftig voll als Zurechnungszeit angerechnet wird. Da eine Zurechnungszeit nach § 59 SGB VI als Zeit definiert ist, die bei einer Rente wegen Erwerbsminderung hinzugerechnet wird, wenn der Versicherte das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hat macht eine stärkere Berücksichtigung der Zurechnungszeit bei Erwerbsminderungsrenten ab 2001 und die Ausführungen im Gesetzentwurf über die dadurch bedingte Abmilderung des nominellen Abschlags von höchstens 10,8 % nur Sinn in Bezug auf Erwerbsminderungsrentner vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Aus dem nächsten Absatz der Gesetzesbegründung wird es noch deutlicher: Hier wird das Beispiel eines EM-Rentenfalls bis zum Lebensalter 56 Jahre und 8 Monate gebildet, bei dem sich der Abschlag von 10,8 % durch die gleichzeitige Einführung einer günstigeren Regelung bei der Zurechnungszeit auf rechnerisch 3,3 % abmindert.

Auf der Grundlage vorstehend wiedergegebener und diskutierter Begründung zum Gesetzentwurf ist für die Kammer zweifelsfrei belegt, dass der Gesetzgeber auch für EM- Rentner vor Vollendung des 60. Lebensjahres den Abschlag von 10,8 % einführen wollte. Die gegenteilige Behauptung des 4. Senats des BSG, dass die von der Beklagten "praktizierte allgemeine ... Senkung des Rentenniveaus der Erwerbsminderungsrenten ... nirgends auch nur angesprochen worden" sei ist vor diesem Hintergrund nicht verständlich.

3.
Die Kammer sieht sich in ihrer Einschätzung, dass entgegen der Behauptung des BSG der Gesetzgeber eine allgemeine Absenkung des Rentenniveaus der Erwerbsminderungsrenten beabsichtigte, durch die Begründung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 12.12.2006 (Ds 16/3794) bestätigt. In der besonderen Begründung wird unter dem Unterpunkt zu Nr. 23 (§ 77) die ursprüngliche Absicht einer allgemeinen Absenkung aller Erwerbsminderungsrenten ausdrücklich bekräftigt und sinngemäß formuliert, dass das Urteil des 4. Senats des BSG zu dieser ursprünglichen und fortbestehenden Absicht in Widerspruch steht. Konkret heißt es:

"Die Abschläge bei den Erwerbsminderungsrenten in Höhe von 10,8 % sind entsprechend der ursprünglichen Zielsetzung des Gesetzes und entgegen einer Entscheidung des 4. Se nats des BSG (Urteil vom 16. Mai 2006 B 4 RA 22/05 R) in allen Fällen vorzunehmen, in denen die Rente mit oder vor Vollendung des 62. Lebensjahres beginnt, also auch dann, wenn die Rente in jungen Jahren in Anspruch genommen wird."

4.
Das Urteil des 4. Senats des BSG hat bei konsequenter Umsetzung verfassungsrechtlich bedenkliche Ergebnisse zur Folge. Es differenziert für den erstmaligen EM-Rentenbezug ab 2001 zwischen mehreren Fallgruppen:

a) Berechtigte mit einem EM-Rentenbeginn nach Vollendung des 60. und vor Vollendung des 63. Lebensjahres
b) Berechtigte mit EM-Rentenanspruch auf Zeit vor dem 60. Geburtstag und
c) Berechtigte, deren Anspruch auf EM-Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres beginnt und entweder zeitlich befristet darüber hinaus bewilligt oder im Rechtssinne auf Dauer zuge sprochen wurde.

Entschieden hat der 4. Senat des BSG in seinem Urteil vom 16.05.2006 über einen Fall, der nach vorstehender Klassifizierung in Gruppe b) einzuordnen ist. Es ist Mey (a.a.O.) zuzustimmen, dass hinsichtlich vorstehender Gruppe a) (in seiner Unterteilung Gruppe b) ) keine Abweichungen in der Rechtsanwendung zwischen den Vorstellungen des 4. Senats und der bisherigen Praxis der Rentenversicherungsträger zu erkennen sind. Von Interesse ist jedoch der Blick auf die Gruppe c), weil hier weitere gravierende Kritikpunkte gerechtfertigt erscheinen.

Der 4. Senat des BSG spricht in seinem, diese Gruppe betreffenden obiter dictum seines Urteils eine der wesentlichen Folgen unmittelbar an, wenn er formuliert, dass "bei den Erwerbsminderungsrentnern, deren Rente vor dem Ende ihres 60. Lebensjahres begonnen hatte und über dieses hinaus zu zahlen ist ... ab Vollendung des 60. Lebensjahres der Rentenabschlag von 10,8 v.H." greift. Dies bedeutet nichts anderes, als dass bei EM-Rentnern mit einem über das 60. Lebensjahr hinaus wirkenden Bezugszeitraum die laufende Rente ausschließlich wegen des Erreichens einer bestimmten Altersgrenze, nämlich des 60. Lebensjahres, gekürzt würde. Ein solches Ergebnis wäre systemfremd und findet im SGB VI keine Stütze. Im Gegenteil: Aus § 88 Abs. 1 Satz 2 SGB VI wird deutlich, dass die einer EM-Rente zugrunde gelegten Entgeltpunkte zwingend auch für eine Folgerente zu übernehmen sind, wenn diese innerhalb von 24 Monaten nach der letzten Rente beginnt. Der hier für den Fall eines Rentenwechsels zum Ausdruck gebrachte Grundsatz des Vertrauensschutzes muss aber um so mehr gelten, wenn ein Versicherter über den Eintritt eines bestimmten Lebensalters hinaus ein und dieselbe Rente bezieht.

Der 4. Senat des BSG selbst hat seine Rechtsinterpretation im Wesentlichen ausgehend vom Prinzip der Vorleistungsbezogenheit der Rente entwickelt. Weder damit noch mit dem Vertrauensschutzgedanken des Grundgesetzes (GG) erscheint jedoch vereinbar, wenn bei einem Versicherten seine bis zum Beginn der EM-Rente erbrachte Vorleistung, ausgedrückt durch die Anzahl der Entgeltpunkte, wegen des Eintritts eines bestimmten Lebensalters plötzlich geringer bewertet werden. Die Kammer hat erhebliche Zweifel ob eine solche altersbedingte Kürzung einer laufend bezogenen Rente von einem hinreichenden sachlichen Grund im Sinne von Artikel 3 GG getragen ist und den verfassungsrechtlichen Grundsätzen aus Artikel 14 GG Rechnung trägt, nachdem sich hier die bereits verfassungsrechtlich geschützten Rentenanwartschaften schon zum Vollrecht konkretisiert und fortentwickelt hatten.

Nicht zuletzt ist darüber hinaus festzustellen, dass die vom 4. Senat des BSG gewählte Interpretation auch unter dem Gesichtspunkt der Beitrags- und Generationengerechtigkeit zu vom Gesetzgeber wohl kaum beabsichtigten Ergebnissen führt. Dies wird deutlich, wenn man auf der Basis dieser Rechtsprechung die Situation eines Zeit-EM-Rentners im Alter von 61 bis 63 gegenüberstellt, der eines EM-Rentners auf Zeit im Alter von z.B. 37 bis 39 Jahren. Letzterer erhielte eine EM-Rente unter Einbeziehung einer durch das EM-ReformG zugleich erweiterten Zurechnungszeit bis zum 60. Lebensjahr, berechnet nach dem Zugangsfaktor 1,0, Ersterer, ohne dass sich die Änderung der Zurechnungszeit zu seinen Gunsten auswirken könnte nach beispielhaft angenommenen 30 bis 40 Beitragsjahren eine um 10,8 Prozentpunkte geminderte EM-Rente. Anders ausgedrückt wird derjenige, der nahezu die höchstmögliche Vorleistung erbracht hat gegenüber demjenigen, bei dem dies gleich aus welchen Gründen nicht der Fall war, durch eine wegen des niedrigeren Zugangsfaktors verminderte Rente sachlich ungleich behandelt. Einen den Maßstäben von Art. 3 GG stand haltender sachlicher Differenzierungsgrund für eine solche Ungleichbehandlung verschiedener (Alters-)Gruppen von EM-Rentnern ist nicht erkennbar.

5.
Gerade vorstehendes Beispiel verdeutlicht nochmals die auch von der 8. und 13. Kammer des Sozialgerichts Aachen (a.a.O.) herausgearbeitete Kritik. Es ist diesen Entscheidungen vom 09.02.2007 und 20.03.2007 zuzustimmen, dass das Ergebnis der Rechtsprechung des BSG nicht mit der zeitgleich durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit eingeführten und ab 01.01.2001 geltenden Verlängerung der Zurechnungszeit in Einklang zu bringen ist. Beide Neuregelungen, Verlängerung der vollen Zurechnungszeit und Verminderung des Zugangsfaktors bei EM-Renten hat der Gesetzgeber in der bereits zitierten Gesetzesbegründung in einem Junktim miteinander verbunden mit dem nach Auffassung der Kammer klar zum Ausdruck gebrachten Ziel, (gerade) bei Erwerbsminderungsrentnern vor dem 60. Lebensjahr die nicht auszuschließende Härte des Abschlags von 10,8 % abzumildern. Es erscheint in der Tat nicht angängig, entgegen dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers bei einem Regelungskomplex - hier dem Zusammenspiel der Verlängerung der Zurechnungszeit mit der Verminderung des Zugangsfaktors - einen Teil des Regelungskomplexes für verfassungswidrig zu erklären, den anderen - begünstigenden - Teil hingegen unangetastet zu lassen (ebenso Plagemann a.a.O.). Dann nämlich würde - vollständig entgegen der Intention des Gesetzgebers - anstelle einer Verminderung der vorzeitigen in Anspruch genommenen Erwerbsminderungsrenten deren Erhöhung die Folge sein (SG Aachen, 8. Kammer aaO.).

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved