L 6 KR 603/03

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Altenburg (FST)
Aktenzeichen
S 13 KR 819/02
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 6 KR 603/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Versorgung mit einer C-Leg® -Prothese ist im normalen Alltag eines uneingeschränkten Außenbereichsgehers, der u.a. drei Stunden an vier Wochentagen als Zeitungszusteller tätig ist, erforderlich um die Behinderung des Verlustes des linken Beins am Oberschenkel auszugleichen.
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 8. April 2003 und der Bescheid der Beklagten vom 28. November 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2002 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger mit einer mikroprozessorgesteuerten Oberschenkelprothese links des Herstellers Otto Bock (C-Leg®) zu versorgen.

Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer mikroprozessorgesteuerten Oberschenkelprothese "1 C 40" (im Folgenden: C-Leg®) des Herstellers Otto Bock.

Der 1952 geborene und bei der Beklagten versicherte Kläger, dessen linker Oberschenkel 1971 wegen einer Krebserkrankung amputiert werden musste, war bis 1991 nach eigenen Angaben als Werkzeugbereitsteller bei einem Werkzeugmaschinenhersteller vollschichtig und bis 1992 in Kurzarbeit beschäftigt. Seitdem ist er arbeitslos und bezieht eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Vom 1. Mai bis 31. Juli 1999 und 1. Juli bis 30. September 2001 war er als Zusteller geringfügig beschäftigt. Seit dem 7. Januar 2006 übt er eine auf ein Jahr befristete geringfügige Tätigkeit als Zusteller laut Arbeitsvertrag mit einem zeitlichen Aufwand von maximal zwei Monaten bzw. 50 Arbeitstagen pro Kalenderjahr nach eigenen Angaben an vier Tagen in der Woche zu je drei Stunden aus.

Auf den unter Beifügung einer ärztlichen Verordnung der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. B. vom 7. Februar 2001 und eines Kostenvoranschlages des Sanitätshauses A. GmbH vom 1. März 2001 in Höhe von 42.002,87 DM gestellten Antrag auf Versorgung mit einem C-Leg® zog die Beklagte eine Stellungnahme des behandelnden Facharztes für Orthopädie Dipl.-Med. K. vom 12. April 2001 bei und holte ein Gutachten des Dr. D. (Medizinischer Dienst der Krankenkassen (MDK) Thüringen) ein. Danach ist der Kläger seit dem Jahr 2000 mit einer Oberschenkelprothese sowie einem pneumatisch betriebenen, durch Mikroprozessor (in der Schwungphase) gesteuerten "Intelligentknie" mit lastabhängiger mechanischer Standsicherung des Herstellers ORTHO-REHA Neuhof GmbH hinreichend versorgt und hat eine sehr gute Mobilität erreicht.

Mit Bescheid vom 28. November 2001 lehnte die Beklagte die Versorgung mit dem C-Leg® ab. Auf den Widerspruch holte sie ein Gutachten des Dr. Kü. vom MDK Thüringen vom 7. Januar 2002 ein und wies ihn mit Widerspruchsbescheid vom 11. April 2004 zurück.

Das Sozialgericht hat auf die Klage ein orthopädisches Sachverständigengutachten des Dr. W. vom 8. Januar 2003 in Auftrag gegeben. Demnach ist der Kläger mit einer Oberschenkelprothese in Modularbauweise versorgt. Er sei ein "uneingeschränkter Außenbereichsgeher" in dessen Umfeld sich Treppen, bergige und abschüssige Strecken befänden. Da sich die mechanische Kniegelenksbremse beim Wegfallen der vertikalen Last unbeabsichtigt lösen könne, sei der Kläger mehrmals aus der Standphase heraus gestürzt. Die Stürze seien immer dann erfolgt, wenn er versucht habe stehen zu bleiben. Durch die Balanceversuche sei es zu einem unbeabsichtigten Lösen der lastabhängigen Bremse gekommen. Hierbei sei das Prothesenkniegelenk in Richtung Beugung eingeknickt und nach vergeblichen Versuchen, das Gleichgewicht zu halten, sei der Kläger auf Treppen oder Steigungen ungeschickt zu Fall gekommen. Er habe bei zwei seiner Stürze bleibende Schäden davongetragen. Im Sommer 2002 habe er eine Bänderzerrung im rechten Kniegelenk erlitten und 2001 sei es zu einer Fraktur des rechten Handgelenks gekommen. Durch die Vorfälle habe sich seine Gangweise so verändert, dass er die Augen kaum vom Boden erhebe und mit einem zu wenig gebeugten Kniegelenk laufe. Das C-Leg® gewährleiste dem gegenüber aufgrund der elektronischen Steuerung der Schwung- und Standphase eine fehlerfreie Sicherheit der Standphase, weil innerhalb von Sekundenbruchteilen die Hydraulikventile des Kniegelenks geöffnet bzw. geschlossen werden könnten. Somit entfalle die für den Kläger belastende "bewusste" Kontrolle der Mechanik. Der Einsatz des C-Leg® sei durch den Aktivitätsgrad des Klägers und die Vermeidung schwerer Stürze fachorthopädisch indiziert.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 8. April 2003 abgewiesen. Zu Begründung hat es angeführt, dass der Kläger mit dem "Intelligent-Knie" bereits ausreichend zum Ausgleich seiner Behinderung versorgt sei. Die Gewährung des C-Leg® sei nicht im Hinblick auf seinen Aktivitätsgrad und sein Gangumfeld zur Verbesserung seiner Laufleistung, seines Laufstiles sowie zur Vermeidung schwerer Stürze erforderlich. Der Kläger habe lediglich vom 1. Mai bis 31. Juli 1999 und 1. Juli bis 30. September 2001 eine Tätigkeit als Zeitungsausträger über eine tägliche Wegstrecke von sechs Kilometern mit Treppen, Steigungen und Gefälle ausgeübt. Er gehe zweimal wöchentlich zum Schwimmen und begleite täglich die Enkelin auf dem Weg in den Kindergarten. Die sturzbedingte Fraktur des rechten Handgelenks sei bereits 1998 eingetreten. Zu diesem Zeitpunkt habe noch keine Versorgung mit dem "Intelligent-Knie" bestanden. Der Sachverständige Dr. W. hätte sich – vorausgesetzt er hätte Kenntnis von diesen Fakten gehabt – der Auffassung der Beklagten angeschlossen.

Mit seiner Berufung trägt der Kläger vor, das Sozialgericht hätte den Sachverständigen Dr. W. in Anbetracht der im Verfahren nach Erstellung seines Sachverständigengutachtens bekannt gewordenen Tatsachen ergänzend befragen müssen. Die Ansicht des Sozialgerichts, er hätte sich sodann der Ansicht der Beklagten angeschlossen, sei eine Spekulation. Er sei am 14. April 2003 erneut gestürzt und habe sich erheblich an der Hand verletzt. Sein Wohnumfeld in A. sei hügelig und Wege bzw. Straßen seien teilweise uneben bzw. mit Kopfsteinpflaster ausgestattet. Er arbeite zurzeit vier Tage pro Woche zu je drei Stunden als Zeitschriften- und Werbematerialzusteller und bemühe sich auch weiterhin um eine Arbeitsstelle.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 8. April 2003 und den Bescheid der Beklagten vom 28. November 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn mit einer Oberschenkelprothese mit C-Leg® des Herstellers Otto Bock zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich im Wesentlichen auf den Inhalt ihrer angefochtenen Entscheidungen sowie auf die Gründe des in erster Instanz ergangenen Urteils. Der Kläger komme mit dem vorhandenen "Intelligent-Knie" zurecht. Seine momentane Beschäftigung als Zusteller mit durchschnittlich acht Wochenstunden bedinge keinen erheblichen Gebrauchsvorteil.

Der Senat hat ärztliche Befundberichte der Dipl.-Med. B. vom 23. November 2003 und des Dipl.-Med. K. vom 22. Dezember 2003 beigezogen sowie ein orthopädisches Sachverständigengutachten des Prof. Dr. von S. vom 9. Januar 2005 und seine ergänzende Stellungnahme vom 13. März 2006 eingeholt. Dieser hat neben dem Verlust des Beines im Oberschenkel links eine in Fehlstellung verheilte Radiusfraktur rechts mit geringer Funktionsstörung des rechten Handgelenkes und eine beginnende Dupuytrensche Kontraktur des vierten Fingers der linken Hand diagnostiziert. Die bestehende Versorgung des Klägers mit dem "Intelligent-Knie" des Herstellers ORTHO-REHA Neuhof GmbH werde einem durchschnittlichen Aktivitätsniveau gerecht. Beim Wegfallen der vertikalen Last könne die mechanische Bremse zur Sicherung der Standphase unbeabsichtigt lösen. Dies könne zu einem Sturz des Klägers führen. Dem gegenüber entlaste das C-Leg® den Kläger von der Kontrolle der Mechanik, weil die Schwung- und Standphase durch ca. 50 Messungen pro Sekunde kontrolliert und elektronisch gesteuert werde. Dieses System weise eine Funktionsverbesserung hinsichtlich eines sicheren und schnelleren Gehens auch auf unebenem Gelände sowie des Treppensteigens auf. Es werde auch eine zusätzliche Standsicherheit erreicht. Als "uneingeschränkter Außenbereichsgeher", der Treppen sowie bergige und abschüssige Strecken zu bewältigen habe, würde der Kläger von der besseren Standphasensicherung des C-Leg® profitieren. In Anbetracht der privaten und beruflichen Situation des Klägers begründe dies keinen erheblichen Gebrauchsvorteil. Er läge vor, wenn der Kläger z.B. mindesten sechs Stunden täglich als Zusteller tätig wäre und dabei regelmäßig Treppen nutzen müsste.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Prozess- und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte und zulässige Berufung ist begründet.

Der bei der Beklagten krankenversicherte Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Versorgung mit einem C-Leg® des Herstellers Otto Bock nach § 33 Abs. 1 Satz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V), weil dieses erforderlich ist, um eine Behinderung wie vorliegend den Verlust des linken Beines am Oberschenkel auszugleichen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative).

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteile vom 6. Juni 2002 – Az.: B 3 KR 68/01 R in: SozR 3-2500 § 33 Nr. 44 und vom 16. September 2004 – Az.: B 3 KR 20/04 R in: SozR 4-2500 § 33 Nr. 8 = BSGE 93, S. 183), der der Senat folgt, ist der Einsatz der Beine ein Grundbedürfnis, das das C-Leg® nach dem gegenwärtigen Stand der Technik soweit wie möglich deckt (vgl. BSG vom 6. Juni 2002, a.a.O.). Denn das C-Leg® ist zum Behinderungsausgleich erforderlich, weil es gegenüber dem "Intelligent-Knie" deutliche Gebrauchsvorteile aufweist, die der Kläger entgegen der Auffassung der Beklagten und des Sozialgerichts nach seinen körperlichen und geistigen Voraussetzungen sowie seiner Lebensgestaltung zu nutzen vermag.

Ausweislich der Sachverständigengutachten des Dr. W. vom 8. Januar 2003 und des Prof. Dr. von S. vom 9. Januar 2006 besitzt das C-Leg® eine elektronische Steuerung der Schwung- und Standphase, die mit ca. 50 Messungen pro Sekunde entsprechende Werte u.a. aus dem Knöchelmoment, dem Kniewinkel und der Kniewinkelgeschwindigkeit verarbeitet. Diese Steuerung verbessert nach den Feststellungen beider Sachverständiger, die der Senat nicht bezweifelt, gegenüber dem "Intelligent-Knie" die Standsicherheit des Klägers, weil dieses nur über eine lastabhängige mechanische (Stand-)bremse verfügt, die sich bei Balanceversuchen unbeabsichtigt lösen kann. Insoweit erfordert sie im Gegensatz zum C-Leg® eine gesteigerte Aufmerksamkeit des Klägers insbesondere in der Standphase. Das C-Leg® bietet darüber hinaus Vorteile in Gestalt einer erhöhten Sturzsicherheit und eines verbesserten Bewegungsablaufs (vgl. BSG, Urteil vom 16. September 2004, a.a.O.) beim (schnellen) Gehen auf unebenem Gelände und Treppensteigen.

Der Kläger profitiert als uneingeschränkter Außenbereichsgeher, der ein Geländeprofil mit abschüssigen Strecken und Steigungen teilweise auf unebenem Boden (z.B. Kopfsteinpflaster) zu bewältigen hat, in erheblicher Weise von den mit dem C-Leg® gegenüber seiner bisherigen Prothesenversorgung erreichten Funktionsverbesserungen. Nach seinen Angaben hat er die bisherige Prothese ganztägig in Gebrauch. Er legt täglich mehrere Kilometer zurück, indem er z.B. seine Enkelin auf ihrem Weg zum Kindergarten (drei Kilometer) begleitet und seinen Kleingarten aufsucht, um dort ggf. mehrstündig Gartenarbeiten zu verrichten. Darüber hinaus ist er zumindest bis Januar 2007 nach eigenen Angaben auf Basis von zurzeit je drei Stunden an vier Wochentagen als Zusteller für Zeitungen und Werbematerial tätig und strebt auch für die weitere Zukunft eine berufliche Tätigkeit auf Teilzeitbasis an.

Diese sich im normalen Alltag ergebenden Gebrauchsvorteile wertet der Senat als erheblich und sieht die Versorgung mit dem C-Leg® somit als notwendig an. Er folgt ausdrücklich nicht der in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13. März 2006 vertretenen Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. von S., wonach der Kläger erst dann einen erheblichen Nutzen aus dem C-Leg® ziehen könnte, wenn er als Zusteller täglich sechs Stunden bei regelmäßiger Nutzung von Treppen tätig wäre. Ein solcher Ansatz würde die Anforderungen an die Erforderlichkeit überspannen, zumal das BSG es als ausreichend gebilligt hat, wenn sich erhebliche Gebrauchsvorteile lediglich im allgemeinen Alltagsleben und nicht nur aus Sondersituationen wie bei der Beaufsichtigung von kleinen Kindern (BSG vom 6. Juni 2002, a.a.O.) oder in ähnlicher Weise hervorgehobenen Lebensbereichen (vgl. BSG, Urteil vom 16. September 2004, a.a.O.) ergeben. In dieser Hinsicht folgt der Senat auch den Ausführungen des Sachverständigen Dr. W., der angesichts des Aktivitätsgrades im Zusammenhang mit dem Gangumfeld und der "sozialen Integration" des Klägers eine Versorgung mit dem C-Leg® als fachorthopädisch indiziert ansieht.

Unerheblich ist, ob und auf welche Weise der Kläger in der Vergangenheit gestürzt ist und welche Verletzungen (vgl. Befundberichte der Dipl.-Med. B. vom 23. November 2003 und des Dipl.-Med. K. vom 22. Dezember 2003) er sich dabei möglicherweise zugezogen hat. Denn nach einhelliger Auffassung der Sachverständigen und zwischen den Beteiligten unstreitig führt die Versorgung mit dem C-Leg® zu einer erhöhten Stand-, Geh- und damit Unfallsicherheit gegenüber dem "Intelligent-Knie".

Aus diesem Grund vermag der Senat auch nicht der in seinem Urteil vertretenen Ansicht des Sozialgerichts zu folgen, es komme bei der Beurteilung der Voraussetzungen für eine Versorgung mit dem C-Leg® darauf an, dass der Kläger bereits wegen des oder mit dem "Intelligent-Knie" gestürzt sei.

Soweit das Sozialgericht, nachdem der Kläger auf entsprechenden Hinweis seine Angaben über die Verletzung des rechten Handgelenks in zeitlicher Hinsicht korrigiert hat, die Auffassung vertritt, der Sachverständige Dr. W. hätte bei Kenntnis des "tatsächlichen Sachverhalts" eine andere Beurteilung über die Notwendigkeit der vom Kläger begehrten Prothesenversorgung getroffen, ist weder aus dem Urteil noch aus der Gerichtsakte ersichtlich, ob und auf welche Weise es seine medizinischen Sachkenntnisse erworben hat (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage 2005, § 103 Rdnr. 7b) und aus welchen Gesichtpunkten heraus es die sich auch nach seiner Rechtsauffassung (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 103, Rdnr. 20) aufdrängende ergänzende Anfrage an den Sachverständigen Dr. W. unterlassen hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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