L 12 AS 157/07 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 12 AS 5735/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 157/07 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird unter Zurückweisung im Übrigen der Beschluss des SG Freiburg vom 22.12.2006 abgeändert und die Antragsgegnerin verpflichtet vorläufig vom 1.1.2007 bis 30.6.2007 Hilfe zum Lebensunterhalt unter Anrechnung der tatsächlichen Mietkosten zu gewähren.

Die Antragsgegnerin trägt 2/3 der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Gründe:

I.

Der Antragsteller (Ast.) begehrt die vorläufige Gewährung höherer Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II von der Antragsgegnerin (Ag.).

Der Ast. und seine Ehefrau mieteten zum 1.8.2006 eine Zweizimmerwohnung in der A.-H. Str. 89 in F. an. Für die Wohnung ist eine monatliche Kaltmiete von 445,00 EUR zzgl. 105,00 EUR Nebenkosten zu entrichten. Vor dem 1.8.2006 hatte sich der Ast. in Haft befunden. Die Ehefrau des Ast. hatte in der A.str. 1 in F. ge¬wohnt. Die Ehefrau des Ast. ist bei der Firma B. Gaststätten GmbH sozial¬versicherungspflichtig beschäftigt. Ihr gesetzliches Nettoeinkommen beträgt monatlich 1115,21 EUR.

Am 29.8.2006 beantragte der Ast. bei der Ag. Leistungen der Grundsiche¬rung für Arbeitssuchende nach dem SGB II für sich und seine Ehefrau. Diese wurden ihm und seiner Ehefrau als Bedarfsgemeinschaft mit Bescheid vom 12.9.2006 für den Zeitraum vom 29.8.2006 - 28.2.2007 bewilligt. Kosten der Unterkunft wurden der Bedarfsgemeinschaft in Hö¬he von monatlich 444,25 EUR gewährt, wobei der Berechnung nicht die tatsächliche Kaltmiete von 445,00 EUR, sondern lediglich die von der Ag. in ihrem örtlichen Zuständigkeitsbe¬reich für angemessen erachtete Kaltmiete für einen Zweipersonenhaushalt von 337,20 EUR (5,62 EUR x 60 qm) zugrunde gelegt wurde. Ferner wurde das Nettoeinkommen der Ehefrau abzüglich einer Versicherungspauschale in Höhe von 30,00 EUR und eines Freibetrags von 250,00 EUR auf den Bedarf der Bedarfsgemeinschaft angerechnet.

Gegen diesen Bescheid legte der Ast. am 13.10.2006 Widerspruch ein, mit dem er die Übernahme der vollständigen tatsächlichen Kaltmiete sowie die Gewährung eines höheren Freibetrags bei der Errechnung des einzusetzenden Einkommens sei¬ner Ehefrau geltend machte. Am 20.11.2006 beantragte der Ast. beim SG F. (SG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem Ziel der vorläufigen Übernahme der vollständigen tatsächlichen Kaltmiete sowie der vorläufigen Gewährung eines Erwerbstätigenfreibetrags von monatlich 280,00 EUR statt 250,00 EUR. Dieser Antrag wurde mit Beschluss vom 22.12.2006 zurückgewiesen. In den Gründen wurde ausgeführt, unter dem As¬pekt des Anordnungsgrundes sei der Eilantrag unbegründet. Es sei dem Ast. im vorliegenden Fall zuzumuten, zu¬nächst den Ausgang des Widerspruchsverfahrens abzuwarten. Die Ag. gewähre dem Ast. zur Zeit monatlich 222,12 EUR Kosten der Unterkunft und Heizung. Tatsächlich entstünden dem Ast. nach seinem Vortrag im Widerspruchsverfahren jedoch monatliche Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 275,66 EUR. Die Differenz zwischen den tatsächlich gewährten und den geltend gemachten Leistungen betrage hier also 53,54 EUR. Ferner begehre der Ast. die Absetzung eines Freibetrags vom Einkommen seiner Ehefrau in Höhe von monatlich 280,00 EUR statt wie bisher 250,00 EUR. Würde diesem Begehren entsprochen, würde sich der auf der Ast. entfaltende Anteil an den Leistungen nach dem SGB II also um 15,00 EUR erhöhen. Der Ast. mache also insgesamt einen monatlichen Mehrbetrag von 68,54 EUR geltend. Das Gericht verkenne nicht, dass dieser Betrag für Leistungsbezieher nach dem SGB II in der Regel nicht unerheblich sei. Im konkreten Fall des Ast. sei jedoch gleichwohl nicht ersicht¬lich, dass dem Ast. nicht zuzumuten wäre, zunächst die Entscheidung der Ag. über den Widerspruch abzuwarten. Denn der Ast. und seine Ehefrau verfügten gemeinsam derzeit über ein höheres Einkommen als ein Ehepaar, welches nur Leistungen nach dem SGB II beziehe. Gegen diesen Beschluss legte die Ag. am 10.1.2007 Beschwerde ein, welche das SG nach Entscheidung über die Nichtabhilfe dem LSG Baden-Württemberg vorlegte. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Ast. sei durch den Umstand, dass seine Ehefrau Erwerbseinkommen beziehe nicht besser gestellt. Die Anforderungen an den Anordnungsgrund seien um so niedriger je unzweifelhafter der Anordnungsanspruch sei. Die Unterkunft des Ast. sei durchaus angemessen. Nach dem Bericht des F."Runden Tisches zu den Auswirkungen der Hartz IV Gesetze in F." seien nach Auswertung von 5000 Wohnungsinseraten von Mai 2006 bis August 2006 lediglich 10 Wohnungsangebote für Wohnungen von 45 bis 60 qm zu einem Quadratmeterpreis von weniger als 5,62 EUR angeboten worden. Die überwiegende Zahl der Wohnungen sei zu einem Quadratmeterpreis von 7,51 EUR bis 9,50 EUR angeboten worden. Im genannten Zeitraum dürften mehrere Alg II-Bezieher wegen der Aufforderung der Ag. zur Senkung der Mietkosten auf Wohnungssuche gewesen sein. Wegen der 6-monatigen Schonfrist nach 22 SGB II dürfte es aber darauf nicht ankommen. Mit Bescheid vom 19.1.07 wies die Ag. den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Antragssteller habe es entgegen seiner gesetzlichen Verpflichtung versäumt vor Abschluss des Mietvertrags die Zusicherung der Ag. zur Übernahme der Mietkosten einzuholen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig und im Hinblick auf die Mietkosten auch begründet. Das SG hat die rechtlichen Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung zutreffend ausgeführt. Der Senat nimmt insoweit darauf Bezug. Ergänzend ist noch auszuführen, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung verlangt. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich aus Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG), wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es - wie hier - im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums während eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens geht. Ist während des Hauptsacheverfahrens das Existenzminimum nicht gedeckt, kann diese Beeinträchtigung nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden, selbst wenn die im Rechtsbehelfsverfahren erstrittenen Leistungen rückwirkend gewährt werden (BVerfG 12.05.2005, NVwZ 2005, 927, 928). Die Gerichte müssen in solchen Fällen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG, NJW 2003, 1236). Dies gilt insbesondere dann, wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Ast. eines Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, das der Ast. mit seinen Begehren verfolgt (BVerfG, NVwZ 2004, 95, 96). Dies gilt insbesondere, wenn der Amtsermittlungsgrundsatz gilt. Außerdem müssen die Gerichte Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen (BVerfG 12.05.2005, NVwZ 2005, 927, 928). Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Ast.s umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG, NJW 2003, 1236, 1237). Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern. Diese besonderen Anforderungen an Eilverfahren schließen andererseits nicht aus, dass die Gerichte den Grundsatz der unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache vermeiden, indem sie zum Beispiel Leistungen nur mit einem Abschlag zusprechen (vgl. BVerfG 12.05.2005, NVwZ 2005, 927, 928). Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sind im vorliegenden Fall erfüllt. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass der Unterschied zwischen der Höhe der gezahlten Leistungen für Unterkunft rund 53,00 EUR beträgt und es dem Ast. nicht zugemutet werden kann, bis zum Ergehen einer Entscheidung in der Hauptsache fast ein Viertel der bewilligten Regelleistung (220,13 EUR) für die Miete abzuzweigen. Es sprechen überwiegende Anhaltspunkte dafür, dass die Berechnung der Ag. bzgl. der Unterkunftskosten rechtswidrig ist. Diese ging von einem Quadratmeterpreis für eine angemessene Wohnung von 5,62 EUR aus. Dieser Quadratmeterpreis ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht angemessen, weil er die Preisentwicklung im unteren Segment der Wohnungen unberücksichtigt lässt. Der Ast. hat glaubhaft vorgetragen, dass zu dem vom Antraggegnerin genannte Quadratmeterpreis kaum Wohnungen zu bekommen sind. Er stützt sich hierbei auf umfangreiche Ermittlungen des "Runden Tisch zu den Auswirkungen der Hartz-Gesetze in Freiburg". Dessen Mitarbeiter haben über einen Zeitraum von 3 Monaten im Jahre 2006 mehr als 5000 Wohnungsanzeigen ausgewertet und sind dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass gerade im unteren Preissegment die Mietpreise stark angestiegen sind und zum von Ag. als angemessen angesehen Quadratmeterpreis kaum Wohnungen zu bekommen sind. Bei den Wohnungen von 45-60 Quadratmeter wurden im genannten Zeitraum gerade 10 Wohnungen angeboten. Die häufigsten Angebote lagen zwischen 7,51 und 9,50 EUR. Unter Berücksichtigung des Umstands. dass durch die Vielzahl der ALG-II Empfänger die Nachfrage in diesem Bereich stark gestiegen ist, spricht die überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, das der vom Ast. gezahlte Quadratmeterpreis von 7,40 EUR angemessen ist. Nach den vorliegen Unterlagen handelt es sich auch um eine Wohnung der unteren Kategorie. Die Ag. hat zu diesem Vorbringen im Beschwerdeverfahren keine Stellung genommen, sie hat auch keinen Versuch gemacht ihre Daten über einen angemessenen Mietpreis, etwa dem neuesten F. Mietspiegel (2007), abzusichern. Nach § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II sollen die Leistungen jeweils für sechs Monate bewilligt werden. Dieser zeitliche Rahmen kann auch im einstweiligen Rechtschutzverfahren als Maßstab für eine zeitliche Begrenzung herangezogen werden, wobei eine längere Bewilligung als sechs Monate ab dem Datum der Beschlussfassung des Gerichts kaum in Betracht kommen dürfte, da Hilfebedürftigkeit für einen derart langen Zeitraum im einstweiligen Rechtschutzverfahren nur in Ausnahmefällen im Voraus wird festgestellt werden können. Dagegen kann es im Einzelfall sachgerecht sein, die Verpflichtung zur Leistungsgewährung nur für einen deutlich kürzeren Zeitraum auszusprechen. Damit wird sichergestellt, dass die Voraussetzungen für die Leistungsbewilligung in regelmäßigeren Abständen neu überprüft werden können. Im vorliegenden Fall hält es der Senat für angemessen, die einstweilige Anordnung bis zum 31.06.2007 zu begrenzen. Eine Verpflichtung zur Bewilligung von Leistungen vor dem Zeitpunkt der Beantragung der einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht (20.11.2006) kommt grundsätzlich nicht in Betracht. Dies beruht auf dem auch für das Recht des SGB II geltenden Grundsatz, dass Hilfe zum Lebensunterhalt im Wege einer einstweiligen Anordnung nur zur Behebung einer gegenwärtigen Notlage zu erfolgen hat und nicht rückwirkend zu bewilligen ist. Dies gilt nur dann nicht, wenn ein Nachholbedarf plausibel und glaubhaft gemacht ist Letzteres ist hier nicht der Fall. Der Senat hält es für ausreichend, wenn dem Ast. die höhere Leistung ab 01.1.2007 gewährt wird. Die vom Ast. ebenfalls noch gerügte Anrechnung des Freibetrags der erwerbstätigen Ehefrau ist unter Bezugnahme auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 19.1.2007 überwiegend rechtmäßig, so dass bereits kein Anordnungsanspruch besteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved