S 15 KR 213/06

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 15 KR 213/06
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Eine eigene Prüfungskompetenz der Krankenkasse zur Frage der Erwerbsfähigkeit besteht nicht.

2. Bestandskräftige Bescheide über den Bezug von Arbeitslosengeld II bilden einen Rechtsgrund für den Leistungsbezug. Für die Feststellung der Vorversicherungszeit gem. § 9 Ab s. 1 Nr. 2 SGB V kommt es kann nicht darauf an, ob Arbeitslosengeld II materiell "zu Unrecht" bezogen wurde.
1. Der Bescheid der Beklagten vom 10.03.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.07.2006 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, die Klägerin seit 10.02.2006 als freiwillig versichertes Mitglied in die gesetzliche Krankenversicherung aufzunehmen.

2. Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten in gesetzlich zulässigem Umfang zu erstatten.
Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Aufnahme der Klägerin in die gesetzliche Krankenversicherung als freiwillig versichertes Mitglied.

Die Klägerin hatte von 1994 bis 31.12.2004 Leistungen nach dem Bundssozialhilfegesetz (BSHG) von der Beigeladenen und vom 01.01.2005 bis zum 09.02.2006 Arbeitslosengeld II nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) von der Gesellschaft f. I. u. A. GmbH – G.mbH - gemäß bestandkräftigen Bescheiden vom 17.05.2005 und 11.10.2005 bezogen. Sie war während des gesamten Zeitraums des Bezugs von Arbeitslosengeld II bei der Beklagten gem. § 5 Abs. 2a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) pflichtversichertes Mitglied. Mit Bescheid vom 11.01.2006 stellte die G.mbH die Zahlung von Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II mit Wirkung zum 10.02.2006 - nicht rückwirkend - wegen der Vollendung des 65. Lebensjahres ein.

Am 13.01.2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten eine freiwillige Krankenversicherung. Die Beklagte beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) in H. Nach dessen sozialmedizinischer Fallberatung vom 07.03.2006 aufgrund einer Rücksprache mit dem Hausarzt sei die Klägerin zumindest ab dem Jahr 2004 auf Dauer erwerbsunfähig. Die Beklagte lehnte die freiwillige Weiterversicherung unter Hinweis auf fehlende Vorversicherungszeiten mit Bescheid vom 10.03.2006 ohne Rechtsbehelfsbelehrung ab. Die als Leistungsbezieher nach dem SGB II gemeldete Versicherungszeit könne im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben nicht berücksichtigt werden, da die Klägerin Arbeitslosengeld II wegen fehlender Erwerbsfähigkeit zu Unrecht bezogen habe.

Hiergegen erhob die Klägerin am 15.05.2006 Widerspruch.

Die Beklagte wies den Widerspruch nach erfolgter Anhörung mit Schreiben vom 22.05.2006 mit Widerspruchsbescheid vom 10.07.2005 zurück. Die Neuregelung des § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V solle verhindern, dass ein wegen fehlender Erwerbsfähigkeit rechtswidriger Bezug von Arbeitslosengeld II dazu führe, dass nach Ende des unrechtmäßigen Leistungsbezugs eine dauerhafte freiwillige Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung begründet werden kann. Der Bezug der Leistung des Arbeitslosengeldes II sei gem. § 7 SGB II u. a. davon abhängig, dass der Berechtigte erwerbsfähig sei, § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II. Eine Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei bereits seit dem Jahr 2004 nicht mehr gegeben. Ab diesem Zeitpunkt sei der Bezug von Arbeitslosengeld II zu Unrecht erfolgt. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine freiwillige Versicherung seien nicht gegeben.

Hiergegen hat die Klägerin am 26.07.2005 Klage zum erkennenden Gericht erhoben. Sie begehrt die Aufnahme in die freiwillige Krankenversicherung zum 10.02.2006.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
den Bescheid der Beklagten vom 10.03.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.07.2006 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Klägerin seit 10.02.2006 als freiwillig versichertes Mitglied in die gesetzliche Krankenversicherung aufzunehmen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

Die Beklagte führt aus, die Klägerin habe weder die "kleine" noch die "große" Vorversicherungszeit gem. § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V erfüllt. Der Zeitraum vom 01.01.2005 bis 09.02.2006 könne nicht auf die Vorversicherungszeit angerechnet werden, da die Antragstellerin Arbeitslosengeld II zu Unrecht bezogen habe. Wegen der fehlenden Erwerbsfähigkeit seien die Voraussetzungen des § 19 SGB II nicht erfüllt gewesen, da die Voraussetzungen einer mindestens dreistündigen täglichen Erwerbsfähigkeit nach § 8 SGB II für den rechtmäßigen Bezug von Arbeitslosengeld II nicht vorgelegen hätten. Die GIAG mbH habe Leistungen ohne Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen gewährt, mit der Konsequenz, dass die Klägerin Leistungen nach dem SGB II materiell zu Unrecht bezogen hat. Eine formalrechtliche Betrachtungsweise lasse die Vorschrift des § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 2. Halbsatz SGB V leer laufen.

Die Beigeladene vertritt die Auffassung, die Klägerin habe einen Anspruch auf die Aufnahme in die freiwillige Krankenversicherung nach dem SGB V. Der Bezug von Arbeitslosengeld II sei nicht rückwirkend aufgehoben worden. Der Beklagten stehe auch kein eigenständiges Prüfungsrecht hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Gewährung von Arbeitslosengeld II zu.

Das Gericht hat die Akten der G. mbH beigezogen.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Klägerin vom Termin am 05.04.2007 aufgrund der mündlichen Verhandlung durch entscheiden, weil die Klägerin ordnungsgemäße Terminsmitteilung erhalten hat und darauf hingewiesen wurde, dass auch im Falle ihres Ausbleibens verhandelt und entschieden werden könne, §§ 110, 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 10.03.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.07.2006 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Zu Unrecht hat die Beklagte ihr die Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung als freiwilliges Mitglied verweigert.

Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V in der seit 31.12.2005 gültigen Fassung des Art. 2a des Gesetzes vom 22.12.2005 (BGBl I, S. 3676) können Personen der gesetzlichen Krankenversicherung beitreten, die als Mitglieder aus der Versicherungspflicht ausgeschieden sind und in den letzten fünf Jahren vor dem Ausscheiden mindestens vierundzwanzig Monate oder unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen mindestens zwölf Monate versichert waren; Zeiten der Mitgliedschaft nach § 189 SGB V und Zeiten, in denen eine Versicherung allein deshalb bestanden hat, weil Arbeitslosengeld II zu Unrecht bezogen wurde, werden nicht berücksichtigt.

Die Klägerin hat die Voraussetzungen für den Beitritt in die freiwillige gesetzliche Krankenversicherung zum 10.02.2006 erfüllt, denn sie war bis 09.02.2006 versicherungspflichtiges Mitglied bei der Beklagten und war unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht mindestens zwölf Monate - nämlich vom 01.01.2005 bis 09.02.2006 - gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGBV durch den Bezug des Arbeitslosengeldes II versichert.

Die Zeiten des Bezuges von Arbeitslosengeld II sind bei der Berechnung der Vorversicherungszeiten zu berücksichtigen, da der Leistungsbezug nicht zu Unrecht erfolgt. Denn Rechtsgrund für den Leistungsbezug sind die Bescheide der G.mbH vom 17.05.2005 und 11.10.2005, die nicht mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben wurden und bestandskräftig sind.

Der Bezug des Arbeitslosengeldes II ist damit zumindest formell rechtmäßig. Der Ausschluss der Vorversicherungszeit wegen unrechtmäßigen Leistungsbezugs nach dem SGB II durch die Regelung des § 9 Abs. 1 Nr. 1, 2. Halbs. SGB V ist auf den Fall der rückwirkenden Aufhebung der Leistungsbewilligung durch den Leistungsträger nach dem SGB II oder durch die Sozialgerichte beschränkt. Die Beklagte ist an die bestandskräftige Entscheidung der G.mbH als Leistungsträger nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitssuchende – (SGB II) gebunden.

Nach § 44a Satz 1 SGB II in der bis zum 31.07.2005 geltenden Fassung stellt die Agentur für Arbeit fest, ob der Arbeitsuchende erwerbsfähig und hilfebedürftig ist. Diese Regelung zur Feststellungsbefugnis hat zur Folge, dass der entsprechenden Entscheidung nach allgemeinen Regeln auch Tatbestands- oder Legalisierungswirkung zukommt. Die Tatbestands- oder Legalisierungswirkung, die ihren Rechtsgrund im Rechtstaatsprinzip, insbesondere dem Grundsatz der Rechtssicherheit und Rechtseinheit findet, hat zum Inhalt, dass zum einen auch alle anderen Behörden die Tatsache, dass der Verwaltungsakt erlassen wurde und rechtlich existent ist, als maßgeblich akzeptieren müssen. Zum anderen sind sie an die getroffene Regelung oder Feststellung gebunden, ohne dass sie die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes nochmals überprüfen müssten oder dürften (SG Wiesbaden, Beschluss vom 19.05.2006, Az.: S 17 KR 115/06 ER m. w. N.).

Bei dieser Sachlage kann auch offen bleiben, ob bei der Klägerin für den Zeitraum des Leistungsbezugs nach dem SGB II Erwerbsfähigkeit i. S. v. § 8 SGB II vorlag. Ein diesbezügliches Prüfungsrecht steht der Beklagten nicht zu, denn § 44a S. 1 SGB II weist die Feststellung der Erwerbsfähigkeit als Voraussetzung für den Bezug von Arbeitslosengeld II nach § 19 SGB II allein der Agentur für Arbeit, nicht der Beklagten zu.

Denn eine eigenständiges Prüfungskompetenz der Beklagten als Krankenkasse zur Frage der Erwerbsfähigkeit besteht nicht (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 07.07.2006, Az.: L 8 KR 109/06 ER, bzw. vorgehend SG Wiesbaden a. a. O., Ladessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.08.2006 L 20 B 77/06 SO ER).

Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 9 Abs. 1 Nr. 1, 2. Halbs. SGB V sollen Zeiten des rechtswidrigen Bezuges von Arbeitslosengeld II bei der Berechnung der Vorversicherungszeiten unberücksichtigt bleiben. Weder nach dem Wortlaut noch nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 16/245) gibt es jedoch Anhaltspunkte dafür, dass die Tatbestandswirkung der Leistungsbewilligung durch den Träger der Leistungen nach dem SGB II durchbrochen werden soll. Hierfür fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage (vgl. auch Hess. LSG a. a. O, SG Wiesbaden a. a. O.)

Darüber hinaus erscheint die Argumentation der Beklagten, eine formalrechtliche Betrachtung widerspreche dem vom Gesetzgeber mit der Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V in der seit 31.12.2005 geltenden Fassung verfolgten Gesetzeszweck, zu verhindern, dass ein wegen fehlender Erwerbsfähigkeit rechtswidriger Bezug von Arbeitslosengeld II dazu führt, dass im Anschluss daran eine dauerhafte freiwillige Mitgliedschaft begründet werden kann (vgl. BT-Drucksache 16/245, S. 9, 10), bei formalrechtlicher Betrachtungsweise ins Leere laufe, angreifbar, da für die Fälle ungeklärter Leistungsverpflichtung ein eigener Anwendungsbereich verbleibt.

Schließlich steht der Befürwortung eines eigenständigen Prüfungsrechts der Krankenkassen und dem Abstellen auf die materielle Rechtmäßigkeit des Arbeitslosengeld II-Bezugs auch die Verwaltungspraktikabilität entgegen. Denn dann würden nach dem Wortlaut des § 9 Abs. 1 Nr. 1, 2. Halbs. SGB V die Krankenkassen nicht nur berechtigt sondern auch verpflichtet sein, bei der Feststellung, ob Arbeitslosengeld II "zu Unrecht bezogen wurde", sämtliche Anspruchsvoraussetzungen des Leistungsbezugs nach dem SGB II zu prüfen, also nicht nur die Erwerbsfähigkeit sondern auch die Hilfebedürftigkeit des Leistungsbeziehers. Dies würde nicht nur zu erheblichen Verwaltungsaufwand im Rahmen der Massenverwaltung sondern auch zu einer Doppelprüfung der Leistungsvoraussetzungen für das Arbeitslosengeld II führen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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