L 28 B 429/07 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
28
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 34 AS 1503/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 28 B 429/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Februar 2007 abgeändert. Dem Antragsteller zu 1) wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe gewährt und Rechtsanwalt KS beigeordnet. Raten aus dem Einkommen oder Vermögen sind nicht zu zahlen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Februar 2007 ist gemäß § 172 Abs. 1 und §173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die Beschwerde im Übrigen ist unbegründet.

Der Antragsgegner war nicht im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller zu 1) monatliche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ohne Anrechnung der ihm bewilligten Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) in Höhe von 494,71 EUR statt 321, 88 EUR zu gewähren. Es besteht insoweit keine besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlich machen würde.

In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - NJW 2003, S. 1236 und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, S. 803). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Absatz 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine - stattgebende - Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen.

Im vorliegenden Fall hat der Antragsgegner den in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Antragstellern mit Bescheid vom 22. November 2006 für den Bewilligungszeitraum vom 1. November 2006 bis zum 30. April 2007 Leistungen nach dem SGB II bewilligt und hierbei im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung des Antragstellers zu 1) BAföG-Leistungen in Höhe von 172, 83 EUR berücksichtigt. Nach Aktenlage ist noch kein Bescheid über die Leistungsansprüche der Antragsteller für die Zeit vom 1. Mai 2007 an ergangen. Sollte der Antragsgegner hierüber aber bereits entschieden haben, ist der entsprechende Bewilligungsbescheid nicht in entsprechender Anwendung des § 86 SGG Gegenstand des nach Angaben der Antragsteller noch nicht abgeschlossenen Widerspruchsverfahrens geworden. Denn im Rahmen des SGB II ist eine analoge Anwendung des § 96 SGG (die dem § 86 SGG entsprechende Vorschrift für das Klageverfahren) auf Bewilligungsbescheide für Folgezeiträume wegen der Besonderheiten dieses Rechtsgebietes nicht gerechtfertigt (Urteil des Bundessozialgerichts vom 7. November 2006 - B 7b AS 14/06 R -, zitiert nach Juris). Bei vernünftiger und sachgerechter Auslegung des angefochtenen Beschlusses hat das Sozialgericht auch nicht über die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes für diesen Folgezeitraum entschieden. Die Antragsteller müssen insoweit gesondert um einstweiligen Rechtsschutz nachsuchen.

Im Hinblick hierauf kann mit dem Gesuch nach einstweiligen Rechtsschutz durch eine Entscheidung des Senats lediglich eine (vorläufige) Nachzahlung von Leistungen für einen im Zeitpunkt der Zustellung dieses Beschlusses gänzlich abgelaufenen, also in der Vergangenheit liegenden Bewilligungszeitraum erreicht werden. Es ist indes nicht vorgetragen worden, dass zu befürchten ist, dass den Antragstellern durch ein Zuwarten auf eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile entstünden, die durch eine - stattgebende - Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig gemacht werden könnten. Entsprechende Anhaltspunkte sind auch nach Aktenlage nicht ersichtlich. Dies bedeutet dass insoweit effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren erlangt und den Antragstellern ein Zuwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache zugemutet werden kann.

Soweit das Sozialgericht allerdings die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung des Bevollmächtigten des Antragstellers zu 1) – nur insoweit wurde erstinstanzlich Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Bevollmächtigten beantragt - abgelehnt hat, ist die Beschwerde begründet. Dem Antragsteller ist für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 114 Satz 1, 115, 119 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) zu gewähren.

Die Gewährung von Prozesskostenhilfe setzt nach den genannten Vorschriften voraus, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Diese Erfolgsaussicht war im Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrages, am 5. Februar 2007, mit Übersendung eines aktuellen Kontoauszuges des Antragstellers zu 1) gegeben. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das angerufene Gericht beurteilt danach die Erfolgsaussicht regelmäßig ohne abschließende tatsächliche und rechtliche Würdigung des Streitstoffes. Steht eine höchstrichterliche Klärung von im Hauptsacheverfahren noch entscheidungserheblichen Fragen aus, so läuft es dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, dem Unbemittelten wegen fehlender Erfolgsaussicht seines Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten. Denn dadurch würde der unbemittelten Partei im Gegensatz zu der bemittelten die Möglichkeit genommen, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren darzustellen und von dort aus in die höhere Instanz zu bringen (vgl. zuletzt Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 14. Juni 2006 - 2 BvR 626/06 -, BvR 656/06, zitiert nach Juris, RdNr. 13 m. w. Nachw.).

An diesen Grundsätzen gemessen hatte der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Denn in der Sache war zwischen den Beteiligten in diesem einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Frage streitig, ob die dem Antragsteller zu 1) gewährten BAföG-Leistungen als Einkommen im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung nach dem SGB II zu berücksichtigen sind und hierbei insbesondere die Frage, sofern wie im Falle des Antragstellers zu 1), der Hilfebedürftige diese Leistungen aufgrund eines schulgeldpflichtigen Schulbesuchs erhält, dieses Schulgeld als mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Ausgabe nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SGB II von den BAföG-Leistungen abzusetzen ist. Während der Antragsgegner diese Frage verneint, hat der 32. Senat dieses Gerichts diese Frage bejaht (Beschluss vom 26. März 2006 – L 32 B 399/07 AS ER -, abrufbar unter www.sozialgerichtsbarkeit.de). Höchstrichterlich ist diese Frage noch nicht geklärt. Dem Antragsteller war deshalb Prozesskostenhilfe zu gewähren.

Die Vertretung durch einen Rechtsanwalt war erforderlich, § 121 Abs. 2 ZPO. Das Verfahren war für den Kläger von erheblicher Bedeutung. Für das Beschwerdeverfahren wurde keine Prozesskostenhilfe beantragt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und § 73 a SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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