L 26 B 567/07 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
26
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 118 AS 2840/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 26 B 567/07 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. März 2007 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin auch deren Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. März 2007 ist gemäß §§ 172 Abs. 1 und 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antragsgegner zu Recht im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für den Bewilligungszeitraum vom 5. Februar 2007 bis zum 30. April 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne Anrechnung des von ihr bezogenen Existenzgründungszuschusses zu gewähren.

Für die Entscheidung des Senats in diesem Beschwerdeverfahren sind die Grundsätze anzuwenden, die das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zum Zweiten Buch des Sozialgesetzbuch (SGB II) entwickelt hat (Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005, 927 ff.). Die danach zu treffende Entscheidung kann sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden, wobei Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt. Soll die Entscheidung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert werden, ist das erkennende Gericht verpflichtet, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, insbesondere dann, wenn das einstweilige Verfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende regelmäßig der Fall ist, da der elementare Lebensbedarf für die kaum je absehbare Dauer des Hauptsacheverfahrens bei ablehnender Entscheidung nicht gedeckt ist. Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand der Folgenabwägung zu entscheiden, die daran ausgerichtet ist, eine Verletzung grundgesetzlicher Gewährleistungen zu verhindern, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert. Die Sicherung des Existenzminimums (verwirklicht durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende) ist eine grundgesetzliche Gewährleistung in diesem Sinne (vgl. auch Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 12. Dezember 2006 - L 10 B 1052/06 AS ER -).

Im vorliegenden Fall entscheidet der Senat aufgrund einer Folgenabwägung. Denn die Frage, ob es sich bei dem Existenzgründungszuschuss nach § 421 Abs. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch um eine zweckbestimmte Einnahme im Sinne des § 11 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a SGB II handelt, die nicht als Einkommen gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II berücksichtigt werden darf, ist umstritten. Während die von dem Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss zitierten Landessozialgerichte diese Frage bejahen, handelt es sich nach Auffassung des 10. Senates dieses Gerichts bei dem Existenzgründungszuschuss nicht um eine privilegierte Einnahme im Sinne des § 11 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a SGB II, weil beide Leistungen der Unterhaltssicherung im weitesten Sinne dienten (Beschluss vom 6. Dezember 2005 - L 10 B 1144/05 AS ER -, abrufbar unter www.sozialgerichtsbarkeit.de). Das Bundessozialgericht (BSG) hat diese Rechtsfrage noch nicht entschieden. In dem Verfahren mit dem Aktenzeichen B 7 b AS 20/06 R, in dem diese Frage entschieden werden sollte, wurde die Revision nach Ladung zum Termin am 29. März 2007 zurückgenommen (Terminsbericht des BSG Nr. 15/07). Ein weiteres Parallelverfahren mit dem Aktenzeichen B 7 b 16/06 R ist noch anhängig. Da im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens derartige Rechtsfragen grundsätzlich nicht geklärt werden können, sondern dies dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss, beschränkt sich der Senat auf eine Folgenabwägung.

Diese Folgenabwägung führt zu der von der Antragstellerin begehrten Entscheidung. Hierbei waren die Folgen gegeneinander abzuwägen, die auf der einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht eine einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Verfahren der Hauptsache herausstellte, dass der Anspruch doch bestanden hätte, und auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die beantragte einstweilige Anordnung erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellte, dass der Anspruch nicht bestand. Sollte die erstgenannte Alternative erfüllt sein, d. h. sollte eine einstweilige Anordnung im Ergebnis zu Unrecht abgelehnt werden, so entstünden der Antragstellerin schwerwiegende Nachteile. Es stünde zu befürchten, dass das Existenzminimum der Antragstellerin in dem in diesem Verfahren streitbefangenen Zeitraum nicht gewährleistet ist. Diese Verletzung einer grundgesetzlichen Gewährleistung kann nicht durch eine nachträgliche Gewährung - im Falle des Obsiegens der Antragstellerin einem Hauptsacheverfahren - korrigiert werden. Für die Antragstellerin täte sich eine Rechtsschutzlücke auf, die nach den oben genannten Kriterien vor dem Hintergrund einer möglichen Verletzung von Artikel 1 und 2 GG in Verbindung mit. Artikel 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht hingenommen werden darf.

Demgegenüber wiegen die Folgen, die bei einer zu Unrecht ergangenen einstweiligen Anordnung zum Nachteil des Antragsgegners einträten, weniger schwer. Zwar entstünde ihm in diesem Falle ein finanzieller Schaden. Diesen könnte er aber nach § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 945 Zivilprozessordnung von der Antragstellerin ersetzt verlangen, wenn sich im anschließenden Verfahren der Hauptsache herausstellte, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis nicht begründet war. Die Abwägung eines bloßen finanziellen Schadens des Antraggegners auf der einen Seite, die grundgesetzliche Gewährleistung der Existenzsicherung der Antragstellerin, verwirklicht durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf der anderen Seite, führt zu der von der Antragstellerin begehrten Anordnung. Die Beschwerde des Antragsgegners deshalb zurückzuweisen.

Der Antrag des Antragsgegners, die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts gemäß § 199 Abs. 2 SGG auszusetzen, ist mit Erlass dieses Beschlusses erledigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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