L 28 B 743/07 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
28
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 24 AS 1179/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 28 B 743/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 2. April 2007 abgeändert. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller, vorläufig, ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum 31. Dezember 2007, längstens jedoch bis zum Eintritt der Bestandskraft des Bescheides der Antragsgegnerin vom 28. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Dezember 2006, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die Kosten des gesamten einstweiligen Rechtschutzverfahrens zu erstatten. Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für dieses Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

Die gemäß § 172 Abs. 1 und § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 2. April 2007, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist die Beschwerde unbegründet.

Soweit der Antragsteller, dem die Antragsgegnerin bis zum 30. April 2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 165,65 EUR monatlich gewährt hat, Leistungen für den Zeitraum vom 21. Dezember 2006 bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senates begehrt, fehlt es an dem nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG notwendigen Anordnungsgrund. Es besteht insoweit keine besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung für die zurückliegenden Zeiträume erforderlich machen würde.

In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - NJW 2003, S. 1236 und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, S. 803). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Absatz 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine - stattgebende - Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Derartige Umstände hat der Antragsteller insoweit nicht vorgetragen. Dies bedeutet, dass effektiver Rechtsschutz auch insoweit im Hauptsacheverfahren erlangt und ihm ein Zuwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache zugemutet werden kann.

Für die Zeit ab Beschlussfassung des Senats in diesem Beschwerdeverfahren sind die Grundsätze anzuwenden, die das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zum SGB II entwickelt hat (Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005,927 ff.). Die danach zu treffende Entscheidung kann sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden, wobei Art 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt. Soll die Entscheidung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert werden, ist das erkennende Gericht verpflichtet, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, insbesondere dann, wenn das einstweilige Verfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende regelmäßig der Fall ist, da der elementare Lebensbedarf für die kaum je absehbare Dauer des Hauptsacheverfahrens bei ablehnender Entscheidung nicht gedeckt ist. Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand der Folgenabwägung zu entscheiden, die daran ausgerichtet ist, eine Verletzung grundgesetzlicher Gewährleistungen zu verhindern, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert. Die Sicherung des Existenzminimums (verwirklicht durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende) ist eine grundgesetzliche Gewährleistung in diesem Sinne (vgl. auch Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 12. Dezember 2006 - L 10 B 1052/06 AS ER -).

Im vorliegenden Fall entscheidet der Senat in der Sache. Der Antragsteller begehrt Leistungen nach dem SGB II. Dieser Anspruch setzt nach § 19 Abs. 1 SGB II voraus, dass er hilfebedürftig im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 9 SGB II ist. Entscheidend ist, ob er seinen Lebensunterhalt aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann. Dies hängt davon ab, ob der Antragsteller mit Frau R P(P) in einer Bedarfsgemeinschaft lebt und sofern dies der Fall ist, ob nach Maßgabe des § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II das Einkommen der Frau P die Bedürftigkeit des Antragstellers ausschließt.

Nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 c SGB II gehört zur Bedarfsgemeinschaft eine Person, die mit dem erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Nach § 7 Abs. 3 a SGB II wird ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, vermutet, wenn Partner

1. länger als ein Jahr zusammenleben, 2. mit einem gemeinsamen Kind zusammen leben, 3. Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder 4. befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.

In dieser seit dem 1. August 2006 geltenden Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl. I S. 1706) kommt die Wertung des Gesetzgebers zum Ausdruck, dass ohne räumliches Zusammenleben und gemeinsames Wirtschaften eine Bedarfsgemeinschaft grundsätzlich nicht denkbar ist. Der (klarstellenden) Neufassung ist unmissverständlich zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die Voraussetzungen einer Bedarfsgemeinschaft unter Partnern - sei sie in der Ehe, einer Lebenspartnerschaft oder einem entsprechenden Einstandswillen begründet - nur bejahen wollte, wenn die Partner zusammenleben und einen gemeinsamen Haushalt führen. Soweit dabei zwei Wohnungen unterhalten werden, die aufgrund gemeinsamer Haushalts- und Wirtschaftsführung als gemeinsamer Haushalt anzusehen sind, wird dies in erster Linie durch berufliche Gründe wegen der Entfernung zwischen zwei Arbeitsorten veranlasst sein. Denkbar ist auch, dass zwei Wohnungen am selben Ort nebeneinander von allen Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft gleichberechtigt genutzt werden, wenn etwa zusätzlicher Wohnraum für die Gemeinschaft benötigt wird. Soweit Partner aber getrennt in zwei Haushalten leben und wirtschaften, führt dies dazu, dass eine vormals bestehende Bedarfsgemeinschaft aufgelöst ist. Besteht ein gemeinsamer Haushalt nicht, kommt der Frage, ob die Gemeinschaft von ihrer Intensität im menschlichen Bereich her gleichwohl einem ehelichen Zusammenleben entspricht, keine eigenständige Bedeutung zu (vgl. für die eheähnliche Gemeinschaft LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 16. Januar 2007 - L 13 AS 3747/06 ER-B, zitiert nach juris, dort RdNr. 6).

An diesen Grundsätzen gemessen steht nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand zur Überzeugung des Senates fest, dass der Antragsteller, Frau P und ihr minderjähriges Kind keine Bedarfgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchstabe a) SGB II bilden.

Unbestritten ist, dass der Antragsteller und Frau P sowie das Kind der Frau P bis Ende Mai 2006 eine Bedarfsgemeinschaft gebildet und in einer gemeinsamen Wohnung gelebt haben. Jedenfalls im Juni 2006 haben sich der Antragsteller und Frau P dann getrennt. Der Antragsteller ist aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen und in eine Wohnung eingezogen, die sich in einem dem bisherigen Wohnhaus gegenüberliegenden Gebäude befindet. Der Antragsteller und Frau P, die die Eigentümerin dieses Gebäudes ist, haben hierzu einen schriftlichen Wohnungsmietvertrag über die Anmietung eines Zimmers, einer Küche/Kochnische und eines Bades/Dusche/WC geschlossen. Danach beträgt die Wohnfläche der Wohnung des Antragstellers 45 qm. Die Miete beträgt monatlich 280,00 EUR nebst 50,00 EUR Nebenkosten. Ausweislich des Berichtes des Prüfdienstes der Antragsgegnerin über einen am 8. November 2006 durchgeführten Hausbesuch bei dem Antragsteller befinden sich in dem Schlafraum des Antragstellers ein Bett und seine Kleiderschränke. Die Sanitäranlagen sind funktionstüchtig. Der Wohnbereich des Antragstellers verfügt über einen "Zwischenzähler" für Strom.

Das Sozialgericht hat Frau P und deren Tochter zu den Umständen dieser Trennung als Zeugen vernommen. Frau P hat die Trennung bestätigt und ausgesagt, dass der Antragsteller "ab Mai/Juni 2006" in die Wohnung im "Nebengebäude" verzogen sei. Seitdem führten sie keinen gemeinsamen Haushalt mehr. Die Tochter der Frau P hat diese Aussage in ihrer Vernehmung als Zeugin vor dem Sozialgericht Cottbus bestätigt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nachvollziehbar, dass die Antragsgegnerin noch mit Schriftsatz vom 12. Januar 2007 vorträgt, dass der Antragsteller "noch nicht einmal die räumliche Trennung von seiner Partnerin vollzogen habe, dies jedoch Mindestvoraussetzung für die Auflösung einer eheähnlichen Gemeinschaft" sei. Dass der Antragsteller und Frau P eine nach außen erkennbare räumliche Trennung vollzogen haben, wird vor dem dargestellten Hintergrund nicht zu bestreiten sei. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass diese Trennung nur zum Schein vollzogen worden ist, um Leistungsansprüche nach dem SGB II zu begründen, bietet der Sachverhalt nach dem bisherigen Sach- und Streitstand, auf den sich der Senat in diesem Verfahren beschränken muss, nicht. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass zwischen dem Antragsteller und Frau P weiterhin eine Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft besteht. Der Antragsteller hat im Beschwerdeverfahren unter Vorlage verschiedener Unterlagen dargelegt, dass er seit Juni 2006 seinen Lebensunterhalt durch diverse Zuwendungen bestritten hat. Dass Frau P ihm die Zahlung der Miete bislang gestundet hat, ist vor dem Hintergrund des von dem Antragsteller geführten Verfahrens gegen die Antragsgegnerin zumindest erklärbar. Da Frau P nach Aktenlage auch nicht die Kosten des Antragstellers für Strom und Wasser übernommen hat, weil seine Wohnung nach den bestätigenden Feststellungen des Außendienstes der Antragsgegnerin über einen separaten Stromzähler verfügt, lassen sich auch hieraus keine verwertbaren Erkenntnisse über ein Einstehen der Frau P für den Antragsteller herleiten. Dass dieser Stromzähler nach Aussage von Frau P bisher nicht von dem Stromversorger abgelesen worden ist oder, wie Frau P in ihrer Vernehmung vor dem Sozialgericht Cottbus ausgesagt hat, möglicherweise nicht "läuft", mag in strafrechtlicher Hinsicht relevant sein, bestätigt im vorliegenden Zusammenhang indes lediglich, dass Frau P diese Kosten nicht und also auch keine Verantwortung für den Antragsteller übernommen hat.

Besteht danach bei Würdigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zwischen dem Antragsteller und Frau P sowie deren Tochter keine Bedarfsgemeinschaft, hat der Antragsteller dem Grunde nach einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Eine abschließende Würdigung dieser Fragen muss indes dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Sollte sich erweisen, dass diese Anordnung von Anfang an ganz oder teilweise ungerechtfertigt war, sind die Antragsteller verpflichtet, dem Antragsgegner den Schaden zu ersetzten, der ihm aus der Vollziehung dieser Anordnung entsteht (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 945 ZPO).

Der Senat hat die Leistungsverpflichtung der Antragsgegnerin, ausgehend vom dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats im Beschwerdeverfahren auf einen Zeitraum von sechs Monaten begrenzt. Er hat sich insoweit an § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II orientiert. Danach sollen Leistungen für jeweils sechs Monate im Voraus erbracht werden. Der Senat weist im Übrigen darauf hin, dass der Antragsgegner, wenn er wie im vorliegenden Fall, die Leistung ohne zeitliche Begrenzung abgelehnt hat, über den Anspruch des Antragstellers auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für die gesamte bis zur Entscheidung verstrichene Zeit zu befinden hat (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 7. November 2006 - B 7b AS 14/06 R -).

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren kann keinen Erfolg haben. Im Hinblick auf den in diesem Beschluss ausgesprochenen Kostenerstattungsanspruch des Antragstellers für das gesamte einstweilige Rechtschutzverfahren besteht kein Rechtsschutzbedürfnis mehr für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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