S 20 SO 90/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 90/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9b SO 18/07 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 25.09.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.11.2006 verurteilt, der Klägerin die für die Zeit vom 19.09. - 31.10.2006 entstandenen Kosten einer Haushaltshilfe in Höhe von 210,35 EUR zu erstatten. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt der Beklagte. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten einer Haushaltshilfe in der Zeit vom 19.09. bis 31.10.2006 in Höhe von 210,35 EUR.

Die am 00.00.1976 geborene Klägerin bezog im streitbefangenen Zeitraum und bezieht laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Sie ist psychisch krank. Im Januar 2006 zog sie sich bei einem Sturz zahlreiche, zum Teil erhebliche Knochenbrüche an Beinen und Füßen zu. Dadurch wird sie voraussichtlich dauerhaft gehbehindert sein. Sie befand sich zunächst in stationärer Krankenhausbehandlung; anschließend fand vom 18.07. bis 13.09.2006 ihre Rehabilitations-(Reha-)behandlung statt, anfangs stationär, später ambulant.

Die Klägerin lebt alleine in einer Erdgeschosswohnung. Vom 22.08. bis 18.09.2006 erhielt sie von ihrer gesetzlichen Krankenversicherung Haushaltshilfe für 2 Stunden an 5 Tagen pro Woche als Satzungsleistung, die auf längstens 4 Wochen begrenzt ist. Am 05.09.2006 bescheinigte die Reha-Ärztin die Notwendigkeit einer Haushaltshilfe für 2 Stunden jeweils an 5 Tagen pro Woche für einen (weiteren) Zeitraum von 8 Wochen. Der behandelnde Psychiater bestätigte am 19.10.2006 den unveränderter Bedarf einer Haushaltshilfe im Hinblick auf die orthopädischen Erkrankungen.

Einen entsprechenden Antrag der Klägerin auf Übernahme der Haushaltshilfekosten lehnte die Arbeitsgemeinschaft für die Grundsicherung Arbeitssuchender (ARGE) in der Stadt B. durch bestandskräftigen Bescheid vom 13.09.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2006 ab unter Hinweis auf eine fehlende Anspruchsgrundlage nach dem SGB II.

Am 20.09.2006 beantragte die Klägerin beim Beklagten die Übernahme der Kosten für eine Haushaltshilfe in der Zeit vom 19.09. bis 31.10.2006 in Höhe von 10,00 EUR pro Stunde zuzüglich Sozialabgaben im Haushaltsscheckverfahren für 2 Stunden an 5 Tagen/Woche.

Der Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 25.09.2006 unter Hinweis auf die Vorschrift des § 21 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) ab. Er meinte, aufgrund dieser Sonderregelung könne der Klägerin keine Hilfen nach den Vorschriften des SGB XII gewährt werden, da sie zum Personenkreis der Leistungsberechtigten nach dem SGB II gehöre. Den dagegen am 12.10.2006 eingelegten Widerspruch wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 16.11.2006 zurück: Zwar werde von Sozialgerichten die Auffassung vertreten, Leistungsempfänger nach dem SGB II könnten Haushaltshilfe als Hilfe zur Pflege oder Hilfe zur Weiterführung des Haushalts nach Bestimmungen des SGB XII beanspruchen; dem folge der Beklagte jedoch nicht. Er verwies erneut auf die Regelung des § 21 Abs. 1 SGB XII.

Dagegen hat die Klägerin am 21.12.2006 Klage erhoben. Sie benötige Haushaltshilfe, dies sei ärztlich bescheinigt. Die Kosten der Haushaltshilfe könne sie nicht selbst tragen; sie seien von ihrer Mutter darlehensweise übernommen worden.

Die Klägerin hat in der Zeit vom 19.09. bis 31.10.2006 18,5 Stunden von einer Fremdkraft Haushaltshilfe erhalten; dafür hat sie der helfenden Person 185,00 EUR Arbeitsentgelt gezahlt und davon 25,35 EUR (13,7 v. H.) Abgaben im Haushaltsscheckverfahren an die Minijob-Zentrale abgeführt (Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See vom 03.05.2007).

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 25.09.2006 in der Fassung des Widerspruchsbe- scheides vom 16.11.2006 zu verurteilen, ihr die für die Zeit vom 19.09. bis 31.10.2006 entstandenen Kosten einer Haushaltshilfe in Höhe von 210,35 EUR zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er räumt ein, dass entsprechend den ärztlichen Bescheinigungen im streitbefangenen Zeitraum ein Haushaltshilfebedarf der Klägerin bestanden hat; dieser sei sachgerecht und angemessen. Auch die geleisteten Haushaltshilfestunden und das dafür gezahlte Entgelt hält er nach Umfang und Höhe (18,5 Stunden à 10,00 EUR) für angemessen und richtig, ebenso die darauf entfallenden Abgaben (25,35 EUR). Er ist jedoch der Auffassung, dass die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung nach den allenfalls in Betracht kommenden Vorschriften der §§ 61, 70 SGB XII nicht erfüllt seien. Haushaltshilfe nach § 70 SGB XII könne die Klägerin nicht beanspruchen, da sie die Leistung nicht für die gesamte Haushaltsführung, sondern nur für einzelne Tätigkeiten benötige. Ein Anspruch nach § 61 SGB XII scheide aus, weil es keine Hilfe zur Pflege für einen allein hauswirtschaftlichen Bedarf gebe, neben dem - wie bei der Klägerin - kein Grundpflegebedarf bestehe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten und der (auszugsweise) beigezogenen Sozialgerichtsakte S 21 AS 181/06, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Sie hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erstattung der ihr entstandenen Kosten für die Inanspruchnahme einer Haushaltshilfe in der Zeit vom 19.09. bis 31.10.2006 in Höhe von 185,00 zuzüglich der dafür zu entrichtenden Abgaben im Haushaltsscheckverfahren, insgesamt 210,35 EUR aus Mitteln der Sozialhilfe nach den Vorschriften des SGB XII.

Diesem Anspruch steht nicht entgegen, dass die Klägerin Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II erhielt und erhält. Die ARGE in der Stadt B. hat den Antrag auf Haushaltshilfe zu Recht abgelehnt, weil das SGB II keine Vorschrift enthält, die die Bewilligung dieser Leistung ermöglicht. § 21 SGB II (Leistungen für Mehrbedarfe beim Lebensunterhalt) gibt unabhängig vom individuellen Bedarf einen prozentualen Zuschlag zur Regelleistung in bestimmten - hier nicht einschlägigen - Fällen. § 23 SGB II ermöglicht zwar die Deckung eines Mehrbedarfs für einen grundsätzlich von den Regelleistungen gedeckten Bedarfs, jedoch nur durch Gewährung eines Darlehens. Die Klägerin begehrt aber kein Darlehen, sondern Kostenübernahme/-erstattung als Zuschussleistung. Im Übrigen sind die Kosten für eine Haushaltshilfe nicht dem Regelbedarf zuzuordnen. Die Hilfe zur Bewältigung des Haushalts ist nicht Bestandteil des soziokulturellen Existenzminimums, wie es sich im pauschalierten Regelbedarf widerspiegelt (Knickrehm, Haushaltshilfe für Empfänger von Arbeitslosengeld II?, NZS 2007, 128, 129).

Der Anspruch der Klägerin auf Haushaltshilfe ergibt sich aus § 19 Abs. 3 i.V.m. §§ 61 Abs. 1 Satz 2, 65 Abs. 1 Satz 2 SGB XII.

Als Bezieherin von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II war der Klägerin die Aufbringung der Mittel für eine Haushaltshilfe aus ihrem Einkommen und Vermögen nicht zuzumuten (§ 19 Abs. 3 SGB XII).

Nach § 61 Abs. 1 SGB XII erhalten Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen, Hilfe zur Pflege (Satz 1). Anders als nach dem Recht der sozialen Pflegeversicherung (vgl. § 14 Abs. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB XI) ist nach § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII Hilfe zur Pflege auch kranken und behinderten Menschen zu leisten, die voraussichtlich für weniger als 6 Monate der Pflege bedürfen oder einen geringeren Bedarf als nach Satz 1 haben oder die der Hilfe für andere Verrichtungen als nach Abs. 5 bedürfen. Nach § 61 Abs. 5 SGB XII sind gewöhnliche und regelmäßige wiederkehrende Verrichtungen im Sinne des Abs. 1 neben den 15 Verrichtungen aus den Bereichen der Körperpflege (Nr. 1), der Ernährung (Nr. 2) und der Mobilität (Nr. 3) die Verrichtungen der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4). Während Leistungen nach dem Pflegeversicherungsrecht nur dann gewährt werden, wenn der Umfang des Pflegebedarfs mindestens den zeitlichen Umfang einer der drei gesetzlich definierten Pflegestufen umfasst (vgl. § 15 SGB XI), führt die Öffnungsklausel des § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII zur einer Erweiterung des Regelungsbereichs der sozialhilferechtlichen Hilfe zur Pflege in dreifacher Hinsicht: die voraussichtliche Dauer der Pflegebedürftigkeit darf weniger als 6 Monate betragen, der zeitliche Pflegebedarf darf unter dem der Pflegestufe I des § 15 Abs. 3, Satz 1 SGB XI liegen (Pflegestufe "0"), der Hilfebedarf kann sich auch aus anderen als den in § 61 Abs. 5 SGB XII (wortgleich: § 14 Abs. 4 SGB XI) genannten Verrichtungen ergeben. (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.05.2006 - L 13 AS 1708/06 ER-B; SG Stuttgart, Urteil vom 19.07.2006 - S 11 SO 431/06).

Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen des § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII. Infolge der im Januar 2006 erlittenen komplizierten und zahlreichen Knochenbrüche besteht bei ihr ein ausgeprägtes eingeschränktes Gehvermögen (amtsärztliche Stellungnahme vom 13.09.2006). Wegen dieser körperlichen Behinderung bedurfte die Klägerin Hilfe für die gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Die Reha-Ärztin und der behandelnde Psychiater haben für den streitigen Zeitraum die Notwendigkeit einer Haushaltshilfe für (maximal) 2 Stunden an 5 Tagen pro Woche bescheinigt. Dieser grundsätzliche Hilfebedarf ist auch vom Beklagten anerkannt worden. Entgegen der von ihm vertretenen Auffassung steht dem Anspruch der Klägerin nicht entgegen, dass sie neben dem Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung nicht auch einen solchen im Grundpflegebereich (vgl. § 61 Abs. 5 Nrn. 1 bis 3 SGB XII) hatte. Weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck des § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII ist zu entnehmen, dass der Anspruch auf Hilfe zur Pflege stets voraussetzt, dass zumindest auch ein Grundpflegebedarf besteht. Wenn diese Vorschrift sogar Hilfeleistungen zu Lasten des Sozialhilfeträgers für Verrichtungen außerhalb des Katalog des § 61 Abs. 5 SGB XII eröffnet, gilt dies erst recht, wenn für einen Teilbereich der Katalogverrichtungen des Abs. 5 ein Hilfebedarf besteht. Hilfe zur Pflege können deshalb auch solche Personen beanspruchen, die - wie die Klägerin - keinen Grundpflegebedarf nach § 61 Abs. 5 Nrn. 1 bis 3 SGB XII, sondern einen ausschließlich hauswirtschaftlichen Hilfebedarf nach § 61 Abs. 5 Nr. 4 SGB XII haben (Hessisches LSG, Beschluss vom 04.07.2006 - L 9 SO 24/06 ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.05.2006 - L 13 AS 1708/06 ER-B).

Die Gesamtkosten in Höhe von 210,35 EUR, die der Klägerin durch die Beschäftigung einer Haushaltshilfe entstanden sind, hat der Beklagte nach § 65 Abs. 1 Satz 2 SGB XII zu erstatten. Diese Vorschrift ist einschlägig, da die Haushaltshilfe nicht im Rahmen häuslicher Pflege gemäß § 63 SGB XII von einer der Klägerin nahe stehenden Person oder als Nachbarschaftshilfe, sondern von einer fremden Pflegekraft erbracht worden ist. Für deren Heranziehung sind die angemessen Kosten zu übernehmen. Zu diesen Kosten zählen nicht nur der Lohn, sondern auch die gesetzlichen Abgaben. Die Klägerin hat im streitbefangenen Zeitraum Haushaltshilfe für 18,5 Stunden in Anspruch genommen. Hierfür hat sie der Haushaltshilfekraft 10,00 EUR je Stunde, insgesamt 185,00 EUR gezahlt. Der Umfang und die Höhe dieser Aufwendungen sind angemessen; dies ist auch vom Beklagten anerkannt worden. Für das gezahlte Arbeitsentgelt sind der Klägerin Abgaben im so genannten Haushaltsscheckverfahren in Höhe von 25,35 EUR entstanden. Dies sind 13,7 v. H. des Arbeitsentgelts (Beitrag zur Rentenversicherung: 5,0 %; Beitrag zur Krankenversicherung: 5,0 %; Beitrag zur Unfallversicherung: 1,6 %; Umlage "U 1" zur Lohnfortzahlungsversicherung für Krankheit und Kur: 0,1 %; Pauschsteuer: 2 %; vgl. dazu ausführlich die "Gemeinsame Verlautbarung zum Haushaltsscheckverfahren" der Spitzenverbände der Krankenkassen, der Deutschen Rentenversicherung Bund und der Bundesagentur für Arbeit vom 16.11.2005).

Ist nach alledem der mit der Klage verfolgte Anspruch der Klägerin nach den Vorschriften §§ 61 ff. SGB XII über die Hilfe zur Pflege begründet, so kann die Kammer dahinstehen lassen, ob der Anspruch (auch) auf § 70 SGB XII gestützt werden kann (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.09.2005 - L 20 B 9/05 SO ER; LSG Hamburg, Beschluss vom 05.07.2005 - L 5 B 159/05 ER AS).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat die Sprungrevision zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 161 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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