Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 2/07
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Bescheide des Beklagten vom 30.11.2005, 09.02.2006 und 17.03.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2006 werden aufgehoben. Der Beklagte wird ver- pflichtet, die ungedeckten Kosten der Eingliederungshilfe für den Kläger in Form der in der Zeit vom 02.01. bis 30.06.2006 im Heilpädagogischen Zentrum Zülpich durchgeführten heil- pädagogischen Maßnahme zu übernehmen. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt der Beklagte.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Eingliederungshilfe in Form einer stationären Maßnahme im Heilpädagogischen Zentrum (HPZ) A. vom 02.01. bis 30.06.2006 und die Übernahme der hierbei entstandenen ungedeckten Kosten.
Bei dem am 00.00.1999 geborenen Kläger bestanden - jedenfalls Ende 2005 - ein primär generalisiertes Anfallsleiden, eine Intelligenzminderung, eine psychomotorische und sprachliche Entwicklungsverzögerung mit grob- und feinmotorischen Koordinationsstörungen, eine erhebliche Einschränkung in grundlegenden Wahrnehmungsbereichen, ein Zustand nach chronischer Osteomyelitis und eine Funktionsstörung der Atemwege. Das Versorgungsamt B. stellte bei ihm durch Bescheid vom 15.12.2005 einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche "erhebliche Beeinträchtigungen der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" (G), "Notwendigkeit ständiger Begleitung" (B) und "Hilflosigkeit" (H) fest. Der Kläger besucht seit Beginn des Schuljahres 2005/2006 die Stephanusschule in K., eine Förderschule mit dem Schwerpunkt der Förderung geistiger Entwicklung.
Am 16.11.2005 beantragte der Kläger Eingliederungshilfe in Form einer stationären Maßnahme im HPZ der Lebenshilfe in A., wo ab 02.01.2006 ein Platz für ihn reserviert war.
Der Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 30.11.2005 ab. Zur Begründung führte er aus, der Kläger gehöre zwar zum Personenkreis der behinderten Menschen im Sinne des § 53 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII); jedoch sei er nicht aufgrund der Schwere seiner Behinderung auf die Unterbringung in vollstationärer Form angewiesen; vielmehr sei die bevorstehende Rehabilitations-(Reha-)maßnahme seiner Mutter zur Wiederherstellung bzw. Vorsorgung von deren Gesundheit für die Unterbringung des Klägers im HPZ ursächlich.
Dagegen legte der Kläger am 09.12.2005 Widerspruch ein. Er verwies auf eine Stellungnahme seiner Klassenlehrerin vom 28.11.2005. Darin hieß es, es bestünden zurzeit erhebliche Verhaltensauffälligkeiten im Sinne oppositionellen (z. T. aggressiven) und unruhigen Verhaltens; eine Unterbringung im Rahmen der heilpädagogischen Eingliederung sei dringend erforderlich, um kontinuierlich therapeutisch und erzieherisch auf den Kläger einzuwirken. Am 20.12.2005 beantragte der Kläger beim Sozialgericht Aachen den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der vorläufigen Kostenübernahme der Unterbringung im HPZ für die Zeit ab 02.01.2006. Auf Anfrage des Gerichts vom 22.12.2005 erklärte die Stephanusschule am selben Tag, eine stationäre Unterbringung des Klägers im HPZ sei dringend geboten, da seine massiven Verhaltensauffälligkeiten ein im Prozess der förderlichen schulischen Entwicklung noch ausgleichbares Maß überschreiten würden; verhaltenstherapeutische Maßnahmen seien nur durch eine klare Durchgliederung aller Umgebungsfaktoren, wie sie in der Regel nur bei einem stationären Aufenthalt geboten würden, erreichbar; in einer ambulanten Versorgung sehe man keine Alternative. Das HPZ teilte dem Gericht am 23.12.2005 mit, bei den beim Kläger vorliegenden aggressiven Verhaltensstörungen sei ein frühes Intervenieren nötig, um eine Manifestierung dieses Fehlverhaltens zu vermeiden; Sven sei 6 Jahre alt, eine Verschiebung seines Aufenthalts sei in Bezug auf seine Perspektive ausgesprochen ungünstig; es stehe zu befürchten, dass er zuhause nicht mehr tragbar sei und eine dauerhafte Heimunterbringung unvermeidlich würde; die Verhaltensschwierigkeiten seien so gravierend, dass eine ausschließlich ambulante Betreuung nicht ausreichend erscheine; vielmehr sei eine befristete stationäre Unterbringung zwingend.
Daraufhin verpflichtete das Sozialgericht den Beklagten durch Beschluss vom 23.12.2005 (S 19 SO 156/05 ER) zur vorläufigen Übernahme der Kosten für die heilpädagogische Eingliederungsmaßnahme im HPZ für die Zeit vom 02.01 bis 03.04.2006.
Gegen diesen Beschluss legte der Beklagte am 16.01.2006 Beschwerde ein. Zur Begründung bezog er sich auf eine fachärztliche Stellungnahme von Dr. T. vom 28.12.2005. Zur Notwendigkeit und Begründung der stationären Eingliederungshilfe im HPZ am 02.01.2006. Darin war Dr. T. - ohne Untersuchung des Klägers anhand der ihm vorliegenden Unterlagen - zum Ergebnis gelangt, beim Kläger liege eine wesentliche körperliche Behinderung in Folge einer Epilepsie vor; im Zusammenhang mit dieser Grunderkrankung seien "sowohl neuropsychologische (Koordinationsstörung, Sprachstörung, Intelligenzminderung) als auch psychische Funktionsstörungen (Aufmerksamkeitsdefizit, psychomotorische Unruhe, emotionale Instabilität)" beschrieben worden. Auf der Basis dieser Funktionsstörungen zeichne sich offensichtlich die Entwicklung einer "Störung des Sozialverhaltens" ab, die von ihrem Ausmaß her zumindest als drohende wesentliche seelische Behinderung zu bewerten sei. Eine (auch nur vorübergehende) Heim- unterbringung erscheine aus der Perspektive des Jungen weder erforderlich noch förderlich. Auf der ersten Seite dieser fachärztlichen Stellungnahme findet sich ein Bearbeitervermerk ("Stimme nicht überein. Halte Beschwerde für aussichtslos und Ablehnung im Ergebnis auch für falsch ..." ) vom 29.12.2005.
Durch bestandskräftigen Bescheid vom 19.01.2006 erteilte der Beklagte gegenüber dem Kläger ohne Vorläufigkeitsvorbehalt die Übernahme der Kosten des HPZ-Aufenthalts vom 02.01. bis 03.04.2006 zuzüglich eines monatlichen Barbetrags für persönliche Ausgaben in Höhe von 8,60 EUR.
In einem Schriftsatz vom 09.02.2006 im Rahmen des Beschwerdeverfahrens beim LSG NRW nahm der Beklagte den Bescheid vom 19.01.2006 zurück mit der Begründung, der Kläger habe die Rechtswidrigkeit dieses Bescheides infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt; durch die kurz zuvor erst erhobene Beschwerde sei seitens des Beklagten klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht worden, dass er den Beschluss des Sozialgerichts für rechtswidrig und seine Zahlungsverpflichtung nicht für gesetzlich begründet halte. Dagegen legte der Kläger am 16.02.2006 Widerspruch ein; er verwies darauf, auch der Beklagte könne nach Einlegung der Beschwerde Einsicht zeigen und seinen Rechtsstandpunkt ändern.
Durch Beschluss vom 11.04.2006 wies das LSG NRW (L 20 B 45/06 SO ER) die Beschwerde zurück.
Bereits am 01.03.2006 beantragte der Kläger die Verlängerung der Eingliederungsmaßnahme. Er verwies auf eine pädagogische Stellungnahme des HPZ A. vom 22.02.2006. In dieser wurde u.a. die Diagnose einer geistigen Behinderung gestellt und empfohlen, die Behandlung fortzuführen, da trotz Fortschritts im Verhalten des Klägers die Befristung bis 03.04.2006 zu kurz sei.
Der Beklagte lehnte den Verlängerungsantrag durch Bescheid vom 17.03.2006 ab mit der Begründung, die geistige Behinderung sei nicht die Ursache für die Verhaltensauffälligkeiten, sondern Sozialisationsstörungen und Defizite von Sohn und Mutter im Umgang miteinander. Im Übrigen sei ambulante gegenüber vollstationärer Hilfe indiziert und vorrangig.
Dagegen legte der Kläger am 31.03.2006 Widerspruch ein.
Am 04.04.2006 beantragte er erneut beim Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Durch Beschluss vom 27.04.2006 (S 19 SO 47/06 ER) verpflichtete das Sozial- gericht den Beklagten zur vorläufigen Kostenübernahme für die Zeit vom 04.04. bis 03.07.2006.
Am 30.06.2006 wurde die Maßnahme im HPZ abgeschlossen.
Durch Widerspruchsbescheid vom 29.11.2006 wies der Beklagte die Widersprüche gegen die Bescheide vom 30.11.2005, 09.02.2006 und 17.03.2006 zurück.
Dagegen hat der Kläger am 04.01.2006 Klage erhoben. Er ist der Auffassung, die heilpädagogische Maßnahme im HPZ A. sei erforderlich und geeignet gewesen, ihm den weiteren Schulbesuch zu ermöglichen. Die Maßnahme sei sehr erfolgreich abgeschlossen worden; er sei nun wesentlich einfacher zu beschulen, besser in der Lage zu lernen, aufgeschlossener, weniger ängstlich und selbstständiger.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide vom 30.11.2005, 09.02.2006 und 17.03.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2006 zu ver- urteilen, die ungedeckten Kosten der Eingliederungs- hilfe in Form der in der Zeit vom 02.01. bis 30.06.2006 im Heilpädagogischen Zentrum A. durchgeführten stationären heilpädagogischen Maßnahme zu über- nehmen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er behauptet, die erzieherischen Maßnahmen im HPZ hätten auch durch ambulante Maßnahmen erzielt werden können; Erziehungsmaßnahmen fielen im Übrigen in den Zuständigkeitsbereich des Jugendhilfeträgers. Eine geistige Behinderung sei nicht definitiv nachgewiesen; die leichte Intelligenzminderung des Klägers lasse nicht zwingend den Schluss auf eine geistige Behinderung zu. In den Gutachten stehe die drohende seelische Behinderung im Vordergrund. Selbst wenn man von einer geistigen Behinderung ausgehen würde, sei der vollstationäre Aufenthalt nicht zu deren Behandlung, sondern wegen der Verhaltensauffälligkeiten durchgeführt worden; diese beruhten aber auf der drohenden seelischen Behinderung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten sowie der beigezogenen Sozialgerichtsakten S 19 SO 156/05 ER und S 19 SO 47/06 ER, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Er hat Anspruch auf Übernahme der ungedeckten Kosten für die heilpädagogische Maßnahme im HPZ A. in der Zeit vom 02.01. bis 30.06.2006 als Maßnahme der Eingliederungshilfe nach den §§ 53 ff. SGB XII.
Im Hinblick auf seine wirtschaftlichen Verhältnisse und aufgrund seiner Behinderungen gehört der Kläger zum Personenkreis der nach §§ 19 Abs. 3, 53 SGB XII grundsätzlich Leistungsberechtigten. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
Der Anspruch auf Eingliederungshilfe begründet sich aus § 54 Abs. 2 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 12 Abs. 1 Nr. 1 der Eingliederungshilfe-Verordnung (Eingliederungshilfe-VO). Der Kläger war im streitigen Zeitraum nicht nur (unstreitig) körperlich behindert; vielmehr lag bei ihm auch eine geistige Behinderung vor. Dies ergibt sich aus den Stellungnahmen der Stephanusschule vom 28.11.2005 und 22.12.2005, des HPZ A. vom 23.12.2005 und (ausdrücklich) vom 22.02.2006 sowie auch aus der vom Beklagten eingeholten fachlichen Stellungnahme des Dr. T. vom 28.12.2005. Übereinstimmend ist darin beim Kläger u.a. eine Intelligenzminderung beschrieben worden. Der Begriff "geistige Behinderung" bezeichnet einen andauernden Zustand deutlich unterdurchschnittlicher kognitiver Fähigkeiten eines Menschen sowie damit verbundene Einschränkungen seines affektiven Verhaltens. Medizinisch orientierte Definitionen sprechen von einer Minderung oder Herabsetzung der maximal erreichbaren Intelligenz. Die International Classification of Diseases (ICD-10) bezeichnet das Phänomen unter den Ziffern F 70 bis F 79 als Intelligenzminderung (vgl. Wikipedia, Freie Enzyklopädie, zum Stichwort "geistige Behinderung"). Auch nach dem klinischen Wörterbuch "Pschyrembel" (258. Auflage, S. 768) ist unter Intelligenzminderung ein Zustand verzögerter und unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten zu verstehen und ist die Höhe der Intelligenzminderung Grundlage für die Einteilung einer geistigen Behinderung nach dem Schweregrad. "Geistige Behinderung" ist die Bezeichnung für eine angeborene oder frühzeitig erworbene Intelligenzminderung, die mit einer Beeinträchtigung des Anpassungsvermögens einher geht. Die Symptome einer geistigen Behinderung sind u.a. eine eingeschränkte kognitive bzw. sprachliche Entwicklung, Anpassungsstörungen, Störungen der Affektivität und psychomotorische Retadierung. Die Therapie der geistigen Behinderung besteht u.a. in der Frühförderung, der Heilpädagogik, der Soziotheraphie, der Psychotherapie und der Mototherapie (so: Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Auflage, S. 182 "Geistige Behinderung"). Es kann deshalb dahinstehen, ob - wie Dr. Schuldes und ihm folgend der Beklagte meint - im Zusammenhang mit den Folgen der Epilepsie auch eine seelische Behinderung drohte. Denn jedenfalls bestanden beim Kläger, wie sich aus den Gutachten und Stellungnahmen über ihn und den zitierten Begriffbestimmungen und Symptomen ergibt, auch eine geistige Behinderung.
Soweit der Beklagte deshalb auf die Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers verweist, verkennt er die Vor- und Nachrangregelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Diese bestimmt, dass Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialhilferecht, wenn diese mit Jugendhilfeleistungen nach dem SGB VIII (vgl. dort § 35a) konkurrieren, vorrangig zu erbringen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.09.1999 - 5 C 26/98 = BVerwGE 109, 325 = FEVS 51, 337 = DVBl 2000, 1208 = NJW 2000, 2688 = ZfS 2002, 279; VG Düsseldorf, Urteil vom 14.05.2003 - 19 K 3248/03).
Ohnehin verwundert es, dass der Beklagte den Nachweis einer geistigen Behinderung als nicht erbracht ansieht und die (drohende) seelische Behinderung in den Vordergrund stellt. Hätte er insofern Zweifel gehabt, so hätte es nahe gelegen, im Rahmen des auch für ihn geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes (vgl. § 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X) nahe gelegen, hierzu ein umfassendes Gutachten mit eingehender Untersuchung des Klägers einzuholen. Wenn der Beklagte dies unterlässt, kann er sich nicht mit Erfolg im Nachhinein darauf berufen, seinerzeit habe auch eine seelische Behinderung gedroht, zu deren Therapie Eingliederungshilfe (zu Lasten des Jugendhilfeträgers) erforderlich gewesen sei.
Nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII sind Leistungen der Eingliederungshilfe auch Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung. § 12 Nr. 1 der Eingliederungshilfe-VO konkretisiert die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung dahin, dass diese auch heilpädagogische sowie sonstigen Maßnahmen zu Gunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher umfasst, wenn die Maßnahme erforderlich und geeignet ist, den behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Diese Voraussetzungen sind beim Kläger, wie sich aus den eingeholten Gutachten und fachlichen Stellungnahmen ergibt, erfüllt gewesen. Entgegen der Auffassung des Beklagten war eine Eingliederungshilfe in ambulanter Form nicht ausreichend, um den Eingliederungszweck zu erfüllen. Sowohl die Stephanusschule als auch das HPZ Zülpich haben in ihren Stellungnahmen gegenüber dem Sozialgericht in dem ersten Eilverfahren S 19 SO 156/05 ER am 22. bzw. 23.12.2005 nachvollziehbar dargelegt, dass und warum ambulante heilpädagogische Maßnahmen angesichts der konkreten und erheblichen Verhaltensauffälligkeiten des Klägers nicht ausreichend und erfolgversprechend waren. Die sachliche Zuständigkeit des Beklagten für die somit erforderliche stationäre Eingliederungsmaßnahme ergibt sich aus § 97 Abs. 2 SGB XII in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Nr. 1 der Ausführungsverordnung zum SGB XII des Landes NRW vom 16.12.2004 (GVBl NRW 2004 S. 817). Die Erforderlichkeit einer stationären Eingliederungshilfe bestand für den gesamten Zeitraum vom 02.01. bis 30.06.2006.
Soweit es um die Kosten der Eingliederungshilfe für die Zeit vom 02.01. bis 03.04.2006 geht, ist die Klage auch deshalb begründet, weil der Beklagte durch bestandskräftigen Bescheid vom 19.01.2006 eine entsprechende Kostenzusage ohne Vorläufigkeitsvorbehalt erteilt hat. Der Bescheid vom 09.02.2006, durch den der Beklagte den Bewilligungsbescheid zurückgenommen hat, ist rechtswidrig und aufzuheben, weil die Voraussetzungen für eine Rücknahme nach der einzig in Betracht kommenden Vorschrift des § 45 SGB X nicht erfüllt sind.
Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, soweit er rechtswidrig ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 - 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Selbst wenn der Bewilligungsbescheid vom 19.01.2006 rechtswidrig wäre (was aus den zuvor dargelegten Gründen nach Überzeugung der Kammer nicht der Fall ist), war der Beklagte nicht berechtigt, ihn zurückzunehmen, weil sich der Kläger auf Vertrauen berufen konnte. Zwar hatte der Beklagte gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 23.12.2005 Beschwerde eingelegt. Offenbar haben aber, wie aus dem Sachbearbeitervermerk vom 29.12.2005 ersichtlich ist, Diskussionen über die Richtigkeit der eingeholten gutachtlichen Stellungnahme des Dr. T. und die Ablehnungsentscheidung stattgefunden. Daraus wird deutlich, dass es durchaus so gewesen sein kann, dass an der zunächst auf den Weg gebrachten Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts nicht mehr festgehalten werden sollte. Wäre es anders gewesen, hätte es angesichts der - ohnehin nur vorläufigen - Entscheidung des Sozialgerichts und der eingelegten Beschwerde keines Verwaltungsakts mit dem Inhalt desjenigen vom 19.01.2006 bedurft. Insbesondere hätte es keiner endgültigen Entscheidung über die Kosten der heilpädagogischen Maßnahme bedurft. Für eine gänzlich unabhängige Neuentscheidung spricht auch der Umstand, dass dieser Bescheid eine Kostenzusage für Taschengeld enthält, was bislang überhaupt nicht Gegenstand des Antrags - und Eilverfahrens gewesen war. Der Kläger durfte also aufgrund der Bewilligungsentscheidung vom 19.01.2006 davon ausgehen, dass der Beklagte sich eines Besseren besonnen hatte, die Beschwerde zurückziehen und nunmehr die Kosten der heilpädagogischen Maßnahme endgültig - befristet bis 03.04.2006 - tragen wollte. Dieses Vertrauen ist schutzwürdig. Soweit § 45 Abs. 2 Satz 3 die Voraussetzungen regelt, unter denen sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen kann, ist keine der in den Ziffern 1 bis 3 genannten Voraussetzungen im Fall des Klägers erfüllt. Der Bewilligungsbescheid vom 19.01.2006 hat also sowohl deshalb Bestand, weil er inhaltlich sachlich richtig ist, als auch deshalb, weil er aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht aufgehoben werden konnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Eingliederungshilfe in Form einer stationären Maßnahme im Heilpädagogischen Zentrum (HPZ) A. vom 02.01. bis 30.06.2006 und die Übernahme der hierbei entstandenen ungedeckten Kosten.
Bei dem am 00.00.1999 geborenen Kläger bestanden - jedenfalls Ende 2005 - ein primär generalisiertes Anfallsleiden, eine Intelligenzminderung, eine psychomotorische und sprachliche Entwicklungsverzögerung mit grob- und feinmotorischen Koordinationsstörungen, eine erhebliche Einschränkung in grundlegenden Wahrnehmungsbereichen, ein Zustand nach chronischer Osteomyelitis und eine Funktionsstörung der Atemwege. Das Versorgungsamt B. stellte bei ihm durch Bescheid vom 15.12.2005 einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche "erhebliche Beeinträchtigungen der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" (G), "Notwendigkeit ständiger Begleitung" (B) und "Hilflosigkeit" (H) fest. Der Kläger besucht seit Beginn des Schuljahres 2005/2006 die Stephanusschule in K., eine Förderschule mit dem Schwerpunkt der Förderung geistiger Entwicklung.
Am 16.11.2005 beantragte der Kläger Eingliederungshilfe in Form einer stationären Maßnahme im HPZ der Lebenshilfe in A., wo ab 02.01.2006 ein Platz für ihn reserviert war.
Der Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 30.11.2005 ab. Zur Begründung führte er aus, der Kläger gehöre zwar zum Personenkreis der behinderten Menschen im Sinne des § 53 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII); jedoch sei er nicht aufgrund der Schwere seiner Behinderung auf die Unterbringung in vollstationärer Form angewiesen; vielmehr sei die bevorstehende Rehabilitations-(Reha-)maßnahme seiner Mutter zur Wiederherstellung bzw. Vorsorgung von deren Gesundheit für die Unterbringung des Klägers im HPZ ursächlich.
Dagegen legte der Kläger am 09.12.2005 Widerspruch ein. Er verwies auf eine Stellungnahme seiner Klassenlehrerin vom 28.11.2005. Darin hieß es, es bestünden zurzeit erhebliche Verhaltensauffälligkeiten im Sinne oppositionellen (z. T. aggressiven) und unruhigen Verhaltens; eine Unterbringung im Rahmen der heilpädagogischen Eingliederung sei dringend erforderlich, um kontinuierlich therapeutisch und erzieherisch auf den Kläger einzuwirken. Am 20.12.2005 beantragte der Kläger beim Sozialgericht Aachen den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der vorläufigen Kostenübernahme der Unterbringung im HPZ für die Zeit ab 02.01.2006. Auf Anfrage des Gerichts vom 22.12.2005 erklärte die Stephanusschule am selben Tag, eine stationäre Unterbringung des Klägers im HPZ sei dringend geboten, da seine massiven Verhaltensauffälligkeiten ein im Prozess der förderlichen schulischen Entwicklung noch ausgleichbares Maß überschreiten würden; verhaltenstherapeutische Maßnahmen seien nur durch eine klare Durchgliederung aller Umgebungsfaktoren, wie sie in der Regel nur bei einem stationären Aufenthalt geboten würden, erreichbar; in einer ambulanten Versorgung sehe man keine Alternative. Das HPZ teilte dem Gericht am 23.12.2005 mit, bei den beim Kläger vorliegenden aggressiven Verhaltensstörungen sei ein frühes Intervenieren nötig, um eine Manifestierung dieses Fehlverhaltens zu vermeiden; Sven sei 6 Jahre alt, eine Verschiebung seines Aufenthalts sei in Bezug auf seine Perspektive ausgesprochen ungünstig; es stehe zu befürchten, dass er zuhause nicht mehr tragbar sei und eine dauerhafte Heimunterbringung unvermeidlich würde; die Verhaltensschwierigkeiten seien so gravierend, dass eine ausschließlich ambulante Betreuung nicht ausreichend erscheine; vielmehr sei eine befristete stationäre Unterbringung zwingend.
Daraufhin verpflichtete das Sozialgericht den Beklagten durch Beschluss vom 23.12.2005 (S 19 SO 156/05 ER) zur vorläufigen Übernahme der Kosten für die heilpädagogische Eingliederungsmaßnahme im HPZ für die Zeit vom 02.01 bis 03.04.2006.
Gegen diesen Beschluss legte der Beklagte am 16.01.2006 Beschwerde ein. Zur Begründung bezog er sich auf eine fachärztliche Stellungnahme von Dr. T. vom 28.12.2005. Zur Notwendigkeit und Begründung der stationären Eingliederungshilfe im HPZ am 02.01.2006. Darin war Dr. T. - ohne Untersuchung des Klägers anhand der ihm vorliegenden Unterlagen - zum Ergebnis gelangt, beim Kläger liege eine wesentliche körperliche Behinderung in Folge einer Epilepsie vor; im Zusammenhang mit dieser Grunderkrankung seien "sowohl neuropsychologische (Koordinationsstörung, Sprachstörung, Intelligenzminderung) als auch psychische Funktionsstörungen (Aufmerksamkeitsdefizit, psychomotorische Unruhe, emotionale Instabilität)" beschrieben worden. Auf der Basis dieser Funktionsstörungen zeichne sich offensichtlich die Entwicklung einer "Störung des Sozialverhaltens" ab, die von ihrem Ausmaß her zumindest als drohende wesentliche seelische Behinderung zu bewerten sei. Eine (auch nur vorübergehende) Heim- unterbringung erscheine aus der Perspektive des Jungen weder erforderlich noch förderlich. Auf der ersten Seite dieser fachärztlichen Stellungnahme findet sich ein Bearbeitervermerk ("Stimme nicht überein. Halte Beschwerde für aussichtslos und Ablehnung im Ergebnis auch für falsch ..." ) vom 29.12.2005.
Durch bestandskräftigen Bescheid vom 19.01.2006 erteilte der Beklagte gegenüber dem Kläger ohne Vorläufigkeitsvorbehalt die Übernahme der Kosten des HPZ-Aufenthalts vom 02.01. bis 03.04.2006 zuzüglich eines monatlichen Barbetrags für persönliche Ausgaben in Höhe von 8,60 EUR.
In einem Schriftsatz vom 09.02.2006 im Rahmen des Beschwerdeverfahrens beim LSG NRW nahm der Beklagte den Bescheid vom 19.01.2006 zurück mit der Begründung, der Kläger habe die Rechtswidrigkeit dieses Bescheides infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt; durch die kurz zuvor erst erhobene Beschwerde sei seitens des Beklagten klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht worden, dass er den Beschluss des Sozialgerichts für rechtswidrig und seine Zahlungsverpflichtung nicht für gesetzlich begründet halte. Dagegen legte der Kläger am 16.02.2006 Widerspruch ein; er verwies darauf, auch der Beklagte könne nach Einlegung der Beschwerde Einsicht zeigen und seinen Rechtsstandpunkt ändern.
Durch Beschluss vom 11.04.2006 wies das LSG NRW (L 20 B 45/06 SO ER) die Beschwerde zurück.
Bereits am 01.03.2006 beantragte der Kläger die Verlängerung der Eingliederungsmaßnahme. Er verwies auf eine pädagogische Stellungnahme des HPZ A. vom 22.02.2006. In dieser wurde u.a. die Diagnose einer geistigen Behinderung gestellt und empfohlen, die Behandlung fortzuführen, da trotz Fortschritts im Verhalten des Klägers die Befristung bis 03.04.2006 zu kurz sei.
Der Beklagte lehnte den Verlängerungsantrag durch Bescheid vom 17.03.2006 ab mit der Begründung, die geistige Behinderung sei nicht die Ursache für die Verhaltensauffälligkeiten, sondern Sozialisationsstörungen und Defizite von Sohn und Mutter im Umgang miteinander. Im Übrigen sei ambulante gegenüber vollstationärer Hilfe indiziert und vorrangig.
Dagegen legte der Kläger am 31.03.2006 Widerspruch ein.
Am 04.04.2006 beantragte er erneut beim Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Durch Beschluss vom 27.04.2006 (S 19 SO 47/06 ER) verpflichtete das Sozial- gericht den Beklagten zur vorläufigen Kostenübernahme für die Zeit vom 04.04. bis 03.07.2006.
Am 30.06.2006 wurde die Maßnahme im HPZ abgeschlossen.
Durch Widerspruchsbescheid vom 29.11.2006 wies der Beklagte die Widersprüche gegen die Bescheide vom 30.11.2005, 09.02.2006 und 17.03.2006 zurück.
Dagegen hat der Kläger am 04.01.2006 Klage erhoben. Er ist der Auffassung, die heilpädagogische Maßnahme im HPZ A. sei erforderlich und geeignet gewesen, ihm den weiteren Schulbesuch zu ermöglichen. Die Maßnahme sei sehr erfolgreich abgeschlossen worden; er sei nun wesentlich einfacher zu beschulen, besser in der Lage zu lernen, aufgeschlossener, weniger ängstlich und selbstständiger.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide vom 30.11.2005, 09.02.2006 und 17.03.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.11.2006 zu ver- urteilen, die ungedeckten Kosten der Eingliederungs- hilfe in Form der in der Zeit vom 02.01. bis 30.06.2006 im Heilpädagogischen Zentrum A. durchgeführten stationären heilpädagogischen Maßnahme zu über- nehmen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er behauptet, die erzieherischen Maßnahmen im HPZ hätten auch durch ambulante Maßnahmen erzielt werden können; Erziehungsmaßnahmen fielen im Übrigen in den Zuständigkeitsbereich des Jugendhilfeträgers. Eine geistige Behinderung sei nicht definitiv nachgewiesen; die leichte Intelligenzminderung des Klägers lasse nicht zwingend den Schluss auf eine geistige Behinderung zu. In den Gutachten stehe die drohende seelische Behinderung im Vordergrund. Selbst wenn man von einer geistigen Behinderung ausgehen würde, sei der vollstationäre Aufenthalt nicht zu deren Behandlung, sondern wegen der Verhaltensauffälligkeiten durchgeführt worden; diese beruhten aber auf der drohenden seelischen Behinderung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten sowie der beigezogenen Sozialgerichtsakten S 19 SO 156/05 ER und S 19 SO 47/06 ER, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Er hat Anspruch auf Übernahme der ungedeckten Kosten für die heilpädagogische Maßnahme im HPZ A. in der Zeit vom 02.01. bis 30.06.2006 als Maßnahme der Eingliederungshilfe nach den §§ 53 ff. SGB XII.
Im Hinblick auf seine wirtschaftlichen Verhältnisse und aufgrund seiner Behinderungen gehört der Kläger zum Personenkreis der nach §§ 19 Abs. 3, 53 SGB XII grundsätzlich Leistungsberechtigten. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
Der Anspruch auf Eingliederungshilfe begründet sich aus § 54 Abs. 2 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 12 Abs. 1 Nr. 1 der Eingliederungshilfe-Verordnung (Eingliederungshilfe-VO). Der Kläger war im streitigen Zeitraum nicht nur (unstreitig) körperlich behindert; vielmehr lag bei ihm auch eine geistige Behinderung vor. Dies ergibt sich aus den Stellungnahmen der Stephanusschule vom 28.11.2005 und 22.12.2005, des HPZ A. vom 23.12.2005 und (ausdrücklich) vom 22.02.2006 sowie auch aus der vom Beklagten eingeholten fachlichen Stellungnahme des Dr. T. vom 28.12.2005. Übereinstimmend ist darin beim Kläger u.a. eine Intelligenzminderung beschrieben worden. Der Begriff "geistige Behinderung" bezeichnet einen andauernden Zustand deutlich unterdurchschnittlicher kognitiver Fähigkeiten eines Menschen sowie damit verbundene Einschränkungen seines affektiven Verhaltens. Medizinisch orientierte Definitionen sprechen von einer Minderung oder Herabsetzung der maximal erreichbaren Intelligenz. Die International Classification of Diseases (ICD-10) bezeichnet das Phänomen unter den Ziffern F 70 bis F 79 als Intelligenzminderung (vgl. Wikipedia, Freie Enzyklopädie, zum Stichwort "geistige Behinderung"). Auch nach dem klinischen Wörterbuch "Pschyrembel" (258. Auflage, S. 768) ist unter Intelligenzminderung ein Zustand verzögerter und unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten zu verstehen und ist die Höhe der Intelligenzminderung Grundlage für die Einteilung einer geistigen Behinderung nach dem Schweregrad. "Geistige Behinderung" ist die Bezeichnung für eine angeborene oder frühzeitig erworbene Intelligenzminderung, die mit einer Beeinträchtigung des Anpassungsvermögens einher geht. Die Symptome einer geistigen Behinderung sind u.a. eine eingeschränkte kognitive bzw. sprachliche Entwicklung, Anpassungsstörungen, Störungen der Affektivität und psychomotorische Retadierung. Die Therapie der geistigen Behinderung besteht u.a. in der Frühförderung, der Heilpädagogik, der Soziotheraphie, der Psychotherapie und der Mototherapie (so: Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Auflage, S. 182 "Geistige Behinderung"). Es kann deshalb dahinstehen, ob - wie Dr. Schuldes und ihm folgend der Beklagte meint - im Zusammenhang mit den Folgen der Epilepsie auch eine seelische Behinderung drohte. Denn jedenfalls bestanden beim Kläger, wie sich aus den Gutachten und Stellungnahmen über ihn und den zitierten Begriffbestimmungen und Symptomen ergibt, auch eine geistige Behinderung.
Soweit der Beklagte deshalb auf die Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers verweist, verkennt er die Vor- und Nachrangregelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Diese bestimmt, dass Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialhilferecht, wenn diese mit Jugendhilfeleistungen nach dem SGB VIII (vgl. dort § 35a) konkurrieren, vorrangig zu erbringen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.09.1999 - 5 C 26/98 = BVerwGE 109, 325 = FEVS 51, 337 = DVBl 2000, 1208 = NJW 2000, 2688 = ZfS 2002, 279; VG Düsseldorf, Urteil vom 14.05.2003 - 19 K 3248/03).
Ohnehin verwundert es, dass der Beklagte den Nachweis einer geistigen Behinderung als nicht erbracht ansieht und die (drohende) seelische Behinderung in den Vordergrund stellt. Hätte er insofern Zweifel gehabt, so hätte es nahe gelegen, im Rahmen des auch für ihn geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes (vgl. § 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X) nahe gelegen, hierzu ein umfassendes Gutachten mit eingehender Untersuchung des Klägers einzuholen. Wenn der Beklagte dies unterlässt, kann er sich nicht mit Erfolg im Nachhinein darauf berufen, seinerzeit habe auch eine seelische Behinderung gedroht, zu deren Therapie Eingliederungshilfe (zu Lasten des Jugendhilfeträgers) erforderlich gewesen sei.
Nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII sind Leistungen der Eingliederungshilfe auch Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung. § 12 Nr. 1 der Eingliederungshilfe-VO konkretisiert die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung dahin, dass diese auch heilpädagogische sowie sonstigen Maßnahmen zu Gunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher umfasst, wenn die Maßnahme erforderlich und geeignet ist, den behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Diese Voraussetzungen sind beim Kläger, wie sich aus den eingeholten Gutachten und fachlichen Stellungnahmen ergibt, erfüllt gewesen. Entgegen der Auffassung des Beklagten war eine Eingliederungshilfe in ambulanter Form nicht ausreichend, um den Eingliederungszweck zu erfüllen. Sowohl die Stephanusschule als auch das HPZ Zülpich haben in ihren Stellungnahmen gegenüber dem Sozialgericht in dem ersten Eilverfahren S 19 SO 156/05 ER am 22. bzw. 23.12.2005 nachvollziehbar dargelegt, dass und warum ambulante heilpädagogische Maßnahmen angesichts der konkreten und erheblichen Verhaltensauffälligkeiten des Klägers nicht ausreichend und erfolgversprechend waren. Die sachliche Zuständigkeit des Beklagten für die somit erforderliche stationäre Eingliederungsmaßnahme ergibt sich aus § 97 Abs. 2 SGB XII in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Nr. 1 der Ausführungsverordnung zum SGB XII des Landes NRW vom 16.12.2004 (GVBl NRW 2004 S. 817). Die Erforderlichkeit einer stationären Eingliederungshilfe bestand für den gesamten Zeitraum vom 02.01. bis 30.06.2006.
Soweit es um die Kosten der Eingliederungshilfe für die Zeit vom 02.01. bis 03.04.2006 geht, ist die Klage auch deshalb begründet, weil der Beklagte durch bestandskräftigen Bescheid vom 19.01.2006 eine entsprechende Kostenzusage ohne Vorläufigkeitsvorbehalt erteilt hat. Der Bescheid vom 09.02.2006, durch den der Beklagte den Bewilligungsbescheid zurückgenommen hat, ist rechtswidrig und aufzuheben, weil die Voraussetzungen für eine Rücknahme nach der einzig in Betracht kommenden Vorschrift des § 45 SGB X nicht erfüllt sind.
Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, soweit er rechtswidrig ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 - 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Selbst wenn der Bewilligungsbescheid vom 19.01.2006 rechtswidrig wäre (was aus den zuvor dargelegten Gründen nach Überzeugung der Kammer nicht der Fall ist), war der Beklagte nicht berechtigt, ihn zurückzunehmen, weil sich der Kläger auf Vertrauen berufen konnte. Zwar hatte der Beklagte gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 23.12.2005 Beschwerde eingelegt. Offenbar haben aber, wie aus dem Sachbearbeitervermerk vom 29.12.2005 ersichtlich ist, Diskussionen über die Richtigkeit der eingeholten gutachtlichen Stellungnahme des Dr. T. und die Ablehnungsentscheidung stattgefunden. Daraus wird deutlich, dass es durchaus so gewesen sein kann, dass an der zunächst auf den Weg gebrachten Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts nicht mehr festgehalten werden sollte. Wäre es anders gewesen, hätte es angesichts der - ohnehin nur vorläufigen - Entscheidung des Sozialgerichts und der eingelegten Beschwerde keines Verwaltungsakts mit dem Inhalt desjenigen vom 19.01.2006 bedurft. Insbesondere hätte es keiner endgültigen Entscheidung über die Kosten der heilpädagogischen Maßnahme bedurft. Für eine gänzlich unabhängige Neuentscheidung spricht auch der Umstand, dass dieser Bescheid eine Kostenzusage für Taschengeld enthält, was bislang überhaupt nicht Gegenstand des Antrags - und Eilverfahrens gewesen war. Der Kläger durfte also aufgrund der Bewilligungsentscheidung vom 19.01.2006 davon ausgehen, dass der Beklagte sich eines Besseren besonnen hatte, die Beschwerde zurückziehen und nunmehr die Kosten der heilpädagogischen Maßnahme endgültig - befristet bis 03.04.2006 - tragen wollte. Dieses Vertrauen ist schutzwürdig. Soweit § 45 Abs. 2 Satz 3 die Voraussetzungen regelt, unter denen sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen kann, ist keine der in den Ziffern 1 bis 3 genannten Voraussetzungen im Fall des Klägers erfüllt. Der Bewilligungsbescheid vom 19.01.2006 hat also sowohl deshalb Bestand, weil er inhaltlich sachlich richtig ist, als auch deshalb, weil er aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht aufgehoben werden konnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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