L 8 AL 3833/06 AK-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 14 AL 4953/05 AK-A
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 AL 3833/06 AK-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Die Regelung in § 158 Satz 2 VwGO ist nicht über § 197a Sozialgerichtsgesetz (SGG)
im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbar (ebenso LSG Berlin 28.04.2004
- L 6 B 44/03 AL ER - juris; LSG Nordrhein-Westfalen 25.08.2003 - L 5 SB 25/02 KR -
Breith 2003, 877 jeweils mwN; aA LSG Baden-Württemberg 17.10.2006
- L 5 KA 236/06 AK-B - juris; LSG Berlin 20.12.2004 - L 9 B 290/04 KR - juris;
LSG für das Land Niedersachsen 06.10.2004 - L 3 SB 79/03 KA - juris jeweils mwN).
Die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 27. Juni 2006 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Klageverfahrens trägt die Beschwerdeführerin. Die Kosten im Antrags- und Beschwerdeverfahren trägt die Beschwerdeführerin.

Gründe:

I.

Die Beschwerdeführerin war bei einer GmbH & Co. KG (Arbeitgeberin) beschäftigt. Diese zeigte der Beschwerdegegnerin am 23.05.2005 ihre Absicht an, mit Ablauf des 31.12.2005 149 Arbeitnehmer, darunter auch die Beschwerdeführerin, zu entlassen. Mit einem an die Arbeitgeberin gerichteten und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Bescheid vom 07.06.2005 teilte die Beschwerdegegnerin der Firma mit, welche Entscheidung sie nach Prüfung der Entlassungsanzeige getroffen hat.

Gegen diesen Bescheid legte die Beschwerdeführerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, am 20.06.2005 Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie aus, nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 27.01.2005 sei davon auszugehen, dass die Regularien der Massenentlassung zumindest auch im Interesse des zu kündigenden Arbeitnehmers zu beachten seien. Daraus ergebe sich ein Rechtsschutzinteresse der Betroffenen und insbesondere die Befugnis, soweit die Verwaltungsakte der Beschwerdegegnerin eine Drittbelastung zu Lasten der Betroffenen beinhalte, Rechtsmittel einzulegen. Gegen den Bescheid vom 07.06.2005 oder gegen jeden anderen Bescheid, der eine Freifrist für ihre Entlassung feststelle, lege sie deshalb Widerspruch ein. Die Widerspruchsstelle der Beschwerdegegnerin wies den Widerspruch der Beschwerdeführerin mit Widerspruchsbescheid vom 05.08.2005 als unzulässig ab.

Am 06.09.2005 hat die Beschwerdeführerin Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben und beantragt, den Bescheid vom 07.06.2005 sowie den Widerspruchsbescheid vom 05.08.2005 aufzuheben und festzustellen, dass die Massenentlassungsanzeige der Arbeitgeberin unwirksam war (Schriftsatz vom 06.09.2005). Mit Schreiben vom 07.12.2005 hat die Beschwerdeführerin dann das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt, nachdem sie sich im Arbeitsrechtsstreit mit ihrer Arbeitgeberin geeinigt hatte. Sie hat beantragt, der Beschwerdegegnerin die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen. Mit Beschluss vom 27. Juni 2006 hat das SG folgendes Entscheidung getroffen: "Die Beklagte hat der Klägerin keine Kosten zu erstatten." In den Gründen der auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gestützten Entscheidung hat es die Ansicht vertreten, dass der Beschwerdeführerin für ihre Klage keine Klagebefugnis zugestanden habe. Der gegen diesen Beschluss eingelegten Beschwerde der Beschwerdeführerin hat das SG nicht abgeholfen.

II.

Die Beschwerde der Beschwerdeführerin ist statthaft und zulässig. Sie ist aber unbegründet. Die Kosten des Klageverfahrens hat die Beschwerdeführerin zu tragen.

Gegen Kostengrundentscheidungen eines Sozialgerichts, die auf der Grundlage von § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergangen sind, ist nach § 172 Abs. 1 SGG die Beschwerde statthaft. Dies gilt nach Ansicht des Senats auch dann, wenn das Beschwerdegericht der Auffassung ist, dass sich die Kostengrundentscheidung nicht nach § 193 SGG, sondern nach § 161 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) richtet. Zwar ist nach § 158 Satz 2 VwGO die Entscheidung des SG über Kosten unanfechtbar, wenn - wie hier - eine Entscheidung in der Hauptsache nicht ergangen ist. Diese Regelung ist nach Ansicht des Senats aber nicht über § 197a Sozialgerichtsgesetz (SGG) im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbar (ebenso LSG Berlin 28.04.2004 - L 6 B 44/03 AL ER - juris; LSG Nordrhein-Westfalen 25.08.2003 - L 5 SB 25/02 KR - Breith 2003, 877 jeweils mwN; aA LSG Baden-Württemberg 17.10.2006 - L 5 KA 236/06 AK-B - juris; LSG Berlin 20.12.2004 - L 9 B 290/04 KR - juris; LSG für das Land Niedersachsen 06.10.2004 - L 3 SB 79/03 KA - juris jeweils mwN). Für diese Auffassung spricht, dass damit ein kaum zu begründende unterschiedliche Verfahrensweise zwischen Verfahren nach den §§ 183, 193 SGG (Pauschalgebührenregelung) einerseits und § 197a SGG (Gerichtsgebührenregelung) andererseits vermieden wird.

Auch die Gegenmeinung räumt ein, dass die Anwendung von § 158 Abs. 2 VwGO zu Wertungswidersprüchen führt, hält aber den Wortlaut des § 197a SGG für so eindeutig, dass es nicht möglich sei, einzelne Bestimmungen der §§ 154 bis 162 VwGO grundsätzlich von der entsprechenden Anwendung auszunehmen (so z.B. LSG Baden-Württemberg 5. Senat aaO). Der Hinweis auf den Wortlaut der Vorschrift vermag den erkennenden Senat nicht zu überzeugen. Denn der Wortlaut ist nicht derart eindeutig, dass er der hier vertretenen Auslegung entgegensteht. Die gesetzliche Regelung in § 197a SGG geht davon aus, dass unzweifelhaft feststeht, ob es sich um ein gerichtskostenpflichtiges Verfahren handelt oder nicht. Wie aber zu verfahren ist, wenn diese Frage offen ist und vom Sozialgericht einerseits und vom Landessozialgericht andererseits unterschiedlich beantwortet wird, lässt sich dem Wortlaut des § 197a SGG nicht entnehmen. Abgesehen von den bereits erwähnten Wertungswidersprüchen gebieten es deshalb auch die Abgrenzungsschwierigkeiten, die sich daraus ergeben, dass es im Sozialgerichtsprozess zwei völlig unterschiedliche Kostenregelungen gibt, dass die Regelung in § 197a SGG, wonach die §§ 154 bis 162 VwGO entsprechend anzuwenden sind, einschränkend interpretiert wird. Darin kann keine, das grundsätzlich nach § 172 Abs. 1 SGG gegebene Beschwerderecht ausschließende andere Bestimmung iSv § 172 Abs. 1 SGG gesehen werden.

Die Entscheidung darüber, wer die Kosten des Rechtstreits zu tragen hat, ergeht auf der Grundlage von § 197a SGG iVm § 161 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Im Sozialgerichtsprozess werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes (GKG) nur in den Verfahren erhoben, in denen in einem Rechtszug weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 SGG in der ab 02.01.2002 geltenden Fassung des 6. SGGÄndG vom 17.08.2001 - BGBl I S. 2144 - genannten Personen gehören (§ 197a Abs. 1 S. 1 SGG). Die in § 183 SGG genannten Personen sind Versicherte, Leistungsempfänger, einschließlich Hinterbliebenenleistungsempfänger, Behinderte oder deren Sonderrechtsnachfolger nach § 56 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I). Die Voraussetzungen des § 183 SGG sind hier nicht erfüllt, es liegt vielmehr ein Fall des § 197a SGG vor. Die Beschwerdeführerin gehört ersichtlich nicht zu dem in § 183 SGG genannten Personenkreis. Auch eine erweiternde Auslegung oder analoge Anwendung dieser Bestimmung auf die Beschwerdeführerin ist nicht möglich. Der Wortlaut des § 183 SGG bedarf nach der Rechtsprechung des BSG vielmehr der einschränkenden Auslegung (BSG 20.12.2005 SozR 4-1500 § 183 Nr. 3). Der Gesetzgeber hat das Kostenprivileg des § 183 SGG zwar nicht ausdrücklich daran geknüpft, dass es um Sozialleistungen im Sinne des § 11 SGB I geht. Jedoch sprechen Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck des § 183 SGG dafür, dessen Kostenprivileg in erster Linie Personen einzuräumen, die als Kläger oder Beklagte um derartige Leistungen streiten. Ein solcher Sachverhalt ist hier nicht gegeben.

Nach § 161 Abs. 1 VwGO hat das Gericht durch Beschluss über die Kosten zu entscheiden, wenn das Verfahren anders als durch Urteil beendet wurde. Ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt, ist die Kostenentscheidung gemäß § 161 Abs. 2 VwGO unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu treffen. Eine Erledigung ist hier dadurch eingetreten, dass sich die Beschwerdeführerin und ihre Arbeitgeberin im Arbeitsgerichtsverfahren geeinigt haben und die Beschwerdeführerin das sozialgerichtliche Verfahren deshalb für erledigt erklärt hat. Die Beschwerdegegnerin geht ebenfalls davon aus, dass das Verfahren ohne Urteil beendet wurde, so dass ein Fall der übereinstimmenden Erledigungserklärung anzunehmen ist. Liegen übereinstimmende Erledigungserklärungen der Beschwerdeführerin (Klägerin) und der Beschwerdegegnerin vor, endet die Rechtshängigkeit, ohne dass es einer Einstellung des Verfahrens durch Beschluss bedarf.

Bei der zu treffenden Kostenentscheidung kommt es auf den vermutlichen Verfahrensausgang an, der nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erledigung zu beurteilen ist. Hängt die Entscheidung über den (vermutlichen) Ausgang des Verfahrens von der Auslegung schwieriger und umstrittener Rechtsfragen ab, so kann das Gericht davon absehen, zu allen für den Ausgang des Rechtsstreits bedeutsamen Rechtsfragen Stellung zu nehmen (vgl. BSG 25.05.1957 SozR Nr. 4 zu § 193 SGG). Unter Berücksichtigung dieser Gesichtpunkte gelangt der Senat zu der Auffassung, dass die Klage der Beschwerdeführerin keine Aussicht auf Erfolge gehabt hat. Ebenso wie das SG ist der Senat der Ansicht, dass die Klage gegen den Bescheid der Beschwerdegegnerin vom 07.06.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.08.2005 wegen fehlender Beschwer (Klagebefugnis) unzulässig war.

Eine Verletzung von Rechten der Beschwerdeführerin ist allerdings nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Bescheid vom 07.06.2005 sich nur an die (frühere) Arbeitgeberin gerichtet hat. Denn maßgebend ist nicht, an wen die Behörde ihre Entscheidung gerichtet hat, sondern was die Entscheidung regelt. Um eine Anfechtungsbefugnis zu bejahen, muss ein Drittbetroffener allerdings nach der Rechtsprechung zu § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG und zu § 42 Abs. 2 VwGO behaupten können, dass der angefochtene Verwaltungsakt in seine eigenen rechtlichen Interessen eingreift (BSGE 70, 99, 101 = SozR 3-1500 § 54 Nr. 15; BSGE 86, 126 , 130 = SozR 3-2500 § 85 Nr 37; BVerfGE 83, 182 , 196 = SozR 3-1100 Art 19 Nr. 2, jeweils mwN). Wann dies der Fall ist, lässt sich nicht generell beantworten, sondern richtet sich nach dem jeweiligen Rechtsgebiet. Dabei ist im Einzelfall maßgebend, ob die Möglichkeit besteht, dass der angefochtene Verwaltungsakt gegen eine Rechtsnorm verstößt, die zumindest auch den Schutz individueller Interessen des Drittbetroffenen bezweckt (BSG SozR Nr 115 zu § 54 SGG; BSGE 67, 30 , 31 f = SozR 3-2200 § 368n Nr. 1; BSGE 68, 291 , 293 = SozR 3-1500 § 54 Nr 7). Eine Anfechtungsbefugnis ist also gegeben, wenn der maßgeblichen Norm ein Rechtssatz zu entnehmen ist, der zumindest auch den Individualinteressen des Anfechtenden zu dienen bestimmt ist; nicht ausreichend ist dagegen eine Reflexwirkung in dem Sinne, dass sich aus einer im Interesse der Allgemeinheit oder im Interesse eines bestimmten Personenkreises erlassenen Norm zugleich auch eine Begünstigung einzelner Dritter ergibt (zum Ganzen BSG 19.12.2001 - 11 AL 57/01 R - BSGE 89, 119 mwN).

Die Regelungen in den §§ 17ff KSchG verfolgen primär einen arbeitsmarktpolitischen Zweck. Die Beschwerdegegnerin soll die Möglichkeit erhalten, rechtzeitig Maßnahmen zur Vermeidung oder Verzögerung umfangreicher Arbeitslosigkeit einzuleiten und für anderweitige Beschäftigung von Entlassenen zu sorgen (BAG 23.03.2006 - 2 AZR 343/05 - NJW 2006, 3161; vgl. auch BSG 14.08.1980 SozR 1500 § 54 Nr. 44). Sie dienen nicht dem Individualinteresse des von einer Kündigung bedrohten Arbeitnehmers; dieser wird davon nur mittelbar betroffen. Daran hat sich entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin durch die Rechtsprechung des EuGH nichts geändert (so der erkennende Senat bereits im Beschluss vom 08.01.2007 - L 8 AL 3242/06 AK-A -).

In seiner Entscheidung vom 27.01.2005 (C-188/03), auf die sich die Beschwerdeführerin bezieht, hat der EuGH festgestellt, dass als Entlassung im Sinne der Art 2 bis 4 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. Nr. 225/16 vom 12.08.1998, im Folgenden MERL) die Kündigungserklärung des Arbeitsgebers zu verstehen ist. Seine Entscheidung hat der EuGH ua damit begründet, dass Art 2 MERL zum Ziel habe, Kündigungen zu vermeiden oder ihre Zahl zu beschränken. Dieses Ziel ließe sich nicht erreichen, wenn die Konsultation der Arbeitnehmervertreter nach der Entscheidung des Arbeitgebers stattfände. Damit hat der EuGH im Ergebnis auch den arbeitsmarktpolitischen Zweck der §§ 17ff KSchG betont. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat sich unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung der Auffassung des EuGH angeschlossen und fordert nunmehr ebenfalls, dass § 17 Abs. 1 KSchG im Hinblick auf die MERL dahin ausgelegt werden muss, dass die Massenentlassungsanzeige vor Erklärung der Kündigungen erstattet werden muss (BAG 13.07.2006 - 6 AZR 198/06 - juris und BAG 23.06.2006 aaO). Dies hat zwar insofern eine Verbesserung des Individualrechtsschutzes für den einzelnen Arbeitnehmer zur Konsequenz, weil nun ein Unterlassen der Massenentlassungsanzeige vor der Kündigung in der Regel dazu führt, dass diese das Arbeitsverhältnis nicht auflösen kann und daher der Kündigungsschutzklage stattzugeben ist (BAG 13.07.2006 aaO Rn 21). Dies ändert aber nichts daran, dass die Regelungen in den §§ 17ff KSchG auch bei richtlinienkonformer Auslegung kein Recht der Beschwerdeführerin begründen, gerichtlich gegen Entscheidungen der Bundesagentur nach § 18 KSchG vorzugehen. Die Anzeigepflicht bezweckt nach wie vor nicht den Schutz des Arbeitnehmers vor Entlassung, sondern dient dem Ziel einer effektiven Verwaltung der Massenentlassung und der Massenarbeitslosigkeit. Dementsprechend werden auch keine relevanten individual-rechtlich geschützten Interessen des Arbeitnehmers betroffen (so ausdrücklich BAG 23.03.2006 aaO Rn 45).

Der Senat ist nicht daran gehindert, die Kostenentscheidung des SG zum Nachteil der Beschwerdeführerin abzuändern, obwohl die Beschwerdegegnerin keine Rechtsmittel eingelegt hat. Denn insoweit gilt das Verbot der reformatio in peius nicht (BSG Urteil vom 25.01.2006 SozR 4-2400 § 7 Nr. 6).

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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