L 10 U 5037/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 6 U 3665/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 5037/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 27. 9. 2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Feststellung des Vorliegens einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2108 der Anlage zu Berufskrankheitenverordnung (BKV).

Die am 1951 geborene Klägerin stammt aus der ehemaligen DDR und war dort nach eigenen Angaben als Verkäuferin im Elektro- bzw. Fleisch- und Wurstwarenbereich tätig. Später war sie ihren Angaben zufolge auch selbstständig, unter anderem betrieb sie - entsprechend saisonal -einen Freibadkiosk und eine Gaststätte. Von 1999 bis maximal Anfang 2004 war sie wieder Verkäuferin in einem Getränkemarkt bzw. in der Getränkeabteilung von Supermärkten. Nach ihren Angaben gegenüber der Beklagten hatte sie von 1967 bis 1970 sowie von 1972 bis 1973 unter anderem Wäscheschleudern mit einem Gewicht zwischen 41 und 50 Kilogramm bis zu 20 Meter, von 1973 bis 1974 Kartoffelsäcke mit einem Gewicht von 50 Kilogramm 35 Meter, von 1990 bis 1991 unter anderem Schweinehälften mit bis zu 70 Kilogramm Gewicht 20 Meter und während der selbstständigen Gewerbetätigkeit von 1993 bis 1998 Bierfässer mit einem Gewicht von mehr als 60 Kilogramm sechs Meter jeweils alleine und ohne Hilfsmittel zu tragen. Erstmalig seien Lendenwirbelsäulenbeschwerden im Jahr 2000 aufgetreten, ständige Beschwerden habe sie seit Mai 2002. Hinsichtlich der Angaben der Klägerin im Einzelnen wird auf Blatt 14 bis 26 der Verwaltungsakte verwiesen.

Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) hielt die Angaben der Klägerin für teilweise nicht realistisch und führte teils auf Grund der Angaben der Klägerin teils unter Zugrundelegung der nach eigenen Erfahrungen realistischen Belastungen (Wäscheschleudern 25 Kilogramm, Schweinehälften 30 Kilogramm) eine Abschätzung der Wirbelsäulenbelastung nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) durch; danach wurde der Grenzwert von 3500 Nh arbeitstäglich lediglich in der Zeit von Februar 1999 bis November 2000 (Tätigkeit in einem Getränkemarkt) überschritten. Hinsichtlich der selbstständigen Tätigkeit unterblieb eine konkrete Belastungsberechnung, weil die Klägerin nach ihren Angaben lediglich von Mai bis September des jeweiligen Jahres und nur in geringem Umfang die behaupteten schweren Arbeiten verrichtet habe. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die in der Verwaltungsakte enthaltenen Stellungnahmen des TAD verwiesen.

Mit Bescheid vom 20.4.2004 und Widerspruchsbescheid vom 21.10.2004 lehnte die Beklagte die Entschädigung einer BK 2108 mit der Begründung ab, die arbeitstechnischen Voraussetzungen seien nicht erfüllt.

Die hiergegen am 16.11.2004 mit der Begründung, sie habe trotz ihrer relativ geringen Körpergröße und zierlichen Figur sogar Rinderhälften mit bis zu 110 kg komplett alleine gehoben und getragen und in den Supermärkten seien die Belastungen doch größer als ursprünglich angegeben gewesen, bei dem Sozialgericht Reutlingen erhobene Klage hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 27.9.2006 unter Hinweis auf die Berechnungen nach dem MDD abgewiesen.

Hiergegen hat die Klägerin am 6.10.2006 mit der Begründung Berufung eingelegt, das MDD sei umstritten und es müsse eine Berechnung jedenfalls auf der Grundlage ihrer Angaben erfolgen. Ihren Vortrag, Rinderhälften alleine getragen zu haben, hat sie in der mündlichen Verhandlung relativiert und angegeben, eine Kollegin zu Hilfe genommen zu haben.

Die Klägerin beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 27.9.2006 und den Bescheid vom 20.4.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.10.2004 aufzuheben sowie festzustellen, dass eine Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV vorliegt, hilfsweise ein Sachverständigengutachten zum Beweis dafür, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2108 vorliegen, weiter hilfsweise Vertagung des Rechtsstreits.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung ist unbegründet.

Eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) i. V. m. Nr. 2108 der Anlage zur BKV ist eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen hat, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Für die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV müssen folgende Tatbestandsmerkmale gegeben sein: Bei dem Versicherten muss eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule vorliegen, die durch langjähriges berufsbedingtes Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige berufsbedingte Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (so genannte arbeitstechnische Voraussetzungen) entstanden ist. Die Erkrankung muss den Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten herbeigeführt haben, und als Konsequenz aus diesem Zwang muss die Aufgabe dieser Tätigkeiten tatsächlich erfolgt sein.

Dabei müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung und die als Folge geltend gemachte Gesundheitsstörung - hier also eine bandscheibenbedingte Erkrankung - erwiesen sein, d. h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 30. April 1985, 2 RU 43/84 in SozR 2200 § 555a Nr. 1). Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen also zu Lasten des jeweiligen Klägers (vgl. BSG, Urteil vom 27. Juni 1991, 2 RU 31/90 in SozR 3-2200 § 548 Nr. 11).

Hier sind die von der Klägerin behaupteten langjährigen schweren Belastungen der Wirbelsäule durch Hebe- und Tragevorgänge für die Zeit bis 1998 nicht nachgewiesen und auch nicht nachweisbar. Die Betriebe, in denen die Klägerin in der DDR arbeitete, existieren nach den eigenen Angaben der Klägerin nicht mehr, die selbstständige Tätigkeit gab die Klägerin auf. Die Angaben der Klägerin selbst vermag auch der Senat nicht als realistisch zu Grunde zu legen. Die Klägerin räumt selbst ein, von eher geringer Körpergröße und zierlicher Statur zu sein. Der Senat hält es für unrealistisch, dass die Klägerin unhandliche Gewichte wie z.B. Bierfässer von 60 und mehr Kilogramm oder Schweinehälften mit bis zu 70 Kilogramm alleine und ohne Hilfsmittel gehoben und getragen haben will. Dies geht zu Lasten der Klägerin. Damit fehlt es an hinreichenden tatsächlichen Anknüpfungspunkten für die Feststellung der bis 1998 aufgetretenen Belastungen, sodass die von der Klägerin verlangte alternative Berechnung der Belastung keine weiterführenden Erkenntnisse bringen würde.

Aus diesem Grunde macht auch die Einholung eines Sachverständigengutachtens keinen Sinn. Der Senat kann dem Sacherständigen die für die Frage, ob die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt sind, erforderlichen Anknüpfungstatsachen, nämlich die Belastungen in der ehemaligen DDR, nicht vorgeben. Den entsprechenden Beweisantrag der Klägerin lehnt der Senat daher ab.

Im Übrigen haben auch die vom TAD auf Grund eigener Erfahrungswerte durchgeführten Berechnungen für diesen Zeitraum zu keinen im Rahmen der hier streitigen Frage wesentlichen Belastungen geführt. Dies hat das Sozialgericht im angefochtenen Gerichtsbescheid zutreffend dargelegt. Der Senat sieht daher insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs. 2 SGG ab und weist die Berufung insoweit aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück. Am Rande ist allerdings darauf hinzuweisen, dass auch die vom TAD angenommenen Belastungen fiktiv sind, also mangels Nachweis nicht als eingetreten festgestellt werden können.

Im Ergebnis kommen somit allenfalls aufklärbare Belastungen der Klägerin von 1999 bis Anfang 2004 (siehe die Widerspruchsbegründung vom 4.6.2004, in der von einer fehlgeschlagenen Rehabilitation und der früheren Tätigkeit in der Firma M. berichtet wird, die letzte Tätigkeit in einem Supermarkt) in Getränkemärkten oder Getränkeabteilungen von Supermärkten in Betracht. Die nach Angaben der Klägerin schwersten Belastungen traten während der Tätigkeit von Februar 1999 bis November 2000 (22 Monate) im Getränkemarkt D. auf, die Gesamtbelastungsdosis für diesen Zeitraum belief sich auf 2,05 MNh. Selbst wenn man für die übrige Zeit bis Mai 2004 (42 Monate) von einer vergleichbaren Belastung ausginge - tatsächlich war die Belastung selbst nach den von der Klägerin in der Klage nach oben korrigierten Belastungen erheblich geringer als im Getränkemarkt D. - würde sich eine Gesamtbelastungsdosis von knapp 6 MNh errechnen, was gerade einem guten Drittel der nach dem MDD erforderlichen Mindestexposition von 17 MNh entspricht. Damit sind die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt.

Entgegen der Auffassung der Klägerin kann das MDD der Beurteilung zu Grunde gelegt werden. Es handelt sich dabei um ein Verfahren zur Bewertung der beim Einzelnen auftretenden tatsächlichen Belastung im Hinblick auf die in der BK 2108 aufgeführten Kriterien (langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten bzw. langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung), also zur Beurteilung, ob die arbeitstechnischen Voraussetzungen vorliegen (s. im Einzelnen: BK-Report Wirbelsäulenerkrankungen 2/03, herausgegeben vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften). Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 18. März 2003, B 2 U 13/02 R in SozR 4-5671 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 1) dient das MDD letztendlich der Konkretisierung der in der BK 2108 verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe. Es ist als Zusammenfassung wissenschaftlicher Erfahrungstatsachen ein geeignetes Modell, die kritische Belastungsdosis eines Versicherten zu ermitteln und in Beziehung zu seinem Erkrankungsrisiko zu setzen. Dies sieht der Senat genauso.

Soweit die Klägerin eine Vertagung des Rechtsstreits im Hinblick auf eventuelle künftige Erkenntnisse über die sachgerechte Ermittlung der arbeitstechnischen Voraussetzungen beantragt, lehnt der Senat auch dies ab. Zum einen gilt auch hier, dass für die überwiegende Dauer der Berufstätigkeit die Belastungen nicht aufgeklärt werden können, zum anderen ist der Stand der Wissenschaft im Zeitpunkt der Entscheidung maßgebend.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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