L 9 B 81/07 AS

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 5 AS 1/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 B 81/07 AS
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerden der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 26.04.2007 geändert. Die Beigeladene wird vorläufig verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 02.04.2007 bis zum 31.08.2007 Leistungen nach dem SGB XII in Höhe von monatlich 345 EUR zu zahlen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Beigeladene trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das Beschwerdeverfahren. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten. Der Antragstellerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Duisburg ab dem 02.04.2007 ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt N beigeordnet. Kosten für das zu Az.: L 9 B 81/07 AS geführte Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten. Der Antragstellerin wird ferner für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt N beigeordnet.

Gründe:

I.

Mit ihren Beschwerden verfolgt die Antragstellerin ihre auf die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) und die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), hilfsweise nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) gerichteten Begehren weiter.

Die am 00.00.1986 geborene allein stehende Antragstellerin besitzt die niederländische und die türkische Staatsangehörigkeit. Sie ist schwanger. Mit dem Vater des nasciturus ist sie nicht verheiratet. Dieser hat sich bei Kenntnis der Schwangerschaft und Weigerung der Antragstellerin, den Foetus abtreiben zu lassen, von ihr getrennt. Ärztlich bescheinigter voraussichtlicher Entbindungstermin ist der 30.06.2007. Nach den telefonischen Angaben ihrer Freundin T B vom 25.06.2007 steht die Entbindung in zwei Wochen, also etwa um den 10. Juli, bevor.

Bis zum 14.02.2007 lebte die Antragstellerin gemeinsam mit ihren Eltern und ihren Geschwistern in I, Niederlande. Am 15.02.2007 reiste sie in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seitdem lebt sie gemeinsam mit T B und deren beiden neunjährigen Kindern in deren 76,25 qm großer Wohnung. Frau B bezieht Leistungen nach dem SGB II zur Zeit in Höhe von wohl 1.126, 93 EUR (345 EUR Regelleistung + 2 x 256 EUR Sozialgeld - 2 x 154 EUR Kindergeld + 303,93 EUR Kaltmiete + 100 EUR Heizung + 174 EUR Betriebskosten - vgl. Bl. 11 der Verwaltungsakte).

Am 27.02.2007 beantragte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin Leistungen nach dem SGB II. Sie sei aus den Niederlanden geflohen, weil sie befürchtet habe, ihre Eltern würden sie in die Türkei zur Abtreibung schicken.

Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag mit Bescheid vom 06.03.2007 ab, weil die Antragstellerin als nicht erwerbstätige EU-Bürgerin vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen sei.

Hiergegen legte die Antragstellerin am 14.03.2007 Widerspruch ein. Sie halte sich nicht zum Zwecke der Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland auf, sondern aus persönlichen Gründen. Ihre Eltern stammten aus einer traditionell geprägten türkischen Familie. Als sie von der Schwangerschaft erfahren hätten, hätten sie ihr mit Zwangsabtreibung oder Ehrenmord gedroht. In den Niederlanden hätte sie daher um ihr Leben und um das ihres ungeborenen Kindes fürchten müssen.

Die Antragsgegnerin wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02.04.2007 zurück. Die Antragstellerin sei nach § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen, weil sie als EU-Ausländerin in Deutschland noch nicht gearbeitet habe. Es solle von vornherein vermieden werden, dass EU-Ausländer, ohne vorher gearbeitet zu haben, dem Steuerzahler hierzulande als Bezieher von Arbeitslosengeld II zur Last fielen.

Noch am selben Tag hat die Antragstellerin einstweiligen Rechtsschutz und Prozesskostenhilfe beantragt. Mit Schriftsatz vom 16.4.2007 hat sie ferner Klage erhoben (Az.: S 5 AS 94/07). Zur Begründung hat sie geltend gemacht: Sowohl ihr - damaliger - Freund als auch ihre Familie hätten sie bedrängt, die Schwangerschaft abzubrechen. Nachdem sie sich dem widersetzt habe, hätten Freund und Familie sie verstoßen. Sie sei daher quasi obdachlos gewesen, weshalb sie zu ihrer langjährigen Freundin Frau B geflüchtet sei. Derzeit stehe sie ohne finanzielle Mittel da. Ein Antrag bei der Beigeladenen sei unter Hinweis auf deren Unzuständigkeit nicht weiter bearbeitet worden. Ihr Antrag sei auch nicht gemäß § 7 Abs. 1 satz 2 SGB II ausgeschlossen. Sie sei eingereist, weil sie von ihrer Familie verstoßen worden sei und um ihre Gesundheit habe fürchten müssen. Überdies wäre sie ansonsten obdachlos geworden. Aufgrund der bevorstehenden Geburt sei ihr alsbald die Ausübung einer Erwerbstätigkeit gemäß § 10 SGB II unzumutbar. Ferner habe sie überdies gemäß § 2 Freizügigkeitsgesetz/EU ein Recht auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik, weil sie lediglich aufgrund der Schwangerschaft und der anschließenden Kindererziehung nicht in der Lage sei, für ausreichende Existenzmittel selbst zu sorgen. Ein Mensch in einer solchen Notsituation könne nicht ohne Hilfe bleiben.

Mit Beschluss vom 26.04.2007 hat das Sozialgericht die Anträge abgelehnt.

Gegen diesen ihr am 03.05.2007 zugestellten Beschluss richtet sich die am 08.05.2007 eingelegte Beschwerde der Antragstellerin. Sie sei nicht ausschließlich eingereist, um in Deutschland Arbeit zu suchen. Sie habe vielmehr um Leib und Leben für sich selbst und ihr ungeborenes Kind gefürchtet. Deshalb habe sie Zuflucht bei Frau B gesucht, von der sie Beistand habe erwarten können. Ihr seien Leistungen nach dem SGB XII zu bewilligen.

Die Antragstellerin versichert an Eides Statt, dass sie am 30.03.2007 die Beigeladene aufgesucht habe, um Leistungen nach dem SGB XII zu beantragen. Dort habe man ihr mitgeteilt, sie sei nicht anspruchsberechtigt. Einen Antrag habe die Beigeladene nicht aufgenommen. Vielmehr habe man ihr geraten, sich an das Ausländeramt zu wenden, da sie nach EU-Freizügigkeitsrecht keine gültigen Aufenthaltsstatus habe.

Dem schriftsätzlichen Vorbringen der Antragstellerin ist zu entnehmen, dass sie beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 26.06.2007 zu ändern und die Antragsgegnerin, hilfsweise die Beigeladene, im Wege der einstweiligen Anordnung und unter Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Sozialgericht zu verpflichten, ihr monatliche Leistungen nach dem SGB II, hilfsweise nach dem SGB XII in Höhe von 489,47 EUR zu zahlen.

Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie sieht weiterhin keinen Leistungsanspruch nach dem SGB II und verweist auf ihre Unzuständigkeit für die Leistungsgewährung nach dem SGB XII.

Nach Beiladung der Stadt S hat der Senat diese um Stellungnahme dazu gebeten, ob die Antragstellerin mit dem Ziel eingereist sei, Sozialhilfe zu beziehen, oder möglicherweise eher, um sich und ihr ungeborenes Kind in Sicherheit zu bringen. Auf die Kommentierung von Birk in LPK-SGB XII, 7. Aufl., § 23 Rn. 33/34 hat der Senat hingewiesen und ferner gebeten, zu einem etwaigen Anspruch nach § 1 a AsylbLG Stellung zu nehmen.

Die Beigeladene meint hierzu, die Antragstellerin gehöre als EU-Bürgerin nicht zum Personenkreis des AsylbLG. Sie legt ferner eine Niederschrift der Ausländerbehörde vom 02.04.2007 vor, in der der Antragstellerin erklärt wird, ihre Wohnsitznahme in der Bundesrepublik Deutschland sei nicht rechtmäßig. Sie müsse bis zum 20.04.2007 ausreisen und sei verpflichtet, sich zu informieren, welche Möglichkeiten bestehen, in den Niederlanden "unterzukommen". Ferner legt die Beigeladene ein Schreiben des Kreises X vor, in dem dieser die Antragstellerin zu seiner Absicht anhört, sie unter Androhung der zwangsweisen Abschiebung zur Ausreise aufzufordern.

Ferner meint die Beigeladene, ein Anspruch auf Sozialhilfe bestehe wegen § 23 Abs. 3 SGB XII nicht. Die Antragstellerin hätte innerhalb der Niederlande umziehen und dort gegebenenfalls in ein Frauenhaus gehen können. Es habe keine Gefahr für sie und das ungeborene Kind bestanden, die die Einreise und den Aufenthalt in Deutschland notwenig gemacht hätte. Die Absicht, Sozialhilfe zu beziehen sei mit ein Grund für die Einreise nach Deutschland gewesen. Da die Antragstellerin nach dem Aufenthaltsgesetz ihren Wohnsitz in Deutschland nicht nehmen dürfe, habe sie gemäß § 23 SGB XII keinen Anspruch auf Sozialhilfe.

Die Beigeladene beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

II.

Die zulässige Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 09.05.2007), ist in dem im Tenor ausgewiesenen Umfang begründet, im Übrigen ist sie unbegründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Erforderlich ist insoweit die Glaubhaftmachung des geltend gemachten Anspruchs (Anordnungsanspruch) sowie der besonderen Eilbedürftigkeit für die gerichtliche Entscheidung (Anordnungsgrund).

Die Beschwerde ist mit ihrem auf die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II gerichteten Hauptantrag gegen die Antragsgegnerin unbegründet, weil ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht ist. Dies ergibt sich aus § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II in seiner ab dem 01.04.2006 geltenden Fassung. Hiernach sind vom Leistungsbezug nach dem SGB II Ausländer ausgenommen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II lehnt sich damit an § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/ EU an, der Unionsbürgern wie der Antragstellerin dann ein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem anderen EU-Mitgliedsstaat gibt, wenn sie sich dort zur Arbeitssuche aufhalten wollen. Ergibt sich also das Aufenthaltsrecht des (EU)Ausländers allein aus dem Zweck der Arbeitssuche, greift der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II (Brühl/Schoch in LPK-SGB II, 2. Auflage, Rn. 19 zu § 7 SGB II). So aber liegt der Fall hier, weil weder die Aufenthaltsberechtigungen aus § 2 Abs. 2 Nr. 2-5 noch - mangels ausreichendem Krankenversicherungsschutz und ausreichenden Existenzmitteln - diejenige aus § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 4 Freizügigkeitsgesetz einschlägig sind.

Die Ausnahmeregelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II reagiert auf die gemeinschaftsrechtliche Ausformung der Freizügigkeit und schöpft die dort vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeiten des Zugangs zu sozialen Leistungen für Personen aus, denen die Arbeitnehmerfreizügigkeit Einreise und Aufenthalt zur Arbeitssuche gestattet (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 03.11.2006, Az.: L 20 B 248/06 AS ER, Rn. 29 zitiert nach juris). Eine Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II, wonach der darin angeordnete Leistungsausschluss für Unionsbürger nicht greift, ist daher auch europarechtlich nicht geboten (so aber LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25.04.2007, Az. L 19 B 116/07 AS ER, Rn. 27 zitiert nach juris).

Die Beschwerde ist hingegen in dem im Tenor ausgewiesenen Umfang mit ihrem gegen die Beigeladene gerichteten Hilfsantrag begründet.

Die Antragstellerin hat insofern einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. § 75 Abs. 5 SGG ermöglicht auch die entsprechende Verpflichtung der Beigeladenen noch im Beschwerdeverfahren. Dies gilt umso mehr, als sich die Antragstellerin zunächst an die Beigeladene gewandt hat und dort ohne Entgegennahme und Bescheidung ihres Antrags in nicht nachvollziehbarer Art und Weise an das Ausländeramt verwiesen worden ist.

Bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes gebotenen Prüfung ergibt sich der Anspruch der Antragstellerin auf Sozialhilfe aus § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Hiernach haben Ausländer, die sich - wie die Antragstellerin - tatsächlich im Inland aufhalten, u.a. Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt.

Dem steht nicht § 21 Satz 1 SGB XII entgegen, wonach Personen, die dem Grunde nach aus dem SGB II leistungsberechtigt sind, keinen Leistungsanspruch nach dem SGB XII haben können. Scheitert ein Anspruch von EU-Angehörigen auf Leistungen nach SGB II an § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II, gebietet das Gemeinschaftsrecht und hierbei insbesondere der aus Art. 12 EGV herzuleitende Anspruch nicht erwerbstätiger EU-Bürger auf Teilhabe an den staatlichen Sozialleistungssystemen desjenigen Mitgliedsstaates, in den sie eingereist sind, eine Auslegung des § 21 Satz 1 SGB XII dahingehend, diese Personen als nicht dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II anzusehen (so auch Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, aaO, Rn. 36). Abweichend von der EU-Freizügigkeitsrichtlinie gewährt das nationale Recht der Bundesrepublik Deutschland in Form des Rechts auf Einreise und Aufenthalt wegen gemeinschaftsrechtlicher Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 Nr.1 FreizügigG/EU ein unbefristetes Aufenthaltsrecht bei Arbeitssuche; dabei verzichtet es auf die Voraussetzung der begründeten Erfolgsaussicht bei Arbeitssuche (LSG Nordrhein-Westfalen, aaO, Rn. 32).Hält sich aber ein EU-Bürger hiernach rechtmäßig in einem Mitgliedsstaat auf, so ist Art. 12 EGV zu beachten, der eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet. Eine solche Diskriminierung liegt aber vor, wenn eine nationale Regelung Unionsbürgern, die sich in einem (anderen) Mitgliedsstaat aufhalten, Sozialhilfe auch dann nicht gewährt, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen, die für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedsstaates gelten (LSG Nordrhein-Westfalen, aaO, Rn. 33, unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 07.09.2004, C-456/02 - Trojani - und auf EuGH, Urteil vom 20.09.2001, C- 184/99 - Grzelczyk -).

Die Antragstellerin ist von diesen Leistungen auch nicht nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen. Hiernach haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe.

Zunächst ist festzustellen, dass dieser Leistungsausschluss europa-rechtskonform ist (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, aaO, Rn. 34).

Nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist auf die Beweggründe der einreisenden Person abzustellen. Das Motiv, Sozialhilfe zu erlangen, muss für die Einreise von prägender Bedeutung gewesen sein (BVerwGE 90, 212). Es muss für den Ausländer neben anderen Einreisegründen so wichtig gewesen sein, dass er ansonsten nicht eingereist wäre. Die materielle Beweislast hierfür hat zunächst der Träger der Sozialhilfe (Birk in LPK-SGB XII, 7. Auflage, 2005, Rn. 33 zu § 23 SGB XII m.w.N.; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf SGB XII, § 23 Rdnr. 19).

Diesen Beweis hat die Beigeladene nicht geführt. Vielmehr hält es der Senat für überwiegend wahrscheinlich, dass das Ziel, Sozialhilfe zu beziehen, für die Antragstellerin bei ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gerade nicht das prägende Motiv war.

Die Antragstellerin war zu dem Zeitpunkt, als sie ihr Elternhaus verlassen hat, 20 Jahre alt und im sechsten Monat schwanger. Dafür, dass sie in einer traditionell geprägten türkischen Familie gelebt hat, spricht schon ihr Erscheinungsbild auf dem niederländischen Pass, wo sie mit einem Kopftuch, das lediglich das Gesicht nicht verhüllt, abgebildet ist. Die Antragstellerin ist nicht verheiratet, erwartet also ein uneheliches Kind.

Dass sie aufgrund dessen Repressalien von Seiten ihrer Familie und auch ihres ehemaligen Freundes ausgesetzt war, erscheint dem Senat durchaus plausibel. Angesichts ihrer Verankerung in ihrer Familie in I ist es im Übrigen nur schwer vorstellbar, dass die Antragstellerin diesen Familienverband in den Niederlanden mit dem Ziel aufgegeben hat, nunmehr die letzten 3 ½ Monate vor ihrer Niederkunft zu einer Freundin mit zwei halbwüchsigen Kindern nach Deutschland zu ziehen, um dort von Sozialhilfe zu leben. Weit näher liegend erscheint es dem Senat, dass sich die Antragstellerin aus der Not heraus, nämlich um sich und ihr Kind zu schützen, ihr Elternhaus und die ihr vertraute Umgebung verlassen hat.

War demnach also der Bezug von Sozialhilfe nicht das prägende Motiv für die Einreise nach Deutschland, ist die Antragstellerin von Sozialhilfeleistungen nicht über § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen.

Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass selbst denjenigen Ausländern, die nach Deutschland eingereist sind, um Sozialhilfe beziehen, nicht sämtliche staatlichen Leistungsansprüche verloren gehen. Vielmehr hat der Sozialhilfeträger in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens dann zumindest die unabweisbare Hilfe analog § 1 a AsylbLG zu gewähren, da ansonsten die Antragstellerin als EU-Bürgerin schlechter gestellt wäre als Ausländer, die eingereist sind, um Leistungen nach dem AsylbLG zu erhalten (Birk, aaO, Rn. 34).

Dass die Beigeladene trotz des Hinweises des Senats mit Angabe von Norm und Fundstelle vom 05.06.2007 selbst eine solche Leistungsgewährung abgelehnt hat, ist dem Senat unverständlich. Soweit sich die Beigeladene für dieses Vorgehen darauf berufen will, dass die Antragstellerin ja auch in die Niederlanden umziehen bzw. dort in ein Frauenhaus hätte gehen können, hat sie die rechtliche Relevanz dieses Vorbringens weder erläutert noch ist eine solche erkennbar. Denn § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII stellt darauf ab, dass sich der Ausländer tatsächlich in Deutschland aufhält - und nicht darauf, wo er sich stattdessen hätte aufhalten können.

Da weitere Ausschlusstatbestände nicht in Betracht kommen, hat die Antragstellerin einen Anspruch gegen die Beigeladene auf Sozialhilfe für Ausländerinnen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin hat hiernach in dem gleichen Umfang wie eine deutsche Frau einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 27 ff. SGB XII), Hilfe bei Krankheit (§ 48 SGB XII) sowie Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft (§ 50 SGB XII - Birk, aaO, Rn. 17).

Einen Anordnungsgrund hat die Antragstellerin ebenfalls glaubhaft gemacht. Sie lebt bei ihrer Freundin, die lediglich Leistungen nach dem SGB II bezieht, ohne jedwede staatliche Unterstützung und ist ansonsten nach ihrem eigenen glaubhaften Vortrag mittellos. Überdies steht die Geburt ihres Kindes unmittelbar bevor. Deshalb ist es der Antragstellerin nicht zumutbar, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.

Der Senat hält es hiernach, um die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegzunehmen, im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes für geboten aber auch für ausreichend, die Beigeladene zu verpflichten, der Antragstellerin den Eckregelsatz von monatlich 345 EUR gemäß § 1 der nordrhein-westfälischen Verordnung über die Regelsätze der Sozialhilfe vom 19.12.2006 für die Zeit ab Stellung des einstweiligen Anordnungsantrags (02.04.2007) bis zum 31.08.2007 zu gewähren.

Prozesskostenhilfe ist sowohl für das Verfahren vor dem Sozialgericht als auch für das Beschwerdeverfahren zu gewähren. Bereits der Antrag vor dem Sozialgericht hatte hinreichende Erfolgsaussicht (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung/ZPO), weil das Sozialgericht die Stadt S hätte beiladen und zur vorläufigen Leistungsgewährung verpflichten müssen.

Im Übrigen, d.h. soweit Leistungen nach dem SGB II und ein höherer Zahlbetrag nach dem SGB XII beantragt worden sind, war die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Da die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde gegen die Beigeladene im wesentlichen obsiegt, war die Beigeladene zu verpflichten, der Antragstellerin die Kosten des zu Az.: L 9 B 80/07 AS ER geführten Beschwerdeverfahrens zu erstatten. Für das Verfahren vor dem Sozialgericht sind demgegenüber keine Kosten zu erstatten, weil der Antragstellerin gegenüber der Antragsgegnerin der geltend gemachte Anspruch nicht zusteht und die Beigeladene erst im Beschwerdeverfahren beigeladen worden und damit Beteiligte geworden ist. Einer Kostenerstattung für das zu Az.: L 9 B 81/07 AS geführte Beschwerdeverfahren steht § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO entgegen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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