L 4 KR 286/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 47 KR 442/03
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 286/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 23. November 2004 abgeändert. Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Klägerin wieder als Logopädin zuzulassen ist.

Nachdem ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet worden war, widerriefen die Beklagten mit Bescheid vom 22.12.1994 und Widerspruchsbescheid vom 17.10.1995 die Zulassung. Die Klägerin wurde mit Urteil vom 07.02.1996 wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit Beihilfe zur Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.

Die Regierung von Oberbayern erteilte am 17.04.2002 der Klägerin die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung Logopädin erneut. Mit Schreiben vom 07.07.2002 und unter Vorlage von Ausbildungsnachweisen teilte die Klägerin mit, sie würde ab September 2002 in I. eine Praxis eröffnen wollen. Die Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassenverbände in Bayern lehnte mit Schreiben vom 23.07.2002 den Antrag auf Zulassung mit der Begründung ab, es fehle die berufspraktische Erfahrungszeit. Mit weiterem Schreiben vom 08.11.2002 würde die Ablehnung der Zulassung damit begründet, es sei der Solidargemeinschaft weder zumutbar noch vermittelbar, dass Leistungserbringer zur Verfügung stehen, die im hochsensiblen Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern straffällig geworden sind. Die Ablehnung wurde mit Bescheid vom 08.01.2003 wiederholt. Gegen diesen Bescheid legte der Bevollmächtigte der Klägerin Widerspruch ein, den die AOK mit Widerspruchsbescheid vom 04.04.2003 zurückwies. Die hiergegen erhobene Klage ging am 12.05.2003 beim Sozialgericht München ein. Auf Aufforderung des Sozialgerichts holten die Beklagten zu 2) bis 5) das Widerspruchsverfahren nach. Der Bevollmächtigte der Klägerin hat jeweils auch gegen die Widerspruchsbescheide der Beklagten zu 2) bis 5) Klage erhoben. Die Widersprüche wurde zurückgewiesen. Er führte zur Klagebegründung aus, weder die Klägerin noch ihr Ehemann seien seit der Verurteilung strafrechtlich auffällig geworden. Der Klägerin fehle es damit nicht mehr an der Eignung zur Abgabe von logopädischen Behandlungen als Leistungserbringerin. Die Klägerin behandele derzeit Privatpatienten aller Altersgruppen.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 23.11.2004 die Beklagten verurteilt, der Klägerin die Zulassung zur Abgabe von logopädischen Behandlungen von Versicherten unter der Auflage zu erteilen, dass sie nur Versicherte behandelt, die zum Zeitpunkt des Beginns der Behandlung bereits das 27. Lebensjahr vollendet haben. Zur Begründung führte es aus, es sei zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Klägerin die Voraussetzungen des § 124 Abs.2 Satz 1 SGB V erfülle. Darüber hinaus hätten die Kassen jedoch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ein eigenständiges Prüfungsrecht bezüglich der persönlichen Eignung und Zuverlässigkeit eines Heilmittelerbringers. Eine Zulassungsbeschränkung komme der Beschränkung der Berufswahl im Sinne des Art.12 Abs.1 GG nahe und sei nur zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig. Vor diesem Hintergrund sei zwar eine Wiederzulassung auszusprechen, diese jedoch mit einer Nebenbestimmung in Form einer Auflage gemäß § 32 Abs.1 SGB X zu versehen. Aufgrund der strafrechtlich überprüften Tatbestände sei das Vertrauensverhältnis zwischen den Beklagten und der Klägerin gestört. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen bzw. Heranwachsenden stelle auch ein wichtiges Gemeinschaftsgut dar, da insoweit neben der körperlichen Integrität auch die Menschenwürde nach Art.1 Abs.1 GG betroffen sei. Dies schließe jedoch nicht aus, dass die Klägerin wieder für die logopädische Behandlung von Erwachsenen zuzulassen sei. Die grobe Pflichtverletzung habe Erwachsene nicht betroffen. Auch sei die Klägerin nicht weiter strafrechtlich in Erscheinung getreten. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erscheine deshalb eine Zulassung mit der Auflage als geboten, aber auch als ausreichend. Die Altersgrenze Vollendung des 27. Lebensjahrs berücksichtige, dass im Bereich der Logopädie auch behinderte Kinder und Heranwachsende behandelt werden, die über das 18. Lebensjahr hinaus eines besonderen Schutzes bedürften. Diese Altersgrenze, die auch für die Waisenrente zutreffe, erscheine dem Gericht als sachgerecht.

Gegen dieses Urteil legen die Beklagten mit Schreiben vom 27.12.2004 Berufung ein, die damit begründet wird, auch die körperliche Integrität und Gesundheit von Personen allgemein, d.h. auch von Erwachsenen, stelle ein wichtiges Gemeinschaftsgut dar. Die Einschätzung, die die Beklagten anhand der staatsanwaltlichen Ermittlungsakte zum Tathergang gewonnen hätten, sei geeignet, auch um die psychische und physische Integrität erwachsener Patienten zu fürchten. Charakteristisch für das Verhalten der Klägerin sei durchweg die Thematik der Über- und Unterordnung und damit die Ausübung von Macht. Keine Rolle spiele, dass die Klägerin wegen der Videoaufnahmen von minderjährigen Mädchen in der Praxis im Strafverfahren freigesprochen wurde. Entscheidend sei, dass der Tatbestand als solcher vorliege und für die Beklagten wegen der dort völlig ungeeigneten Methoden im Rahmen einer logopädischen Behandlung nach wie vor relevant sei. Das gezeigte Verhalten gefährde auch erwachsene Patienten, die aufgrund ihrer psychischen und/oder physischen Konstitution einem Kind gleichkommen. Ein Patient, der nicht in der Lage sei, mit der Umwelt zu kommunizieren, werde oftmals nicht in der Lage sein, sich gegen Gewalt zu wehren. Schließlich handele es sich bei der Vorschrift des 124 Abs.2 SGB V nicht um eine Ermessensvorschrift. Die Zulassung sei zu erteilen, sofern die Voraussetzungen vorliegen oder sie sei zu versagen. Eine Nebenbestimmung gemäß § 32 SGB X sei nicht möglich.

Die Beklagten beantragen, das Urteil des Sozialgerichts München vom 23.11.2004 aufzuheben und die Klage vollständig abzuweisen.

Der Vertreter der Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er weist darauf hin, dass das Strafurteil seit mehr als neun Jahren rechtskräftig sei. Es sei ausreichend Zeit abgelaufen, in der sich die Klägerin zweifelsfrei bewährt habe. Durch die Kassenzulassung sei die körperliche Integrität und die Gesundheit von Personen in keiner Weise gefährdet. Alles Andere sei eine durch nichts nachvollziehbare Behauptung der Beklagten. Offenbar seien sie nicht in der Lage, einen Strafprozess nachzuvollziehen. Es könne auf keinen Fall zum Nachteil der Klägerin gewertet werden, dass sie angeblich ungeeignete Methoden im Rahmen einer logopädischen Behandlung angewandt habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten, die nicht der Zulassung gemäß § 144 SGG bedarf, ist zulässig und begründet.

Die Beklagten haben zutreffend in den streitgegenständlichen Verwaltungsakten die Zulassung der Klägerin als Logopädin gemäß § 124 SGG in vollem Umfang abgelehnt. Die Klägerin erfüllt nicht die Voraussetzungen für eine Zulassung gemäß § 124 Abs.2 SGB V. Dem Sozialgericht und den Beklagten ist dahingehend zu folgen, dass neben den in § 124 Abs.2 Nrn.1 bis 3 SGB V geforderten und von der Klägerin erfüllten Voraussetzungen auch die persönliche Eignung zur Leistungserbringung zu überprüfen ist. Das Bundessozialgericht hat hierzu im Urteil vom 13.12.2001, B 3 KR 19/00 R (SozR 3-2500 § 124 Nr. 10) ausgeführt, den Kassen stehe ein eigenständiges Prüfungsrecht bezüglich der Eignung und Zuverlässigkeit eines Heilmittelerbringers zu. Als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal sei die persönliche Eignung und Zuverlässigkeit bezüglich der besonderen Anforderungen an Qualität und Zuverlässigkeit der Leistungserbringung bei einer Tätigkeit für die Kassen, die als allgemeiner Grundsatz an verschiedenen Stellen des Gesetzes Ausdruck gefunden hat, der Zulassungsregelung des § 124 SGB V immanent. Das Berufsgrundrecht der Klägerin aus Art. 12 Grundgesetz (GG) ist durch diese Gesetzesauslegung und Anwendung nicht verletzt. Beeinträchtigungen dieses Grundrechts müssen verhältnismäßig sein, dabei werden die Anforderungen nach der vom Bundesverfassungsgericht dazu entwickelten Mehr-Stufen-Lehre von der Stufe objektiv begründeter (also nicht in der Person des Bewerbers liegender) Zulassungsregelungen für die Berufswahl bzw. das Verbleiben im Beruf über die Stufe subjektivbegründeter (in der Person des Bewerbers liegender) Zulassungsregelungen bis hin zu der Stufe bloßer Berufsausübungsregelung immer geringer (BSG, Urteil vom 27.03.1996, 3 RK 25/95, SozR 3-2500 § 124 Nr. 5 mit Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts BVerfG 7, 377, 401 ff). Die Zulassung der Klägerin gemäß § 124 Abs. 2 SGB V betrifft nicht die erste Stufe dieser Stufenlehre, es handelt sich nicht um eine nicht in der Person des Bewerbers liegende Zulassungsregelung. Vielmehr liegt die Zulassung im Bereich der zweiten Stufe, sie betrifft in der Person der Klägerin liegende Zulassungsregelungen. Es geht darum, ob die Klägerin, die wieder die Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung (also die Berufszulassung), besitzt, auch wieder Versicherte der Beklagten behandeln darf. Entscheidungserheblich ist, dass es im Fall der Klägerin nicht darum geht, den Versicherten der Beklagten eine Behandlung zukommen zu lassen. Entscheidend ist, dass vermieden werden muss, dass Versicherte in ihren Grundrechten verletzt werden. Dies ist durch das allerdings einige Jahre zurückliegende strafrechtlich relevante Verhalten der Klägerin geschehen. Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hat jeder ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die körperliche Unversehrtheit von Versicherten der Beklagten ist durch die Klägerin massiv beeinträchtigt worden. Sie hat ihre Position als Leistungsbringerin der Beklagten dazu ausgenützt, ihrem, wie im Strafurteil ausgeführt, sexuell abartig veranlagten Mann die Gelegenheit zu verschaffen, ein 12-jähriges Mädchen nicht nur massiv sexuell zu belästigen, sondern darüberhinaus körperlich zu verletzten. Außerdem hat sie Videoaufnahmen von bei ihr behandelten Kindern erstellt, wobei sie mit den nackten Kindern Gymnastikübungen veranstaltete, die, wie die Sozialgerichtsgutachterin festgestellt hat, keinerlei Bezug zu logopädischer Behandlung haben. Es muss davon ausgegangen werden, dass dieses Verhalten der Klägerin eine Veranlagung und/oder eine Abhängigkeit von den Wünschen ihres Ehemannes zum Ausdruck bringt, die sie ihren beruflichen Pflichten und ihrer ein besonderes Vertrauen erforderlichen Stellung vorzieht. Die Klägerin ist immer noch verheiratet, die Befürchtung der Beklagten, entsprechendes Verhalten könne sich wiederholen, ist zumindest nicht von der Hand zu weisen. Es fehlt an einem signifikanten Bruch mit dem damals gezeigten Verhalten. Unter diesem Aspekt ist der Senat der Auffassung, das Grundrecht der Klägerin gemäß Art. 12 GG müsse geringer bewertet werden als das Grundrecht der Versicherten der Beklagten auf körperliche Unversehrtheit. Der Eingriff der Beklagten in das Grundrecht der Klägerin ist damit gerechtfertigt durch überwiegende Grundrechte anderer.

Wegen formeller und grundsätzlicher Bedenken ist der Senat nicht der Auffassung des Sozialgerichts, dass es ausreichend ist, wenn die Wiederzulassung der Klägerin mit der Nebenbe-stimmung ausgesprochen wird, dass sie nur Versicherte behandelt, die zum Zeitpunkt des Beginns der Behandlung bereits das 27. Lebensjahr vollendet haben. Nach § 32 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, auf den ein Anspruch besteht, mit einer Nebenbestimmung nur versehen werden, wenn sie durch Rechtsvorschrift zugelassen ist oder wenn sie sicherstellen soll, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsakts erfüllt werden. Bei der Zulassung gemäß § 124 SGB V handelt es sich um einen Verwaltungsakt, auf den ein Anspruch besteht. § 124 Abs. 2 SGB V regelt durch Gesetz, unter welchen Voraussetzungen die Zulassung nach § 124 Abs. 1 SGB V u.a. auch für Sprachtherapie zu erteilen ist. Eine Altersbeschränkung der zu behandelnden Patienten ist nicht gesetzlich geregelt. Die zweite Alternative des § 32 Abs. 1 SGB X eröffnet die Möglichkeit, einen begünstigenden Verwaltungsakt schon dann zu erlassen, wenn zwar wesentliche, aber noch nicht alle tatbestandlichen Voraussetzungen der Anspruchsnorm erfüllt oder nachgewiesen sind, also noch nicht endgültig feststeht, ob der Anspruch dem Grunde nach besteht. Die Vorschrift darf grundsätzlich nur herangezogen werden, um die Erfüllung geringfügiger tatbestandlicher Voraussetzungen eines Verwaltungsaktes sicherzustellen (Engelmann in von Wulffen, SGB X, Rdziff. 10 zu § 32). Fehlen wesentliche Voraussetzungen, muss die Behörde einen ablehnenden Bescheid erteilen und der Betroffene später ggf. einen neuen Antrag stellen (Engelmann a.a.O.). Im Falle der Wiederzulassung der Klägerin fehlt derzeit den Beklagten das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Klägerin, insbesondere was die Behandlung von Kindern betrifft. Dies ist nicht nur eine geringfügige tatbestandliche Voraussetzung, die ohne weiteres nachgeholt werden kann. Den Beklagten ist darüberhinaus zuzustimmen, wenn sie in der Berufungsbegründung vortragen, dass aufgrund ihrer Neigung nicht auszuschließen ist, dass im Falle der Wiederzulassung der Klägerin sie auch weiterhin ungeeignet ist, neben Kindern auch solche erwachsene Patienten zu betreuen, bei denen neben der sprachlichen Behinderung, die sie schon in weiten Teilen hilflos macht, auch zusätzliche Unsicherheiten vorhanden sind. Es ist schließlich der Umgang mit behinderten Menschen, der es erfordert, auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit eines Behandler auszuschließen. Das gebietet die Fürsorge der Versicherer gegenüber ihren Versicherten.

Das Urteil des Sozialgerichts ist deshalb abzuändern und die Klage im vollen Umfang abzuweisen.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1, i.V.m. Abs. 2 VwGO.

Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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