L 6 R 127/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 14 R 672/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 6 R 127/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 19. Januar 2006 und der Bescheid der Beklagten vom 9. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. November 2002 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Dezember 2003 bis 30. November 2009 zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens ganz und die des Klageverfahrens zu zwei Dritteln zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um Rente wegen Erwerbsminderung.

Die Klägerin ist 1953 geboren und hat eine abgeschlossene Berufsausbildung als Schneiderin. Sie war zuletzt im Jahre 2000 als Schneiderin und Verkäuferin tätig, seither ist sie arbeitsunfähig und arbeitslos. Der letzte Versicherungsverlauf im angefochtenen Bescheid weist eine Lücke von 1975 bis 1989 auf, von da an ist er lückenlos bis 24.06.2004 belegt.

Am 30.04.2002 stellte die Klägerin einen Rentenantrag. Vorangegangen war eine stationäre Behandlung in der Fachklinik E. , bei der u.a. eine somatoforme Schmerzstörung und ein chronisches Schmerzsyndrom diagnostiziert und eine verminderte Erwerbsfähigkeit auf Zeit angenommen wurden. Dem von der Beklagten mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragten Internisten Dr.R. fielen in seinem Gutachten vom 01.07.2002 eigenartige Schmerzschilderungen der Klägerin auf, von denen er auf das Vorliegen psychischer Erkrankungen schloss. Auf seinem Fachgebiet hielt er die Klägerin weiter für wenigstens sechs Stunden als Schneiderin und Verkäuferin einsatzfähig. Sämtliche weiteren Begutachtungen auf Fachgebieten, die nicht das psychiatrische Gebiet betreffen, haben keine relevanten Leistungseinschränkungen der Klägerin erbracht.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 09.07.2002 ab. Im Widerspruchsverfahren gaben der Beklagten ärztliche Berichte über schwerwiegende psychische Störungen Anlass zu einer Begutachtung durch den Neurologen und Psychiater Dr.H ... In seinem Gutachten vom 30.10.2002 diagnostizierte er eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung und ein myofasziales Syndrom. Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit der Klägerin ergaben sich daraus nach dem Sachverständigen nicht. Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 13.11.2002 als unbegründet zurück.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Gewährung von Rente ab Antragstellung beantragt.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten des Orthopäden Dr.S. vom 19.03.2004 eingeholt, der ausgeführt hat, der Schwerpunkt der Beurteilung der Schmerzsymptomatik liege auf psychiatrischem Fachgebiet. Erstmals im Klageverfahen hatte die Klägerin ausführliche schriftliche Darstellungen über den Zusammenhang zwischen einer Zahnbehandlung und ihren körperlichen Beschwerden, insbesondere auffallend bizarr geschilderte Reaktionen ihrer Muskeln und der Wirbelsäule vorgebracht.

Das Sozialgericht hat weiter ein Gutachten des Prof.Dr.B. , Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses G. , Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Abteilung Psychiatrie II der Universität U., vom 10.08.2005 eingeholt. Der Sachverständige diagnostiziert eine anhaltend somatoforme Schmerzstörung und eine länger dauernde nicht organische Psychose in Gestalt einer psychischen Erkrankung mit paranoiden Anteilen, einer Leibeshalluzinose und anhaltend wahnhaften Störungen. Durch die als hochpathologisch zu wertende ständige formale Beschäftigung mit ihrer Problematik sei die Erwerbsfähigkeit der Klägerin massiv beeinträchtigt. Seit mindestens zwei Jahren sei die Klägerin damit nicht mehr fähig, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Durch eine stationäre Therapie mit bestimmter Ausrichtung bestehe die Möglichkeit der Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit.

Die von der Beklagten hierzu gehörte Fachärztin für Psychiatrie und Diplompsychologin Dr.W. hat demgegenüber gerügt, es seien keine Beobachtungen beim stationären Aufenthalt und bei den Bewegungsabläufen mitgeteilt, keine Anamnese der Alltags- und Freizeitaktivitäten erhoben worden, ferner keine Verhaltensänderungen und Aktivitäten, die Rückschlüsse auf einen Leidensdruck zuließen. Die Begründung des Gutachtens reiche für qualitative, nicht aber für quantitative Leistungseinschränkungen.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 19.01.2006 als unbegründet abgewiesen. Die Klägerin sei nicht erwerbsgemindert. Sie weise keine wesentlichen körperlichen Beeinträchtigungen auf, der psychische Befund sei laut den Gutachten des Dr.H. und des Prof.Dr.B. gut. Warum die hypochondrisch-paranoide Haltung die Erwerbsfähigkeit der Klägerin beeinträchtigen solle, sei nicht ersichtlich. Aber auch, wenn man der Einschätzung des Prof.Dr.B. folge, sei die Klage unbegründet, denn eine Rentengewährung komme nicht in Betracht, wenn bei Rentenablehnung zu erwarten sei, dass die neurotischen Erscheinungen verschwänden (BSG-Urteil vom 12.09.1990 Az.: 5 RJ 88/89). Nach dem Gutachten des Prof.Dr.B. bestehe durchaus die Aussicht, dass sich mit entsprechender Therapie die Erwerbsfähigkeit wieder herstellen lasse.

Im Berufungsverfahren hat der Senat den Sachverständigen Prof. Dr.B. zu den Einwendungen der Beklagten gutachterlich Stellung nehmen lassen. Der Sachverständige hat in seiner Stellungnahme vom 21.06.2006 auf die ausführliche Darstellung des Tagesablaufs und der Tagesstruktur der Klägerin sowie die soziale Anamnese im Gutachten hingewiesen. Ansonsten seien keine Beobachtungen in der Untersuchungssituation mitgeteilt, weil sich insoweit keine Besonderheiten gezeigt hätten. Ganz im Vordergrund stünden die psychopathologischen Auffälligkeiten, die das Ausmaß einer gewöhnlichen somatoformen Störung bei weitem überschritten. Schon die Beschreibung der Wirbelsäule durch die Klägerin im Gutachten des Dr.H. sei als Hinweis auf den psychotischen Prozess zu verstehen. Es sei aufgrund des langjährigen Verlaufs eher unwahrscheinlich, dass Heilmaßnahmen tatsächlich ein positives berufliches Leistungsvermögen erreichen könnten. Die Klägerin besitze keinerlei Einsicht in die Psychogenese ihrer Beschwerden und werde innerlich ablehnend einer Behandlung gegenüberstehen, die ihrem von einer inhaltlichen Denkstörung geprägten Krankheitskonzept zuwiderlaufe. Es bestehe die bloße Möglichkeit einer günstigen Wirkung einer neuroleptischen Pharmakotherapie. Eine Wahrscheinlichkeit sei nicht gegeben. Das Zurücklegen der Wegstrecke von und zur Arbeit sei nicht durch körperliche Gegebenheiten unmöglich, sondern werde je nach psychischem Erleben bzw. Antriebslage einmal gelingen und an anderen Tagen nicht. Ein positiv vorhandenes berufliches Leistungsvermögen sei seit mindestens Mai 2003 nicht mehr gegeben. Mit Mühe sei die Klägerin in der Lage, die Tätigkeiten des täglichen Lebens durchzuführen - hierzu brauche sie die Unterstützung der Tochter - und die eigene Körperhygiene zu betreiben.

Die Ärztin der Beklagten sieht hierin keine neuen Aspekte und verweist im Wesentlichen auf ihre im Klageverfahren abgegebene Stellungnahme.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Augsburg vom 19.01.2006 sowie des Bescheides vom 09.07.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.11.2002 zu verpflichten, ihr aufgrund des Antrags vom 30.04.2002 Rente wegen Erwerbsminderung zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Zum Verfahren beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Akten der Beklagten und die Akte des Sozialgerichts in dem vorangegangenen Klageverfahren. Auf ihren Inhalt wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und für die Zeit vom 01.12.2003 bis 30.11.2009 begründet. Für diesen Zeitraum steht der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung zu. Einen darüber hinausgehenden Rentenanspruch hat die Klägerin derzeit nicht.

Nach § 43 Abs.2 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind und weitere versicherungsrechtliche Voraussetzungen erfüllen, die bei der Klägerin unstreitig gegeben sind. Nach Satz 2 der Vorschrift sind Versicherte voll erwerbsgemindert, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dies trifft zur Überzeugung des Senats bei der Klägerin seit 01.05.2003 zu.

Der Senat stützt seine Überzeugung auf die Gutachten des Sachverständigen Prof.Dr.B ... Dort ist in überzeugender Weise dargestellt, dass die Klägerin aufgrund ihrer ständigen und wahnhaften Beschäftigung mit ihrer Beschwerdesymptomatik nicht in der Lage ist, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen. Diese Begründung wird von den ärztlichen Einwendungen der Beklagten nicht angesprochen und dementsprechend in ihren Auswirkungen nicht diskutiert. Es liegen deshalb insoweit keine durchgreifenden Einwendungen vor. Zu den von der Ärztin der Beklagten gerügten Lücken im Gutachten des Prof.Dr.B. hat der Sachverständige Stellung genommen, sie sind in der ärztlichen Stellungnahme im Berufungsverfahren von der Beklagten nicht wieder gerügt worden. Ansonsten lässt die Stellungnahme der Beklagten jede Auseinandersetzung mit den konkreten psychischen Gegebenheiten der Klägerin vermissen, es werden nur abstrakte Ausführungen zu Gutachtensanforderungen vorgetragen, ohne Rücksicht darauf, ob und wie sie den konkreten Fall in entscheidungserheblicher Weise betreffen. Nach den Gutachten des Sachverständigen Prof.Dr.B. ist die Klägerin nicht nur gehindert, eine geregelte Beschäftigung auszuüben. Es besteht auch eine Einschränkung der Klägerin hinsichtlich der Fähigkeit, regelmäßig einen Arbeitsplatz aufzusuchen, wenn sie, wie Prof.Dr.B. ausführt, nur jeweils abhängig von ihrer wechselnden psychischen Disposition in der Lage ist, sich auf den Weg zu machen.

Dieser Zustand der verminderten bzw. aufgehobenen Erwerbsfähigkeit besteht nach dem Gutachten des Prof.Dr.B. mindestens seit Mai 2003. Für den vorhergehenden Zeitraum liegt keine entsprechende gutachterliche Äußerung vor, so dass ein früherer Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung nicht begründet werden kann, auch wenn möglicherweise eine nicht zutreffende Einschätzung des Leistungsvermögens der Klägerin durch den Sachverständigen Dr.H. stattgefunden hat.

Dem Sozialgericht ist nicht zu folgen, soweit es einen Rentenanspruch als nicht gegeben ansieht, weil durch dessen Ablehnung die neurotische Fehlhaltung behoben und die Erwerbsfähigkeit damit hergestellt werden könne. Das Bundessozialgericht geht in der vom Sozialgericht herangezogenen Entscheidung davon aus, dass im Einzelfall zuverlässig die Prognose gestellt werden könne, dass die Ablehnung der Rente die neurotische Entwicklung ohne weiteres verschwinden lasse. Im entschiedenen Fall hatte die Beweiserhebung ergeben, dass sich der Leidenszustand des Versicherten mit ärztlicher Hilfe innerhalb zwei bis drei Wochen bessern würde. Im vorliegenden Fall hat kein Sachverständiger und auch sonst kein Arzt eine Ausführung der Gestalt gemacht, dass durch eine Rentenablehnung bei der Klägerin eine solche Wirkung zu erzielen sei, auch nicht in Verbindung mit einer kurzfristigen geeigneten Behandlung.

Nach § 102 Abs.2 Satz 1 SGB VI werden Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit geleistet. Die Befristung erfolgt für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn. Sie kann wiederholt werden. Da im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats der Zeitraum von drei Jahren abgelaufen war und die volle Erwerbsminderung fortbesteht, war die Rente für einen weiteren Dreijahreszeitraum zuzusprechen.

Nach § 101 Abs.1 SGB VI war die Rente ab dem 01.12.2003 zuzusprechen, da jedenfalls bereits zum 01.05.2003 die Klägerin voll erwerbsgemindert war.

Von einer Befristung war nicht nach § 102 Abs.2 Satz 3 SGB VI abzusehen, weil zwar der Rentenanspruch unabhängig von der Arbeitsmarktlage besteht, die Gesamtdauer der Befristung jedoch noch keine neun Jahre erreicht und es nicht unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Die Gutachten des Prof.Dr.B. enthalten insoweit divergierende Prognosen. Während nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten durchaus die Aussicht besteht, dass sich mit entsprechender Therapie die Erwerbsfähigkeit der Klägerin wieder herstellen lasse, besteht nach der im Berufungsverfahren eingeholten Stellungnahme die bloße Möglichkeit einer günstigen Wirkung einer neuroleptischen Pharmakotherapie, eine Wahrscheinlichkeit ist nicht gegeben. Diese Einschätzung ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der Annahme, dass unter Berücksichtigung noch vorhandener therapeutischer Möglichkeiten dauerhaft keine Besserungsaussicht bestehe (vgl. BSG SozR 4-2600 § 102 Nr.2).

Einen weitergehenden Anspruch nach § 240 SGB VI hat die Klägerin nicht, denn auch für einen solchen Anspruch ergäben sich die aus §§ 101, 102 SGB VI folgenden Befristungen, so dass eine Rente wegen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit in einer Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgehen würde.

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG und berücksichtigt, in welchem Umfang die Klägerin mit ihrem Begehren obsiegt hat.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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