L 1 R 1788/05

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 17 RA 696/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 R 1788/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Regelung des § 56 Abs. 2 Satz 9 SGB VI, wonach die Kindererziehungszeiten voll demjenigen Elternteil zustehen, der das Kind überwiegend erzogen hat, verstößt nich gegen Art. 3 GG.
Die Berufung wird zurückgewiesen. Der Kläger hat die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu erstatten. Im Übrigen findet ein Kostenausgleich nicht statt. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Berücksichtigung von Ausbildungs- und Kindererziehungs- und Kinderberücksichtigungszeiten. Er ist im April 1948 geboren und begann seine Berufsausbildung mit einer Lehre von April 1965 bis März 1968 zum Industriekaufmann. Anschließend besuchte er von April 1968 bis Mai 1969 das Wirtschaftsgymnasium und studierte vom 1. Oktober 1969 bis 31. Oktober 1972 an der Akademie bzw. Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg mit dem Abschluss Betriebswirt. Danach studierte er von Oktober 1972 bis November 1980 Rechtswissenschaften. Dem schloss sich das Rechtsreferendariat an. Seit 1987 ist er als selbständiger Rechtsanwalt tätig.

Die Beigeladene und der Kläger waren von 1979 bis November 2000 verheiratet und sind die Eltern der am 1979 geborenen C P und des 1983 geborenen P P. Die Beklagte erkannte die Kindererziehungszeiten vom 1. September 1979 bis 31. August 1980 sowie die Kinderberücksichtigungszeiten vom 2. August 1979 bis 1. August 1989 für die Tochter sowie die Kindererziehungszeiten vom 1. März 1983 bis 29. Februar 1984 und Kinderberücksichtigungszeiten vom 26. Februar 1983 bis 30. November 1992 für den Sohn zugunsten der Beigeladenen an. Sie merkte für den Kläger mit Bescheiden vom 18. Juni 1982, 16. Dezember 1982 und 31. Juli 1986 die Zeiten vom 5. April 1964 bis 30. September 1969 als Ausfallzeiten wegen Schulausbildung und die Zeiten vom 1. Oktober 1969 bis 15. Dezember 1977 als Ausfallzeiten wegen Hochschulausbildung vor.

Im Rahmen des Versorgungsausgleichsverfahrens anlässlich der Scheidung führte die Beklagte auf Antrag des Klägers vom 14. Juli 2000 eine Kontenklärung durch. Mit Bescheid vom 9. August 2000 stellte die Beklagte den Versicherungsverlauf für Zeiten vom 1. April 1965 bis zum 31. Dezember 1993 fest. Sie lehnte die Bewertung der Zeit vom 5. April 1964 bis zum 31. März 1965 als Anrechnungszeit wegen Schulausbildung ab, weil die Ausbildung vor Vollendung des 17. Lebensjahres zurückgelegt worden sei. Den Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 4. Januar 2001 zurück. Hiergegen hat der Kläger beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben. Er hat im laufenden Klageverfahren die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten und Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung für seine Kinder beantragt (Antrag vom 25. März 2002). Die Beklagte hat dies mit Bescheid vom 12. Juni 2002 abgelehnt. Eine gemeinsame Erklärung der Eheleute könne im Jahr 2002 wegen Fristablaufes nicht mehr wirksam abgegeben werden. Eine Alleinerziehung durch den Kläger läge nach Aktenlage nicht vor. Im Übrigen seien die Erziehungszeiten bereits im Versicherungskonto der Mutter anerkannt worden.

Der Kläger hat erstinstanzlich behauptet, er habe seine Kinder überwiegend erzogen. Diese hätten immer bei ihm gelebt. Er hat vorgebracht, § 56 Sozialgesetzbuch VI. Buch (SGB VI) sei verfassungswidrig. Die Ausbildungszeit vom 5. April 1964 bis 31. März 1965 sei bereits in den Bescheiden von 1982 und 1986 vorgemerkt gewesen. Auch habe es sich bei seiner Ausbildung an der Akademie bzw. Hochschule für Wirtschaft und Politik nicht um eine Hochschul- sondern eine Fachschulausbildung gehandelt. Die Beigeladene hat ebenfalls behauptet, sie habe die Kinder überwiegend erzogen. Der Kläger habe überwiegend gearbeitet und für den Unterhalt der Familie gesorgt.

Das SG hat zur Frage, wer die Kinder überwiegend erzogen habe, den Sohn P P als Zeugen vernommen. Es hat die Klage mit Urteil vom 29. September 2005 abgewiesen. Die Verpflichtung der Beklagten, die Daten für die Durchführung der Versicherung sowie die Feststellung und Erbringung von Leistungen für einen möglichen späteren Leistungsfall durch schriftlichen Verwaltungsakt verbindlich festzustellen, beurteile sich nach § 149 Abs. 1, 5 SGB VI nach dem Zeitpunkt der Entscheidung. Dieser sei für die gesetzlichen Tatbestände rentenrechtlicher Zeiten (§ 54 Abs. 1 SGB VI, hier insbesondere von Anrechnungszeiten wegen Schul-, Fachschul- oder Hochschulausbildung nach § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI, von Zeiten der Pflichtversicherung wegen Kindererziehung, § 3 Abs. 1 Nr. 1, 56, 249 und von Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung, §§ 54 Abs. 1 Nr. 3, 57, 249 SGB VI) maßgeblich. Die Schulausbildung vor dem 31. März 1965 sei nicht anzurechnen. § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI in der Fassung des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes vom 25. September 1996 (BGBl I 1461) sehe nur noch Zeiten einer Schulausbildung nach dem 17. Lebensjahr als Anrechnungszeiten vor. Die früheren Bescheide aus den Jahren 1982 und 1986 hätten anderes nicht verbindlich festgelegt, vielmehr den Hinweis enthalten, dass die Ausfallzeiten nur anrechenbar seien, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen im Leistungsfall weiterhin erfüllt seien. Die Zeit vom 1. Oktober 1969 bis zum 31. Oktober 1972 könne nicht als Zeit der Fachschulausbildung gewertet werden. Bei der Ausbildung des Klägers an der Hochschule für Wirtschaft und Politik Hamburg habe es sich um eine Hochschulausbildung nach § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI gehandelt. Dies ergebe sich aus der Mitteilung der Hochschule vom 20. September 1982 (Bl. 44 der Verwaltungsakte). Danach habe der Kläger sein Studium mit dem Titel Betriebswirt abgeschlossen. Bei der Hochschule für Wirtschaft und Politik handele es sich um eine Einrichtung des Bildungswesens im Hochschulbereich der Freien und Hansestadt Hamburg, die keine Schulausbildung, sondern seit ihrer Gründung ein Hochschulstudium vermittele. Die Beklagte sei auch nicht verpflichtet gewesen, über den 31. März 1971 hinaus Anrechnungszeiten wegen Schul-, Fachschul- oder Hochschulausbildung zu bewerten, weil sie bereits die Höchstanzahl von drei Jahren für die Zeiten vom 1. April 1968 bis 31. März 1971 berücksichtigt habe. Nach § 74 Satz 4 SGB VI würden nur drei Jahre der Zeiten schulischer Ausbildung bewertet. Die weiteren Zeiten der Hochschulausbildung seien bis zum 15. Dezember 1977 im Versicherungsverlauf der Beklagten vorgemerkt. Die Vormerkung von Zeiten als Kindererziehungszeit und Berücksichtigungszeit wegen Kindererziehung nach §§ 56, 57 SGB VI scheide aus, weil eine überwiegende Erziehung der Kinder durch den Kläger in den maßgeblichen Zeiträumen für das Gericht nicht mit dem dafür erforderlichen Beweisgrad feststellbar seien. Eine Zuordnung einer Kindererziehungszeit an den Vater komme in Betracht, wenn er das Kind alleine oder überwiegend erzogen habe (§ 56 Abs. 2 Satz 9 SGB VI) oder wenn bei gemeinsamer Erziehung durch die Eltern diese eine übereinstimmende Erklärung über die Zuordnung abgegeben hätten (§ 56 Abs. 2 Satz 3 und 8 SGB VI). Eine solche sei hier nicht getroffen worden. Sie könne auch nicht mehr nachgeholt werden. Die Beweisaufnahme habe ergeben, dass eine überwiegende Erziehung der beiden Kinder durch ihn in den ersten 12 Kalendermonaten nach der Geburt und auch in deren ersten zehn Lebensjahren nicht festgestellt werden könne. § 56 Abs. 2 Satz 8 SGB VI sei auch verfassungsgemäß. Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz (GG) werde nicht verletzt (Bezugnahme auf Bundessozialgericht [BSG] SozR 3-2600 § 56 Nr. 10). Die Zuordnung zur Mutter finde nämlich – ohne entsprechende Erklärung der gemeinsam erziehenden Eltern – nur statt, wenn entweder die Mutter überwiegend erzogen habe oder sich nicht beweisen lasse, wer den überwiegenden Erziehungsbeitrag geleistet habe. Durch die Kindererziehungszeit habe ein Beitrag zur Verbesserung der eigenständigen sozialen Sicherung der Frauen geleistet werden sollen (Bezugnahme u. a. auf BT-Drucksache 10/2677 S. 28). Darüber hinaus sei es praktikabler, bei der Zuordnung an nur einen Elternteil an die sozialtypische Rollenverteilung anzuknüpfen, nach der die Aufgabe der Erziehung in den ersten Lebensjahren immer noch weit überwiegend von der Mutter wahrgenommen werde. Diese habe in der Regel nicht die Möglichkeiten, Beitragszeiten zur Rentenversicherung durch eine versicherungspflichtige Beschäftigung zu erwerben.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Der Kläger trägt vor, er habe 1972 den Abschluss eines graduierten Betriebswirtes erreicht. Dieser sei erst zehn Jahre später in den eines Diplombetriebswirtes umgewandelt worden. Dementsprechend seien die Absolventen der Akademie für Wirtschaft und Politik (die erst später in Hochschule für Wirtschaft und Politik umbenannt worden sei) bei staatlichen Stellen nach der Tarifgruppe BAT IV und nicht mit BAT II eingestellt worden. Er habe den Abschluss Betriebswirt benötigt, um Jura studieren zu können. Es verstoße gegen die Verfassung, wenn bei einer gemeinsamen Erziehung die Zuordnung nicht entsprechend anteilig erfolge, sondern einseitig zugunsten eines Elternteils. Das Bundesverfassungsgericht habe bereits entschieden, dass in den Fällen, in denen beide Eltern an einer (Erziehungs-)Leistung arbeiteten, die Leistung nicht aufgrund der alten Rollenverteilungen verteilt werden dürften (Bezugnahme auf Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10.11.1998 – 2 BVR 1057/91, 1226/91, 980/91). Der steuerliche Kinderfreibetrag werde demgemäß immer zu gleichen Teilen aufgeteilt.

Die Universität Hamburg (Rechtsnachfolgerin der Hochschule für Wirtschaft und Politik) hat mit Schreiben vom 30. Januar 2007 mitgeteilt, der Kläger habe gemäß der ihm am 16.10.1972 verliehenen Urkunde das sechssemestrige Hochschulstudium in den Fachbereichen Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Rechtswissenschaften abgeschlossen. Seit 1967 sei an der Akademie für Wirtschaft und Politik, der Vorgängereinrichtung der Hochschule für Wirtschaft und Politik, in einem sechssemestrigen Studiengang studiert worden.

Eine Entscheidung des Familiengerichts über den Versorgungsausgleich ist bislang nicht getroffen worden.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 29. September 2005 und des Bescheides der Beklagten vom 12. Juni 2002 sowie in Abänderung des Bescheides vom 9. August 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Januar 2001 zu verpflichten, die Zeit vom 5. April 1964 bis zum 31. März 1965 als Anrechnungszeit wegen Schulausbildung, die Zeit vom 1. Oktober 1969 bis zum 31. Oktober 1972 als Fachschulausbildung sowie die Zeit vom 1. November 1972 bis zum 15. Dezember 1977 als Hochschulausbildung und 50 % der Erziehungszeiten und Kinderberücksichtigungszeiten für seine Kinder Claire und Pierre zu berücksichtigen. Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Auf die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze wird ergänzend Bezug genommen. Der Verwaltungsvorgang der Beklagten hat vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat keinen Erfolg. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Senat verweist auf die zutreffende Begründung im angefochtenen Urteil (§ 153 Abs. 2 SGG).

Im Berufungsverfahren haben sich keine Anhaltspunkte für anderes ergeben:

Es ist nicht davon auszugehen, dass es sich beim Studium des Klägers an der damaligen Akademie für Wirtschaft und Politik bzw. Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg lediglich um eine Fachschulausbildung gehandelt haben könnte. Ob daraus in rechtlicher Hinsicht überhaupt etwas folgen würde, kann deshalb dahingestellt bleiben. Der Kläger hat ein Studium von sechs Semestern absolviert. Ganz allgemein sind Hochschulen in erster Linie nach dem Status zu anderen Bildungseinrichtungen abzugrenzen (BSGE 61, 35f). Das SG hat danach die Akademie bzw. Hochschule für Wirtschaft und Politik richtig nicht lediglich als Fachschule angesehen. Daneben sind auch die Zugangsvoraussetzungen sowie Art und Umfang der Ausbildung zu berücksichtigen (BSGE 56, 36, 37). Am Studium hat sich durch die geänderte Bezeichnung der Ausbildungsstätte nichts geändert, wie sich aus der Auskunft der Rechtsnachfolgerin, der Universität Hamburg, ergibt. Das sechssemestrige Studium hat dem eines heutigen Fachhochschulstudiums entsprochen, was sich in der Möglichkeit widerspiegelt, den Abschluss graduierter Betriebswirt in den eines Diplombetriebswirts umzuwandeln, von der der Kläger auch Gebrauch gemacht hat.

§ 56 Abs. 2 Satz 8 und 9 SGB VI sind verfassungsgemäß. Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 und 2, Art. 6 Abs. 1 GG, dass – anders als bei der Verteilung des Freibetrages im Einkommenssteuerrecht und beim Kindergeld – die Anrechnung von Kindererziehungszeiten bzw. Kinderberücksichtigungszeiten nicht anteilig nach dem Anteil an der "Erziehungsarbeit", geschweige denn hälftig, berücksichtigt werden.

Nach § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VI ist eine Erziehungszeit dem Elternteil zuzuordnen, der sein Kind (allein) erzogen hat. Haben hingegen mehrere Elternteile das Kind erzogen, ohne dass sie "gemeinsam" erzogen haben, ist nach Satz 9 die Erziehungszeit demjenigen zuzuordnen, der das Kind "überwiegend" erzogen hat. Haben aber Eltern ihr Kind – im Regelfall: aufgrund der ihnen gemeinsam zustehenden elterlichen Sorge (§ 1626 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches – BGB) – "gemeinsam" erzogen, wird die Erziehungszeit (ggf. aufgeteilt nach Kalendermonaten – Satz 4 bis 8) nur einem von ihnen zugeordnet (Satz 2), wobei sie durch eine übereinstimmende Erklärung bestimmen können, welchem Elternteil sie zuzuordnen ist (so weitgehend wörtlich BSG, Urteil vom 25.02.1992 – 4 RA 34/91BSGE 70, 138,141). Eltern, die beide zusammenwirkend ihr Kind erziehen, können in Ausübung ihrer grundrechtlich geschützten Elternverantwortung den Umfang und die Wertigkeit ihrer Erziehungsbeiträge selbst festlegen und deshalb auch durch übereinstimmende Erklärung bestimmen, wem von beiden die Erziehungszeit zuzuordnen ist. Der Rentenversicherungsträger hat dies hinzunehmen. Liegt eine wirksame Erklärung der Eltern nicht vor, bestimmt sich die Zuordnung nach § 56 Abs. 2 Satz 8 und 9 SGB VI. Maßgeblich ist Satz 9, wonach die Erziehungszeit demjenigen Elternteil zuzuordnen ist, der das Kind überwiegend erzogen hat. Lediglich wenn die Erziehungsanteile entweder in etwa gleichgewichtig waren, eine überwiegende Erziehung somit nicht feststellbar ist oder sich für die Frage, ob eine überwiegende Erziehung vorlag, ein non liquet ergibt, greift die Regelung des § 56 Abs. 2 Satz 8 SGB VI ein, nach der die Erziehungszeit der Mutter zuzuordnen ist (BSG, Urteil vom 16.12.1997 -4 RA 60/97- SozR 3-2600 § 56 Nr. 10).

Hier ist letztlich nur die Verfassungsmäßigkeit des § 56 Abs. 2 Satz 9 SGB VI im Streit. Der Kläger greift dabei die Feststellung, dass die Beigeladene die gemeinsamen Kinder überwiegend erzogen habe, hinsichtlich der tatsächlichen Grundlage nicht (mehr) an.

Die Verteilung der Erziehungszeiten nach dem "Alles oder Nichts-Prinzip" nach dem Überwiegen der Erziehung verstößt nicht gegen Art. 3 GG.

Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt das Grundrecht, wenn er eine Gruppe von Normadressaten anders als eine andere behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die un¬gleiche Behandlung rechtfertigen (vgl. BVerfG, U. v. 12.2.2003 -1 BvR 624/01 BVerfGE 107, 205, 213f m.w.N.). Bei der Ordnung von Massenerscheinungen ist er allerdings grundsätzlich berechtigt, typisierende und pauschalierende Regelungen zu treffen, ohne allein wegen der damit verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz zu ver¬stoßen (so BVerfG, B. v. 22.05.2001 – 1 BvL 4/96BVerfGE 103, 392, 402 m.w.N.). Die Zuordnung der Erziehungs- und Berücksichtigungszeiten nach dem Überwiegen der Erziehungstätigkeit ist eine solche Typisierung aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität (vgl. BSGE 68, 171, 176). Anknüpfungspunkt ist – anders als im Steuerrecht – nicht die Gesamtheit der Unterhaltsverpflichtungen, welche ein Elternteil seinem Kind gegenüber hat. Maßgeblich ist vielmehr nur die Erziehungstätigkeit. Seit der erstmaligen Einführung von Kindererziehungszeiten mit dem Gesetz vom 11. Juli 1985 (BGBl I 1450) sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass in Familien mit kleinen Kindern vielfach ein Ehegatte – häufig die Frau – während der Kindererziehung gar nicht oder nur eingeschränkt in der Lage ist, eigene Rentenansprüche aufzubauen. Die Anerkennung von Kindererziehungszeiten sollte auch einen entscheidenden Beitrag zu einer Gleichbewertung der Tätigkeit in der Familie und der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit sein. Zugleich waren Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung als entscheidender Beitrag zu einer Verbesserung in der eigenständigen sozialen Sicherung der Frau gedacht (Kasseler Kommentar – Gürtner, § 56 SGB VI Rdnr. 4 mit Bezug auf BT-Drucksache 10/2677).

Hinzu kommt, dass mit der Benachteiligung des nur im untergeordneten Umfang erziehenden Elternteiles, keine Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten angerechnet zu bekommen, der Vorteil für den überwiegend Erziehenden gegenübersteht, diese Zeiten voll angerechnet zu bekommen. Davon profitiert im Regelfall auch der andere Ehegatte: Bei weiterem Zusammenleben steht später dem gemeinsamen Haushalt der insoweit höhere Rentenzahlungsanspruch zur Verfügung. Die Kindererziehungszeiten zählen (immerhin) nahezu wie Beitragszeiten mit dem Durchschnittseinkommen, § 70 Abs. 2 SGB VI. Auch im Falle einer Scheidung werden beim Versorgungsausgleich die erhöhten Rentenanwartschaften entsprechend berücksichtigt. § 1587a Abs. 8 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) (=keine Einbeziehung von Kinderzuschlägen oder familienbezogenen Zuschlägen in den Ausgleichsanspruch) ist nicht einschlägig, da es sich um Anwartschaften handelt. Hinzu kommt schließlich, dass es sich bei den Kindererziehungszeiten um eine Regelung des Familienlastenausgleiches handelt. Sie sind eine staatliche Hilfe und keine Eingriffsmaßnahme: Der Bund zahlt die Beiträge für Kindererziehungszeiten, § 177 Abs. 1 SGB VI. Bei der Leistungsgewährung steht dem Gesetzgeber auch im Hinblick auf Art. 3 GG ein größerer Gestaltungsfreiraum zu, als wenn Freiheitsgrundrechte tangiert wären (vgl. BVerfGE 89, 365, 376). Auch deshalb ist die pauschalierte Regelung nach dem Überwiegen der Erziehungszeit verfassungsgemäß, obwohl sie auf ein tradiertes Rollenverständnis (der Vater verdient das Geld, die Mutter erzieht die Kinder) abzielen mag.

Die Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 SGG entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache. Es entspricht der Billigkeit, dem Kläger auch die Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen. Das (hauptsächliche) Klagebegehren ist unmittelbar darauf gerichtet, die zu ihren Gunsten anerkannten Zeiten einzuschränken. Sie war zwangsläufig gehalten, ihre Rechte wahrnehmen zu lassen.

Die Revision ist nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen. Die Frage, ob eine der Entscheidung zugrunde liegende Gesetzesnorm verfassungswidrig ist, hat regelmäßig grundsätzliche Bedeutung (BVerfG, Beschluss vom 14.06.1994 – 1 BVR 1022/88 – BVerfGE 91, 93, 105 f.). Das BSG hat sich mit der Verfassungsmäßigkeit des § 56 Abs. 2 Satz 9 SGB VI unter dem Aspekt der Ungleichbehandlung des zu einem geringeren Teil erziehenden Elternteiles soweit ersichtlich bislang noch nicht ausdrücklich befasst.
Rechtskraft
Aus
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