L 9 EG 60/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
9
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 EG 125/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 9 EG 60/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 27. Februar 2003 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch auf Bayer. Landeserziehungsgeld.

Die 1971 geborene, in A. lebende Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Sie ist verheiratet und brachte 1991 das Kind E. zur Welt, das sie seither in ihrem Haushalt betreut und erzogen hat und für das sie das Personensorgerecht hatte. Sie übte daneben keine Erwerbstätigkeit aus und war AOK-familienversichert. Vom 20.09.1991 bis 19.03.1993 bezog die Klägerin Bundeserziehungsgeld. Einen Antrag auf Landeserziehungsgeld hat sie im Anschluss daran nicht gestellt.

Erstmals stellte sie einen solchen Antrag am 31.01.2002. Sie verwies auf das Urteil des EuGH vom 04.05.1999 Az.: C 262/96 zur unmittelbaren Anwendbarkeit des Gleichbehandlungsgebotes des Art. 3 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses 3/80 EWG/Türkei vom 19.09.1980. Das bedeute, dass auch sie als türkische Staatsangehörige einen Anspruch auf Familienleistungen und damit auf Landeserziehungsgeld habe. Das Amt für Versorgung und Familienförderung A. lehnte den Antrag mit Bescheid vom 17.06.2002 ab. Nach der vom EuGH im Urteil vom 04.05.1999 gesetzten Zeitgrenze könnten sich türkische Staatsangehörige nur für mögliche Leistungszeiträume ab dem 04.05.1999 auf die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 3 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses 3/80 berufen. Ein möglicher Anspruch auf Bayer. Landeserziehungsgeld für E. könne sich aber längstens bis zum 19.09.1993 erstrecken. Damit komme Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 des Bayer. Landeserziehungsgeldgesetzes seinerzeitiger Fassung zur Anwendung, der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates der EU oder eines Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum EWR einen Anspruch auf Bayer. Landeserziehungsgeld vorbehalte. Der Antrag müsse schon aus diesem Grund abgelehnt werden, ohne dass die Prüfung der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen erforderlich sei. Den Widerspruch der Klägerin vom 25.06.2002 wies das Bayer. Landesamt für Versorgung und Familienförderung mit Widerspruchsbescheid vom 30.07. 2002 zurück.

Dagegen hat die Klägerin, vertreten durch Rechtsanwalt E. aus A. , Klage zum Sozialgericht (SG) Augsburg erhoben mit dem Antrag, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 17.06.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.07.2002 zu verurteilen, der Klägerin Bayer. Landeserziehungsgeld für ihr 1991 geborenes Kind E. zu gewähren. Eine Klagebegründung wurde nicht nachgereicht. Das SG hat die Klage nach Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 27.02.2003 als unbegründet abgewiesen. Es hat gleichfalls primär auf die vom EuGH im Urteil vom 04.05.1999 mit dem Zeitpunkt des Erlasses des eigenen Urteils gesetzte Zeitgrenze für die Geltendmachung von Ansprüchen türkischer Staatsangehöriger auf Familienleistungen hingewiesen. Der EuGH habe sich aus zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit veranlasst gesehen, Rechtsverhältnisse, die vor Erlass seines Urteils abschließend geregelt gewesen seien, nicht in einer Situation wieder in Frage zu stellen, in der dies die Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedsstaaten rückwirkend erschüttern könne. Soweit der EuGH diejenigen von dieser Beschränkung ausgenommen habe, die zum Zeitpunkt des Erlasses seines Urteils gerichtliche Klage erhoben oder einen gleichwertigen Rechtsbehelf eingelegt hätten, falle der Fall der Klägerin nicht hierunter. Dies mache der mit Urteil des BSG vom 29.01.2002 Az.: B 10 EG 2/01 R entschiedene Fall S. P. deutlich, der, wenn auch ruhend gestellt, über lange Jahre hinweg gerichtlich anhängig geblieben sei.

Die Klägerin hat hiergegen durch ihren Prozessbevollmächtigten Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Ihr müsse das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 vom 19.09.1980 in gleicher Weise zugute kommen wie anderen türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen. Sie dürfe auch im Vergleich zu dem vom BSG im Urteil vom 29.01.2002 entschiedenen Fall S. P. nicht schlechter gestellt werden. Eine mögliche Erschütterung der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme tauge nicht zur Begründung der vorgenommenen Einschränkung.

Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Augsburg vom 27.02.2003 und des Bescheides des Beklagten vom 17.06.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.07.2002 dazu zu verurteilen, ihr für das Kind E. Bayer. Landeserziehungsgeld für den Zeitraum vom 20.03.1993 bis 19.09.1993 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die Gerichtsakten erster Instanz und die zum Antrag auf Landeserziehungsgeld für E. geführte Akte beigezogen. Der Beklagte hat hierzu mitgeteilt, dass die Akte über das Bundeserziehungsgeld im Jahr 2000 ausgesondert und vernichtet worden sei und hat einen EDV-Auszug übersandt, aus dem zu ersehen ist, dass die Klägerin vom 20.09.1991 bis 19.03.1993 Bundeserziehungsgeld für E. erhalten hat und dass ein Antrag auf Landeserziehungsgeld - vor dem jetzigen Verfahren - nicht gestellt wurde. Zur Ergänzung des Tatbestandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der gesamten Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft und form- wie fristgerecht eingelegt, jedoch unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Bayer. Landeserziehungsgeld für ihr 1991 geborenes Kind E. durch den Beklagten.

Gesetzliche Grundlage für einen solchen Anspruch der Klägerin für das 1991 geborene Kind E. ist das Bayer. Landeserziehungsgeldgesetz in der Fassung vom 12.06.1989 (GVBl S. 206, dazu s. Art. 9a Abs. 1a des Bayer. Landeserziehungsgeldgesetzes in der Fassung vom 16.11.1995, GVBl S. 818).

Nach dessen Art. 3 Abs. 1 hätte sich ein möglicher Anspruch auf Landeserziehungsgeld für E. von dem in § 4 Abs. 1 des Bundeserziehungsgeldgesetzes nach dessen Fassung vom 05.08.1989 (BGBl I S. 1551) mit der Vollendung des 18. Lebensmonats festgesetzten Ende des Bezugs von Bundeserziehungsgeld für nach dem 30.06.1990 geborene Kinder bis zur Vollendung von weiteren sechs Lebensmonaten, also auf den Zeitraum vom 20.03.1993 bis 19.09.1993 erstreckt. Die Klägerin hat die nach Art. 1 Abs. 1 Nrn. 1 bis 4 des Bayer. Landeserziehungsgeldgesetzes (BayLErzGG) erforderlichen Voraussetzungen für einen solchen Anspruch für E. zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt erfüllt, nicht aber die in Art. 1 Abs. 1 Nr. 5 festgelegte Voraussetzung der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaften.

Dieser Ausschlusstatbestand kann allerdings in Folge des Urteils des EuGH vom 04.05.1999 Az.: C 262/96 türkischen Staatsangehörigen aufgrund des - der Umsetzung in die nationale Gesetzgebung nicht bedürftigen - Assoziationsratsbeschlusses Nr. 3/80 EWG/Türkei vom 19.09.1980 türkischen Arbeitnehmern bzw. deren Familienangehörigen nicht entgegen gehalten werden. Der gemeinschaftsrechtliche Begriff der "Familienleistungen", die Gegenstand des Urteils des EuGH vom 04.05.1999 waren, umfasst das deutsche Erziehungsgeld (EuGH vom 10.10.1996 Az.: C 245/94 und C 312/94, BSG vom 10.07.1997 Az.: 14 REg 8/96) und damit auch das Bayer. Landeserziehungsgeld (BSG vom 29.01.2002 Az.: B 10 EG 2/01 R, für das Baden-Württembergische Landeserziehungsgeld BVerwG vom 06.12.2001 Az.: 3 C 25/01).

Damit kommt aber auch die zeitliche Grenze, die der EuGH im Urteil vom 04.05.1999 der Geltendmachung von "Familienleistungen" seitens türkischer Staatsangehöriger unter unmittelbarer Berufung auf den Assoziationsratsbeschluss 3/80 EWG/Türkei im Hinblick auf die bisher dem nicht entsprechende, durch die Rechtsprechung des EuGH mit beförderte ("Taflan Met"-Urteil vom 10.09.1996) Rechtspraxis mit dem Zeitpunkt des Erlasses des eigenen Urteils vom 04.05.1999 gesetzt hat, zur Anwendung.

Ein möglicher Anspruch auf Bayer. Landeserziehungsgeld für E. würde sich auf den Zeitraum vom 20.03.1993 bis 19.09.1993 erstrecken, läge also zweifelsfrei jenseits dieser Grenze. Die Ausnahme, die der EuGH für derart zeitlich situierte Ansprüche türkischer Staatsangehöriger auf gemeinschaftsrechtliche Familienleistungen insoweit vorsieht, als er nicht in zum Zeitpunkt des Erlasses seines Urteils in Gang befindliche und noch nicht rechtskräftig bzw. bestandskräftig abgeschlossene Gerichtsverfahren bzw. dem vorgeschaltete Verfahren eingreifen will, trifft auf den Fall der Klägerin - anders als im Fall "S. P." - nicht zu.

Die von der Klägerin beanstandeten, von ihr nicht erfüllten Voraussetzungen einer rückwirkenden Anwendung des Gleichbehandlungsgebotes entsprechen im übrigen im nationalen Recht dem in § 79 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) festgelegten Rechtsgedanken. Darin werden die Folgen geregelt, die eintreten, wenn eine Norm für verfassungswidrig erklärt wird. Der Gesetzgeber hat sich darin - vergleichbar dem EuGH in der Entscheidung vom 04.05.1999 - in dem Konflikt zwischen den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Einzelfallgerechtigkeit und der Rechtssicherheit mit bestimmten Ausnahmen für den letzteren Grundsatz entschieden. Akte der öffentlichen Gewalt, deren Rechtsgrundlage mit der Verfassung nicht vereinbar war, bleiben danach prinzipiell unangetastet. Dies beruht letztendlich auf der Einsicht, dass der Rechtsgemeinschaft nicht gedient ist, wenn deren Mittel und Kapazitäten von der Bearbeitung abgeschlossener oder nie in Gang gesetzte Rechtsfälle aus der Vergangenheit beansprucht würden. Was insbesondere die finanziellen Auswirkungen einer unbegrenzten Rückwirkung seiner nunmehr dem Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 EWG/Türkei gegebenen Auslegung betrifft, so hatte der EuGH in seiner Abwägung sämtliche unter den gemeinschaftlichen Begriff der "Familienleistungen" fallenden sozialen Leistungen im Rahmen einer lange Jahre hinweg geübten Rechtspraxis der Mitgliedsstaaten einzubeziehen (vgl. auch Urteil des Senats vom 24.07.2003 Az.: L 9 EG 16/03).

Bei dem Personenkreis, der - wie die Klägerin - bereits die im nationalen Recht ohnehin gesetzte Antragsfrist versäumt hat, wirkt sich die vom EuGH gesetzte Zeitgrenze in spezifischer Weise aus. Nach Art. 2 des BayLerzGG seinerzeitigen Fassung wurde das Landeserziehungsgeld auf schriftlichen Antrag rückwirkend höchstens für zwei Lebensmonate vor Antragstellung gewährt. Ein Antrag auf Bayer. Landeserziehungsgeld für E. hätte demnach spätestens am 19.11.1993 gestellt sein müssen. Wenn die Klägerin vorträgt, dass sie sich aufgrund der Versicherung der Behörden, dass sie als türkische Staatsangehörige keinen Anspruch auf Bayer. Landeserziehungsgeld habe, von einer rechtzeitigen Antragstellung habe abhalten lassen, so ist dies zwar im Hinblick auf die über lange Jahre von der Versorgungsverwaltung, insbesondere auch in deren Informationsbroschüren zum Ausdruck kommende Verwaltungspraxis ohne weiteres glaubhaft, kann jedoch weder einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch noch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X begründen. Eine derartige Wirkung soll der mit Urteil des EuGH vom 04.05.1999 gefundenen Erkenntnis über die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 nach langen Jahren gegenteiliger Praxis der Mitgliedsstaaten ausdrücklich gerade nicht beikommen, wie aus den letzten Absätzen des Urteils eindeutig zu entnehmen ist. Dem entsprechend misst das BSG im Urteil vom 18.02.2004 Az.: B 10 EG 10/05 R, welches sich ausführlich mit der Plausibilität der vom EuGH gesetzten Zeitgrenze befasst den Passagen im Urteil des EuGH, wonach die unmittelbare Wirkung des Art. 3 Abs. 1 ARB grundsätzlich nicht zur Begründung von Ansprüchen auf Leistungen für Zeiten vor dem Erlass des Urteils vom 04.05.1999 herangezogen werden kann, ausdrücklich eine umfassende, d.h. nicht bloß materiell-rechtliche, sondern ggf. auch verfahrensrechtliche Auswirkung zu (SozR 4-6940 Art. 3/eWG AssRBes 3/80 Nr. 1 Rz. 20).

Dieser Rechtsprechung des BSG, die durch ein weiteres Urteil vom 27.05.2004 Az.: B 10 EG 11/03 R bestätigt worden ist, folgt auch der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung (s. z.B. Urteil vom 21.09.2006 Az.: L 9 EG 3/06).

Die Berufung der Klägerin war danach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Ein Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, bestand nicht. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und das Urteil weicht nicht von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts ab oder beruht auf dieser Abweichung.
Rechtskraft
Aus
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