L 6 SB 5824/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 7 SB 2719/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 5824/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 17. November 2004 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 im Sinne des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) streitig.

Die 1945 geborene Klägerin beantragte im Oktober 2002 die Feststellung ihres GdB für die Zeit ab 01. November 2000 und gab als Gesundheitsstörungen starke Depressionen, Bronchialasthma, sehr starke Lendenwirbelschmerzen, Nahrungsmittelallergien, sehr starke Glieder- und Gelenkschmerzen, Migräneanfälle mit Sehstörungen und Erbrechen, Schlafstörungen, Pollenallergien im Frühjahr, sehr starken Juckreiz und "Pusteln" am ganzen Körper, zu niedrigen Blutdruck, sehr starke Blasenschwäche sowie immer wiederkehrenden starken Durchfall und Darmkrämpfe an. Die Beklagte holte bei dem behandelnden Praktischen Arzt B. den Befundbericht vom 22. November 2002 ein und zog den Entlassungsbericht der H. - Reha-Klinik vom 20. August 2002 bei, wo die Klägerin vom 02. bis 23. Juli 2002 stationär behandelt worden war. In seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 18. Februar 2003 berücksichtigte Dr. G. als Behinderungen "seelische Störung, funktionelle Störung des Dickdarms (Colon irritabile)" und "Bronchialasthma, Allergie" mit einem Teil-GdB von jeweils 20 sowie "degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, chronisches Schmerzsyndrom", "Bluthochdruck" und "Harninkontinenz" mit einem Teil-GdB von jeweils 10 und gelangte zu einem Gesamt-GdB von 30. In seinen weiteren Ausführungen verwies er auf die stark diskrepanten Befunde aus dem Bericht des Hausarztes einerseits ("alles sehr schlimm") und dem Entlassungsbericht der H. - Reha-Klinik andererseits, in dem wenig bis gar kein pathologischer Befund beschrieben worden sei. Mit Bescheid vom 28. Februar 2003 stellte der Beklagte gestützt auf diese Stellungnahme bei der Klägerin einen GdB von 30 ab 01. Juli 2002 fest. Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, an den angegebenen Beschwerden leide sie schon seit vielen Jahren, weshalb ihre Erkrankungen bereits ab 01. November 2000 und nicht erst ab 01. Juli 2002 festzustellen seien. Zudem seien nicht sämtliche Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt und der GdB in zu geringer Höhe festgestellt worden. Am schlimmsten beeinträchtigt sei sie durch die Migräneanfälle und die Gelenk- und Gliederschmerzen. Gravierend beruflich behindert sei sie aber auch durch aus heiterem Himmel auftretende Asthmaanfälle, die Depressionen sowie durch Durchfälle und Darmkrämpfe, weshalb sie manchmal 20-mal täglich die Toilette aufsuchen müsse. Der Beklagte holte den weiteren Befundbericht des Praktischen Arztes B. vom 03. April 2003 ein und veranlasste die versorgungsärztliche Stellungnahme der Dr. L., die unter dem 07. Mai 2003 wiederum auf die deutliche Diskrepanz zwischen den hausärztlichen Bescheinigungen, die im wesentlichen nur Diagnosen enthielten, und dem ausführlichen Entlassungsbericht mit klinischen Befunden hinsichtlich der inneren Organe, der Wirbelsäule und Gelenke sowie der psychischen Situation hinwies. Sie schloss sich der bisherigen Beurteilung an und legte dar, dass sowohl die Migräne als auch die Gelenkschmerzen berücksichtigt worden seien. Mit Widerspruchsbescheid vom 27. August 2003 wurde der Widerspruch unter Feststellung eines GdB von 20 für die Zeit vom 01. November 2000 bis 30. Juni 2002 im Wesentlichen zurückgewiesen.

Hiergegen erhob die Klägerin am 25. September 2003 beim Sozialgericht Mannheim (SG) Klage, mit der sie im Wesentlichen geltend machte, der Beklagte habe die Ausführungen des sie seit Jahren behandelnden Arztes B. im Wesentlichen unberücksichtigt gelassen und sich auf den Entlassungsbericht der H.-Reha-Klinik vom 20. August 2002 gestützt, der jedoch Feststellungen treffe, ohne sie diesbezüglich spezifisch untersucht zu haben. Seinerzeit habe sie sich im Übrigen in einer körperlich und psychisch entspannten Situation befunden; zudem sei sie vorwiegend unter gastroenterologischen Gesichtspunkten behandelt worden, weshalb auch nicht sämtliche Erkrankungen, insbesondere nicht jene von psychiatrischer Seite, thematisiert worden seien. Hauptgrund für die Beendigung ihres letzten Arbeitsverhältnisses sei aber ihr kritischer psychischer Zustand gewesen, ferner ihre schwere Migräne, die chronische Atemnot sowie das chronische Darmleiden. Dies ergebe sich aus der vorgelegten Bescheinigung des früheren Arbeitgebers vom 14. Oktober 2003. Auch von dem zwischenzeitlich erkannten alten Beckenbruch gingen erhebliche Auswirkungen in Form von chronischen Schmerzen aus. Der Beklagte trat der Klage unter Vorlage seiner Verwaltungsakten und unter Aufrechterhaltung seines bisherigen Standpunktes entgegen. Das SG hörte den Praktischen Arzt B. unter dem 19. Januar 2004 sowie den Facharzt für Orthopädie Dr. B. unter dem 12. und 26. Oktober 2004 schriftlich als sachverständige Zeugen und erhob das Gutachten des Dr. B., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, vom 02. April 2004, der eine eigenständige depressive oder Antriebsstörung nicht feststellte, sowie auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) das Gutachten des Dr. E., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, vom 07. Juli 2004, der zum Untersuchungszeitpunkt weder klinisch-neurologische noch psychiatrische akute Störungen festzustellen vermochte und die periodisch auftretenden reaktiv-depressiven Störungen mit psychovegetativen/psychosomatischen Beschwerden mit einem Teil-GdB von 20 bewertete und den Gesamt-GdB mit 30 einschätzte. Mit Urteil vom 17. November 2004 wies das SG die Klage im Wesentlichen mit der Begründung ab, die Behinderungen der Klägerin rechtfertigten keinen GdB von mehr als 30. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den Inhalt des den Bevollmächtigten der Klägerin am 17. Dezember 2004 gegen Empfangsbekenntnis zugestellten Urteils verwiesen.

Dagegen hat sich die Klägerin mit ihrer am 27. Dezember 2004 schriftlich beim Landessozialgericht (LSG) eingelegten Berufung gewandt, mit der sie weiterhin geltend macht, ihre Beschwerden seien nicht hinreichend bewertet worden. So trage insbesondere der Teil-GdB von 20 der Schwere ihrer psychischen Erkrankung nicht Rechnung. In den Gutachten würden die noch gelingenden Lebensanteile überproportional gewichtet dargestellt. Tatsächlich könne sie sich aber nur kurzfristig aktivieren; hierauf folgten wieder lange depressive Schübe. Bei den Darmbeschwerden handle es sich im Übrigen um eine eigenständige Funktionseinschränkung, die nicht im Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung zu bewerten sei. Sie müsse tageweise vermehrt den Darm entleeren, was bis zu achtmal täglich der Fall sein könne. Sie habe keine muskuläre Möglichkeit, den Stuhl dann zu halten, weshalb ihr Aktionsradius außerordentlich eingeschränkt sei. Ob es sich um eine Darminkontinenz oder um echte Durchfälle handle, sei noch ungeklärt. In diesen Phasen kämen regelmäßig Darmkrämpfe hinzu. Diese Beschwerden seien mit einem Teil-GdB von 30 zu bewerten. Nicht ausreichend bewertet sei im Übrigen die Blaseninkontinenz, die ebenfalls mit einem Teil-GdB von 30 zu bewerten sei. Sie sei tagsüber und nachts betroffen und müsse mehrmals täglich die Vorlagen wechseln. Auch die orthopädischen Beschwerden seien nicht ausreichend bewertet; diese rechtfertigten ebenfalls einen Teil-GdB von 30. Zwar sei als Folge des erlittenen Beckenbruchs die Hüfte in ihrer Beweglichkeit nicht betroffen, jedoch leide sie unter täglichen Schmerzen, die bisher allein der Wirbelsäule zugeschrieben worden seien. Insgesamt sei daher die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft gerechtfertigt. Sie hat den Arztbrief der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie S. vom 30. Mai 2005 vorgelegt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 17. November 2004 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 28. Februar 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. August 2003 zu verurteilen, ab 01. November 2000 den GdB mit 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für richtig und die Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin zutreffend beurteilt. Er hat die versorgungsärztlichen Stellungnahmen vom 18. August 2005 und 04. Oktober 2006 vorgelegt.

Der frühere Berichterstatter des Verfahrens hat das für die Betriebskrankenkasse der Papierfabrik Sch. erstattete sozialmedizinische Gutachten des Dr. F. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg vom 31. März 2005 beigezogen und den Dipl. Psychologen H. unter dem 18. Januar 2006 sowie den Praktischen Arzt B. unter dem 28. Juli 2006 schriftlich als sachverständige Zeugen gehört.

Mit Schreiben vom 17. November 2006 wurden die Beteiligten darauf hingewiesen, dass der Senat erwäge, gemäß § 153 Abs. 4 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden. Die Klägerin hat sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt. Der Beklagte hat sich hierzu nicht geäußert.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Akten beider Rechtszüge Bezug genommen.

II.

Die gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat nach Anhörung der Beteiligten im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens gemäß § 153 Abs. 4 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden hat, ist statthaft und zulässig; sie ist jedoch nicht begründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der Bescheid der Beklagten vom 28. Februar 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. August 2003 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Behinderungen der Klägerin rechtfertigen es weder rückwirkend ab 01. November 2000 die Schwerbehinderteneigenschaft festzustellen, noch rechtfertigen diese die Feststellung eines höheren GdB.

Das SG hat die rechtlichen Grundlagen des geltend gemachten Anspruchs dargelegt und ist unter zutreffender Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme in nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass die bei der Klägerin vorliegenden Funktionseinschränkungen in dem streitigen Zeitraum ab 01. November 2000 kein Ausmaß erreichen, wie es für die Feststellung eines GdB von 50 und damit der Schwerbehinderteneigenschaft erforderlich wäre. Der Senat schließt sich dieser Einschätzung des SG nach eingehender Prüfung der vorliegenden medizinischen Unterlagen an und verweist zur Begründung, um Wiederholungen zu vermeiden, gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die entsprechenden Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung. Der Senat teilt insbesondere die Einschätzung des SG, wonach die von der Beklagten als "seelische Störungen, funktionelle Störungen des Dickdarms (Colon irritable)" bezeichnete Behinderung mit einem Teil-GdB von 20 ausreichend bewertet ist. Im Sinne der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht, Stand 2004 (AHP), ist bei der Klägerin keine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit festzustellen. Dies machen die Schilderungen der Klägerin zu ihrer Alltags- und Freizeitgestaltung anlässlich der gutachtlichen Untersuchung bei dem Sachverständigen Dr. B. hinreichend deutlich. Danach erledigt sie ihren Haushalt selbstständig, pflegt einen guten Kontakt mit den Enkelkindern, mit denen sie verschiedene Aktivitäten unternimmt, spielt mit einer festen Gruppe regelmäßig Bowling, macht im Freundeskreis regelmäßige Wanderungen, geht regelmäßig in die Sauna, täglich zum "Walken" und besucht ferner einen Italienischkurs in der Volkshochschule. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt auch der Umstand, dass bei der Klägerin phasenweise depressive Verstimmungszustände auftreten, die zu psychovegetativen bzw. psychosomatischen Beschwerden führen, wie beispielsweise zu Störungen der Darmfunktion, keinen höheren Teil-GdB als 20. Insbesondere erreichen diese nicht dauerhaft vorliegenden Darmfunktionsstörungen auch kein Ausmaß, das eine eigenständige Bewertung mit einem Teil-GdB von 30 rechtfertigen würde. Die von dem Praktischen Arzt B. im Rahmen seiner dem SG erteilten Auskunft als sachverständiger Zeuge insoweit getroffene Einschätzung, wonach sowohl die seelische Störung als auch die Störung des Dickdarms bereits allein mit einem Teil-GdB von 60 bewertet werden müsse, entbehrt jeglicher Grundlage und ist auch nicht ansatzweise mit den AHP in Einklang zu bringen. Nicht zuletzt hat gerade auch der Arzt des Vertrauens der Klägerin Dr. E. in seinem gemäß § 109 SGG erstatteten nervenärztlichen Gutachten die Einschätzung des Beklagten geteilt, wonach der in Rede stehende Beschwerdekomplex mit einem Teil-GdB von 20 angemessen bewertet sei. Letztlich rechtfertigen auch die weiteren Ermittlungen im Berufungsverfahren keine abweichende Beurteilung. Denn weder die in dem Arztbrief der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie S. vom 30. Mai 2005 beschriebenen Konfliktsituationen mit den daraus resultierenden Spannungen rechtfertigen im Sinne der AHP die Annahme "stärker behindernde Störungen", noch die Auskunft des Dipl.-Psychologen H. vom 18. Januar 2006 im Rahmen seiner Auskunft als sachverständiger Zeuge, der eine weitgehend ungestörte Kontaktfähigkeit, Vitalität und affektive Schwingungsfähigkeit und lediglich eine leichte Einschränkung der sozialen Anpassungsfähigkeit beschrieben hat.

Auch die Beeinträchtigungen der Klägerin von orthopädischer Seite rechtfertigen keine Höherbewertung des insoweit zugrunde gelegten Teil-GdB. Soweit Dr. B. sich im Rahmen seiner Auskunft als sachverständiger Zeuge gegenüber dem SG, auf die sich die Klägerin beruft, dahingehend geäußert hat, dass die Beschwerden von Seiten der Lendenwirbelsäule bzw. der früheren Beckenfraktur mit einem Teil-GdB von 30 zu bewerten seien, lässt sich dies nicht in Einklang bringen mit den AHP, die eine derartige Bewertung erst bei schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt bzw. bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten zulassen.

Der Senat sieht auch keine Gründe, die es gebieten würden, die Harninkontinenz statt mit einem Teil-GdB von 10 mit einem solchen von 30 zu bewerten. Der Senat sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin hierdurch höhergradig beeinträchtigt ist als vom Beklagten zugrunde gelegt. Denn schließlich hat die Klägerin diese Störung anlässlich ihrer stationären Rehabilitationsmaßnahme nicht einmal erwähnt und damit selbst nicht für hinreichend beachtenswert erachtet und auch der behandelnde Praktische Arzt B. hat bisher keine Veranlassung gesehen, die Klägerin einer fachurologischen Untersuchung bzw. Behandlung zuzuführen.

Da der Beklagte die bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen somit jeweils für sich betrachtet zutreffend bewertet hat und auch der hieraus gebildete Gesamt-GdB von 30 der Gesamtbeeinträchtigung angemessen Rechnung trägt, sind weder die angefochtenen Bescheide des Beklagten, noch das Urteil des SG zu beanstanden. Demnach konnte auch die Berufung der Klägerin keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Für eine Zulassung der Revision bestand keine Veranlassung.
Rechtskraft
Aus
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