L 1 SF 116/07

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
1
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 SF 116/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Ein Ablehnungsgesuch bleibt im sozialgerichtlichen Verfahren ausnahmsweise auch dann zulässig, wenn der abgelehnte Richter unter Verstoß gegen die mit der Anbringung des Ablehnungsgesuchs ausgelöste Wartepflicht eine Endentscheidung getroffen hat, dieser Verstoß zur Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht führen kann und für die diesbezügliche Entscheidung des Landessozialgerichts die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch vorgreiflich ist (Fortentwicklung vom LSG Berlin, Beschluss vom 2. Februar 2005 - L 1 A 32/04 -).
Das Gesuch des Klägers, den Richter am AW wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, ist begründet.

Gründe:

Das Ablehnungsgesuch ist zulässig und begründet.

Der Senat hat sich bereits in seinem Beschluss vom 02. Februar 2005 - L 1 A 32/04 - (damals noch als 1. Senat des Landessozialgerichts Berlin) eingehend mit der Frage der Zulässigkeit eines Ablehnungsgesuchs in Fällen vorliegender Art auseinandergesetzt. Er hat darin ausgeführt:

"Zwar ist ein Ablehnungsgesuch nach § 60 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i. V. m. § 42 Abs. 1 und 2 Zivilprozessordnung (ZPO) im Grundsatz unzulässig, wenn eine instanzbeendende Entscheidung in der Hauptsache ergangen ist. Sinn der Ablehnung ist es, einen Richter von der künftigen Ausübung des Richteramtes im Einzelfall auszuschließen. Dieser Zweck kann nicht mehr erreicht werden, wenn über den vollständigen Klageanspruch bereits durch Urteil entschieden ist. Ein Ablehnungsgesuch gegen einen Richter, der an diesem Urteil mitgewirkt hat, geht dann ins Leere.

An dieser Konsequenz ändert § 47 Abs. 2 ZPO in der seit dem 01.09.2004 geltenden Fassung nichts. Insbesondere lässt das Gesetz nicht zu, dass der abgelehnte Richter auch an Entscheidungen im Anschluss an die mündliche Verhandlung mitwirken darf, deren Wirksamkeit dann davon abhängt, ob die Ablehnung im Nachhinein für begründet erklärt wird. Der zur Entscheidung über das Ablehnungsgesuch berufene Spruchkörper ist auch in Ansehung dieser Vorschrift nicht befugt, verkündete Urteile in Durchbrechung ihrer Bindungswirkung (vgl. § 318 ZPO) aufzuheben. Schon nach seinem Wortlaut erlaubt § 47 Abs. 2 Satz 1 ZPO nur die Mitwirkung an der Verhandlung, nicht auch der anschließenden Entscheidung. Satz 2 der Regelung lässt ferner nicht erkennen, dass es im Falle des begründeten Befangenheitsgesuchs möglich sein soll, die Wirkungen der Verkündung einer Entscheidung, die nicht mehr Teil der mündlichen Verhandlung ist, sondern sich an diese anschließt (vgl. §§ 121, 124, 132 SGG), rückgängig zu machen. Eine andere Auslegung ergibt sich weder aus Sinn und Zweck der Norm noch aus ihrer Entstehungsgeschichte. Das Recht auf den gesetzlichen Richter verlangt, dass im Verfahrensrecht Vorsorge dafür getroffen werden muss, dass im Einzelfall ein Richter, der nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet, von der Ausübung seines Amtes ausgeschlossen ist oder abgelehnt werden kann (BVerfGE 21, 139, 145f). Zur sinnvollen Geltendmachung des Ablehnungsrechts gehört dabei, dass vor der instanzbeendenden Entscheidung feststeht, ob das Gesuch begründet ist. Dies ist Hintergrund der in § 47 Abs. 1 ZPO normierten Wartepflicht des Richters. Vor allem auch für den Fall, dass das Gesuch nicht begründet ist, müssen die Beteiligten noch die Möglichkeit haben, ihr Verhalten auf die veränderte Prozesslage einzustellen (für die Ablehnung von Sachverständigen BSG SozR 3-1500 § 170 Nr. 5). Nur für die Entscheidung über einen rechtsmissbräuchlich, also etwa in beleidigender Absicht oder zur Verschleppung gestellten Befangenheitsantrag, der offensichtlich unzulässig ist, gilt anderes. Hier bedarf es weder einer dienstlichen Äußerung des abgelehnten Richters nach § 44 Abs. 3 ZPO, noch ist der abgelehnte Richter nach § 45 Abs. 1 ZPO von der Mitwirkung bei der Entscheidung über den Antrag ausgeschlossen. Die Wartepflicht des § 47 Abs. 1 ZPO gilt nicht (vgl. Zöller/Vollkommer ZPO, 25. Auflage, § 45 Rdnr. 4 m.w.N. aus der Rechtsprechung). Zwar nennt die Gesetzesbegründung zu § 47 Abs. 2 ZPO (BT-Drucks. 15/1508 S. 16) als Beispielsfall missbräuchlich gestellte Ablehnungsgesuche, bei denen eine Verzögerung vermieden werden soll. Die Vorschrift ist aber vom Wortlaut her nicht auf rechtsmissbräuchliche und deshalb schon unzulässige Gesuche beschränkt; ihren Hauptanwendungsbereich wird sie vor allem bei vom Standpunkt des Gerichts aus offensichtlich unbegründeten, nicht aber schon rechtsmissbräuchlich in Verschleppungsabsicht gestellten Gesuchen haben. Vor diesem Hintergrund verfolgt § 47 Abs. 2 ZPO eine Beschleunigung des Verfahrens nur dahin, dass der Termin - insbesondere wenn eine Beweisaufnahme stattfinden soll - fortgeführt werden kann. Erweist sich das Gesuch als unbegründet, braucht die Verhandlung nicht wiederholt zu werden. Dieses Ergebnis wird schließlich durch die Bezugnahme auf § 29 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) in den Gesetzesmaterialien bestätigt, wonach die Mitwirkung des abgelehnten Richters an Endentscheidungen ausgeschlossen ist, da über die Ablehnung stets vor Beginn der Schlussvorträge zu entscheiden ist.

In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob und in welchen Fällen gleichwohl ein geltend gemachter Ablehnungsgrund durch eine instanzbeendende Endentscheidung ausnahmsweise prozessual nicht überholt wird (vgl. zum Streitstand nur Zöller/Vollkommer 25. Aufl. § 46 ZPO Rdnr. 18 a und 18 b m. w. N.). Der Senat ist der Auffassung, dass ein Ablehnungsgesuch ausnahmsweise dann zulässig bleibt, wenn mit dem Verstoß gegen die mit der Anbringung des Ablehnungsgesuchs ausgelösten Wartepflicht ein Verfahrensfehler vorgetragen wird, der noch mit einem Rechtsmittel geltend gemacht werden könnte. Hat ein abgelehnter Richter nämlich entgegen § 47 ZPO am Urteil mitgewirkt, wird dieser Verfahrensfehler durch einen Beschluss über die Verwerfung des Ablehnungsgesuchs geheilt (BSG SozR 3-1500 § 160 a Nr. 29). Andererseits geht das Gesetz - wie auch die Formulierung des absoluten Revisionsgrundes in § 547 Nr. 3 ZPO zeigt - davon aus, dass nur ein für begründet erklärtes Ablehnungsgesuch diese Verfahrensrüge eröffnet. Das Fehlen einer Entscheidung über die Ablehnung nimmt dem Betroffenen also die Rüge dieses Verfahrensmangels (Albers in Baumbach/Lauterbach ZPO § 547 Rdnr. 10 m. w. N. auch für die Gegenmeinung); die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch bindet in der Rechtsmittelinstanz. Diese Gesichtspunkte sprechen allesamt dafür, das Ablehnungsgesuch auch nach instanzbeendender Endentscheidung weiterhin für zulässig zu halten, wenn ein Verstoß gegen die Wartepflicht, der noch Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsmittelverfahrens haben kann, zumindest schlüssig vorgetragen wird."

Der Senat hält an diesen Ausführungen grundsätzlich fest, geht im Hinblick auf die Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens einerseits und des vorliegenden Falles andererseits allerdings noch einen Schritt weiter. Hier ist - einerseits - den vorliegenden Akten nicht zu entnehmen, dass der Kläger den Verstoß gegen die Wartepflicht, der noch Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsmittelverfahrens haben kann, (schlüssig) vorgetragen hat. Andererseits kann nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung von Amts wegen aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet, ohne dass es eines entsprechenden Antrages bzw. einer Geltendmachung seitens des Klägers bedarf. Da der Kläger im vorliegenden Fall die - zulässige - Berufung eingelegt hat, kann demnach ein für begründet erklärtes Ablehnungsgesuch wegen Mitwirkung des abgelehnten Richters am Urteil entgegen § 47 ZPO und damit wegen Verstoßes gegen die Wartepflicht zur Zurückverweisung der Sache an das SG führen, ohne dass der Kläger den Verfahrensmangel geltend gemacht hat.

Das nach alledem zulässige Ablehnungsgesuch ist auch begründet. Gemäß § 60 SGG i. V. m. § 42 Abs. 1 und 2 ZPO findet die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dies ist der Fall, wenn ein am Verfahren Beteiligter von seinem Standpunkt aus bei objektiver und vernünftiger Betrachtung davon ausgehen darf, dass der Richter nicht unvoreingenommen entscheiden werde. Ein solcher Grund liegt hier vor.

Dabei kann dahinstehen, ob die vorgetragenen Ablehnungsgründe das Ablehnungsgesuch für sich allein gerechtfertigt hätten. Jedenfalls besteht kein Anhalt für einen offensichtlichen Rechtsmissbrauch. Nach seiner dienstlichen Äußerung ist auch der abgelehnte Richter nicht vom Vorliegen eines Missbrauchstatbestands ausgegangen. Vielmehr hat er lediglich seine Auffassung zum Ausdruck gebracht, dass das zur Begründung des Ablehnungsgesuchs Vorgebrachte "nicht zur Besorgnis der Befangenheit führen (könne)". Wenn der Richter angesichts dessen - ohne eine Entscheidung über das Ablehnungsgesuch abzuwarten - gleichwohl "durchentschieden" hat, muss dies aus Sicht des Klägers den Eindruck erwecken, er nehme das Ablehnungsgesuch nicht ernst und es gehe ihm deshalb nicht um die inhaltliche Überprüfung des Ablehnungsgesuchs in dem dafür bestimmten Verfahren, sondern allein um die schnelle Erledigung des Prozesses. Jedenfalls dies berechtigt den Kläger, an der Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters zu zweifeln (vgl. entsprechend OLG Köln, Beschluss vom 29. Januar 1999 - 8 W 1/99 - NJW - RR 2000, 591).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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