S 19 SO 14/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
19
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 19 SO 14/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 b SO 14/06
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 06.09.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.12.2005 verurteilt, der Klägerin unter entsprechender Rücknahme der Bewilligungsbescheide vom 02.01.2003, 24.03.2003, 08.07.2003, 20.11.2003, 18.02.2004, 24.03.2004, 26.04.2004, 24.08.2004, 23.09.2004, 25.11.2004, 28.12.2004, 22.02.2005 und 02.03.2005 für die Zeit vom 01.01.2003 bis zum 31.05.2005 weitere Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung in Höhe von 4.466,00 EUR zu zahlen. Der Beklagte hat die Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Nachzahlung von Leistungen zur Grundsicherung nach dem Grundsicherungsgesetz (GSiG) und dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XII) für die Zeit vom 01.01.2003 bis zum 31.05.2005.

Die am 00.00.1978 geborene Klägerin ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100 und dauerhaft erwerbsgemindert. Die Klägerin wohnt bei ihren Eltern. Ihre Mutter ist zu ihrer Betreuerin bestellt. Die Klägerin bezieht seit dem 01.01.2003 Leistungen zur Grundsicherung bei Erwerbsminderung. Dabei rechnete der Beklagte in der Zeit vom 01.01.2003 bis zum 31.05.2005 das Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR, welches die Eltern der Klägerin erhielten, als Einkommen der Klägerin an. Die entsprechenden Bescheide vom 02.01.2003, 24.03.2003, 08.07.2003, 20.11.2003, 18.02.2004, 24.03.2004, 26.04.2004, 24.08.2004, 23.09.2004, 25.11.2004, 28.12.2004, 22.02.2005 und 02.03.2005 wurden bestandskräftig. Mit Bescheid vom 11.05.2005 hob der Beklagte seinen bisherigen Bewilligungsbescheid auf und berechnete die Leistungen ab dem 06.05.2005 neu. Auch in diesem Bescheid berücksichtigte er das an die Eltern gezahlte Kindergeld als Einkommen der Klägerin.

Zur Begründung ihres hiergegen mit Schreiben vom 03.06.2005 eingelegten Widerspruches trug die Klägerin vor, dass nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28.04.2005 (Az.: 5 C 28.04) Kindergeld grundsätzlich Einkommen desjenigen sei, dem es tatsächlich zufließe. Dies sei regelmäßig, und auch hier, der kindergeldberechtigte Elternteil. Die Klägerin bat auch um Überprüfung der Anrechnung des Kindergeldes für die Vergangenheit.

Am 06.09.2005 erließ der Beklagte einen neuen Bescheid, in dem er ab dem Monat Juni 2005 das gezahlte Kindergeld nicht mehr als Einkommen der Klägerin berücksichtigte. Ebenfalls mit Bescheid vom 06.09.2005 lehnte der Beklagte eine Rücknahme der Bewilligungsbescheide für den Zeitraum vom 01.01.2003 bis zum 31.05.2005, und eine Nachzahlung des angerechneten Kindergeldanteiles ab. Zur Begründung verwies er darauf, dass § 44 nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes im Sozialhilferecht und auch im Bereich des Grundsicherungsgesetzes bzw. ab dem 01.01.2005 des Vierten Kapitels des SGB XII keine Anwendung finde. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 28.12.2005 zurück. Zur Begründung verwies er erneut darauf, dass § 44 auch im Grundsicherungsrecht keine Anwendung findet.

Hiergegen richtet sich die am 24.01.2006 erhobene Klage. Die Klägerin trägt vor, dass nach einer jüngeren Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes § 44 SGB X im Rahmen der Grundsicherung anwendbar sei. Hierfür spreche, dass es sich bei der Grundsicherung um eine auf Dauer angelegte Sozialleistung handele. Die Gesichtspunkte, die nach Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichtes im Bereich der einfachen Sozialhilfe dazu führten, dass § 44 SGB X keine Anwendung finde, könnten im Bereich der Grundsicherung nicht gelten.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 06.09.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.12.2005 zu verurteilen, der Klägerin unter entsprechender Rücknahme der Bewilligungsbescheide vom 02.01.2003, 24.03.2003, 08.07.2003, 20.11.2003, 18.02.2004, 24.03.2004, 26.04.2004, 24.08.2004, 23.09.2004, 25.11.2004, 28.12.2004, 22.02.2005 und 02.03.2005 für die Zeit vom 01.01.2003 bis zum 31.05.2005 weitere Leistungen der Grund-sicherung bei Erwerbsminderung in Höhe von 154,00 EUR monatlich zu zahlen.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Er wiederholt sein bisheriges Vorbringen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die der Kammer vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und beschweren die Klägerin im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Beklagte hat zu Unrecht in der Zeit vom 01.01.2003 bis zum 31.05.2005 das an die Mutter der Klägerin gezahlte Kindergeld als Einkommen der Klägerin angerechnet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Nachzahlung der ihr deswegen zu Unrecht nicht gezahlten Leistungen zur Grundsicherung bei Erwerbsminderung in Höhe von monatlich 154,00 EUR.

Der Anspruch ergibt sich aus § 44 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 4 Satz 1 SGB X. § 44 SGB X ist nicht nur für die Zeit ab dem 01.01.2005 anwendbar, sondern auch für die Zeit in der die Leistungen der Grundsicherung nach dem Grundsicherungsgesetz erbracht wurden (01.01.2003 - 31.12.2004). Dem steht steht § 1 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 SGB X nicht entgegen. Danach gelten für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden der Länder, der Gemeinden und Gemeindeverbände zur Ausführung von besonderen Teilen dieses Gesetzbuches, die nach Inkrafttreten der Vorschriften dieses Kapitels Bestandteil des Sozialgesetzbuches werden, die Vorschriften des SGB X nur, soweit diese besonderen Teile mit Zustimmung des Bundesrates die Vorschriften dieses Kapitels für anwendbar erklären. Eine entsprechende Bestimmung enthält das Grundsicherungsgesetz zwar nicht. Jedoch ist eine solche Regelung auch nicht erforderlich, weil es einer solchen nicht bedurfte. Das Sozialgericht Aachen hat dazu in seinem Urteil vom 06.07.2006 ausgeführt (Az. S 20 SO 34/06):

"Es bedurfte keiner solchen Regelung, weil das Grundsicherungsrecht kein besonderer Teil des Sozialgesetzbuchs ist, der nach In-Kraft-Treten des SGB X (am 01.01.1981) Bestandteil des Sozialgesetzbuches geworden ist. Die durch das GSiG geregelte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist eine besondere Form der Hilfe zum Lebensunterhalt und gehört zu den Leistungen der Sozialhilfe im weitem Sinne des § 9 Abs. 1 SGB I. Diese Vorschrift lautet: " Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die seinem besonderen Bedarf entspricht, ihn zur Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschenwürdigen Lebens sichert. Hierbei müssen Leistungsberechtigte nach ihren Kräften mitwirken." Dies trifft auf die GSi-Leistungen zu. Diese Leistungen waren deshalb wie die Übrigen in §§ 3-10 SGB I aufgeführten Sozialleistungen schon vor dem In-Kraft-Treten des SGB X, nämlich seit dem In-Kraft-Treten des SGB I am 01.01.1976, Bestandteil des Sozialgesetzbuches. Dies erschließt sich auch daraus, dass die GSi-Leistung zunächst als besondere Sozialhilfeleistung in das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) integriert werden sollte (vgl. Artikel 8 des Entwurfs eines Altersvermögensgesetz, BT-Drucksache 14/4595, S. 30). Da es hiergegen jedoch politische Widerstände gab, wurde die Leistung in einem besonderen Gesetz, dem GSiG, normiert (vgl. dazu den Bericht des Ausschusses für Arbeit- und Sozialordnung, BT-Drucksache 14/5150, S. 48-51). Seit dem 01.01.2005 ist die GSi-Leistung Bestandteil des SGB XII ("Sozialhilfe") in dessen Viertem Kapitel (§§ 41-46 SGB XII). § 8 Nr. 2 SGB XII bestimmt nunmehr ausdrücklich, dass die Sozialhilfe die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung umfasst. War und ist aber diese Leistung Bestandteil der Sozialhilfe, die schon bei In-Kraft-Treten des SGB X Bestandteil des Sozialgesetzbuches war, so galt und gilt das Erste Kapitel des SGB X für diese Leistungen auch ohne besondere Anwendungsbestimmung."

Diesen Ausführungen schließt sich die Kammer nach eigener Überzeugungsbildung an.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit entsprechend zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu 4 Jahren nach der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X).

§ 44 SGB X findet entgegen der Auffassung des Beklagten auch im Recht der Grundsicherung Anwendung. Das Wesen der Grundsicherung schließt eine Anwendung von § 44 SGB X nicht aus. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht § 44 SGB X auf die Sozialhilfe nicht für anwendbar gehalten und dies mit der Eigenart der Sozialhilfe begründet (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.11.2003, Az.: 5 C 26/02). Bei der Sozialhilfe handele sich um eine Nothilfe, die gleichsam täglich neu regelungsbedürftig sei und deswegen einen gegenwärtigen Bedarf voraussetze. Daraus ergebe sich, dass für einen in der Vergangenheit bestandenen Bedarf der nicht mehr fortbesteht, rückwirkend kein Anspruch auf Sozialhilfe geltend gemacht werden könne.

Diese Rechtsprechung ist auf die Grundsicherung bei Erwerbsminderung nicht übertragbar. Denn bei dieser Leistungsform besteht die vom Bundesverwaltungsgericht als entscheidungserhebliche Eigenart der Sozialhilfe als eine ausschließlich auf die Gegenwart bezogene, gleichsam täglich neu regelungsbedürftige Hilfe nicht. Vielmehr ist die Grundsicherung zwar ebenfalls bedarfsorientiert. Sie ist jedoch nicht am Bedarfsdeckungsprinzip ausgerichtet, wonach nur der im Einzelfall notwendige Lebensunterhalt sichergestellt werden soll, sondern die Grundsicherung soll den grundlegenden Bedarf für den Lebensunterhalt sicherstellen. Es handelt sich bei der Grundsicherung um eine auf Dauer angelegte Sozialleistung, die in der Regel für einen Zeitraum von 12 Monaten bewilligt wird (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, § 6 Abs. 1 GSiG). Der Bescheid über die Bewilligung von Grundsicherung stellt einen Dauerverwaltungsakt dar (vgl. LPK-BSHG/Brühl, Anhang I (GSiG) § 6; Grube-Wahrendorf, SGB XII, § 44 Rn. 1). Entsprechend muss, wenn sich nachträglich herausstellt, dass eine Grundsicherungsleistung zu Unrecht abgelehnt oder nicht erbracht worden ist, ein rechtswidriger Bescheid nach § 44 Abs. 1 SGB X zurückgenommen werden (so auch VGH München, Beschl. v. 13.04.2005 Az.: 12 ZB 05.262); SG Aachen, Urt v. 07.06.2006, Az. S 20 SO 34/06; SG Köln, Urt. v. 06.02.2006, Az.: S 10 SO 15/05). Für das Recht der Grundsicherung ergibt sich darüber hinaus auch unmittelbar aus § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB XII (bzw. bis zum 31.12.2004 § 6 Satz 2 GSiG), dass hier der Gesetzgeber - anders als bei der Sozialhilfe - bei einer Änderung der Verhältnisse eine Leistungsanpassung rückwirkend für die Vergangenheit vorgesehen hat.

Bei Erlass der Bewilligungsbescheide hat der Beklagte das Recht auch unrichtig angewandt, denn der Beklagte hat das Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR im Monat zu Unrecht als Einkommen der Klägerin angerechnet. Gemäß § 41 Abs. 2 i.V.m § 82 bis 84 XII (bzw. bis zum 31.12.2004 § 2 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 und 2 GSiG i.V.m. § 76 ff. BSHG) hat ein Behinderter Anspruch auf Grundsicherungsleistungen, wenn er seinen Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen und Vermögen beschaffen kann.

Bei dem an die Mutter der Klägerin gezahlten Kindergeld handelt es sich jedoch nicht um Einkommen der Klägerin. Denn das Kindergeld für volljährige Kinder ist Einkommen desjenigen, an den es ausgezahlt wird. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Kindergeld dem Kind gesondert zugewendet wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.04.2005, Az.: 5 C 28/04; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 02.04.2004, Az.: 12 B 1577/03). Eine gesonderte Zuwendung ist hier weder ersichtlich, noch wird sie vom Beklagten vorgetragen. Da die zu Unrecht für die Vergangenheit nicht erbrachten Sozialleistungen gemäß § 44 Abs. 4 SGB X für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme nachzuzahlen sind, hat die Klägerin einen Anspruch für den von ihm geltend gemachten Zeitraum vom 01.01.2003 bis zum 31.05.2005.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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