L 5 ER 158/07 KR

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Speyer (RPF)
Aktenzeichen
S 7 ER 151/07 KR
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 5 ER 158/07 KR
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Die Versendung von Krankenversicherungskarten durch die neu gewählte Krankenkasse schon zu einem Zeitpunkt, zu dem die Kündigungsbestätigung der bisherigen Krankenkasse nach § 175 Abs. 2 Satz 2 SGB V nicht vorliegt, beeinträchtigt diese wettbewerbswidrig in ihren zulässigen Anstrengungen, das Mitglied zu halten.
2. Das Rechtsschutzbedürfnis für ein gerichtliches Eilverfahren entfällt nicht im Hinblick auf die Möglichkeit, gegen den Wettbewerbsverstoß ein Einschreiten der zuständigen Aufsichtsbehörde zu beantragen.
1. Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Speyer vom 27.04.2007 geändert: Der Antragsgegnerin wird unter Androhung eines Ordnungsgeldes von bis zu 250.000,00 EUR für jeden Fall des Zuwiderhandelns, ersatzweise Ordnungshaft, oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, zu vollziehen an einem vertretungsberechtigten Vorstandsmitglied der Antragsgegnerin, untersagt, im geschäftlichen Verkehr
a) potentielle Neukunden, die innerhalb der letzten 18 Monate vor Beginn der Versicherungspflicht oder Versicherungsberechtigung Mitglied der Antragstellerin waren, als neue Mitglieder zu bezeichnen und/oder an diese Krankenversicherungskarten zu übersenden, ohne das Vorliegen einer Kündigungsbestätigung abzuwarten,
b) an potentielle Neukunden, die innerhalb der letzten 18 Monate vor Beginn der Versicherungspflicht oder Versicherungsberechtigung Mitglied der Antragstellerin waren, oder an deren Arbeitgeber Mitgliedsbescheinigungen zu übersenden, ohne das Vorliegen einer Kündigungsbestätigung abzuwarten.

2. Die weitergehende Beschwerde der Antragstellerin wird zurückgewiesen.

3. Die Antragsgegnerin hat zwei Drittel, die Antragstellerin ein Drittel der Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen.

4. Der Streitwert wird, auch für das erstinstanzliche Verfahren, auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Streitig ist im einstweiligen Rechtsschutz die Wettbewerbswidrigkeit des Aufnahmeverfahrens der Antragsgegnerin für Neukunden.

Mit Antrag vom 05.04.2007, auf den hinsichtlich der Einzelheiten Bezug genommen wird, hat die Antragstellerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Antragsgegnerin beantragt und beanstandet, letztere habe in einer Vielzahl von Fällen Begrüßungsschreiben und Krankenversicherungskarten an bisher bei der Antragstellerin versicherte potentielle Neukunden übersandt, ohne gemäß § 175 Abs. 2 Satz 2 SGB V die Vorlage einer Kündigungsbestätigung abzuwarten. Hierdurch beeinträchtige sie die Haltebemühungen der Antragstellerin, indem sie den potentiellen Neukunden suggeriere, die Mitgliedschaft bei der Antragsgegnerin sei bereits zustande gekommen. Des Weiteren habe die Antragsgegnerin entgegen den Vorgaben der Wettbewerbsgrundsätze der Aufsichtsbehörden der gesetzlichen Krankenversicherung vom 19.03.1998 in der Fassung vom 09.11.2006 in einem Fall bereits eine Aufwandsentschädigung im Rahmen der Mitgliederwerbung gezahlt, obwohl eine Mitgliedschaft letztlich gar nicht zustande gekommen sei. Auch durch diese Verfahrensweise versuche die Antragsgegnerin vorzeitig den Eindruck zu erwecken, eine Mitgliedschaft sei schon zustande gekommen.
Die Antragsgegnerin hat eingewandt, der Antrag sei bereits unzulässig, jedenfalls aber unbegründet. § 175 Abs. 2 Satz 2 SGB V stelle lediglich eine Ordnungsvorschrift dar, die nicht die Wettbewerbsinteressen der Antragstellerin zu schützen vermöge. Im Übrigen sei der Antragstellerin in keinem der aufgeführten Fälle ein Schaden oder wirtschaftlicher Nachteil entstanden. Angesichts der Vielzahl der bei ihr eingehenden Mitgliedsanträge sei zudem eine wettbewerbsrechtliche Relevanz des von der Antragstellerin gerügten Verhaltens nicht zu erkennen.

Durch Beschluss vom 27.04.2007 hat das Sozialgericht Speyer (SG) den Antrag als unzulässig verworfen, weil es der Antragstellerin am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehle. Im Anschluss an den Beschluss des LSG Saarland vom 14.02.2007 (L 2 B 10/06 KR) seien die außerprozessualen Mittel im Sinne einer Einleitung eines aufsichtsbehördlichen Verfahrens, wie es in den Wettbewerbsgrundsätzen zur Konfliktlösung ausdrücklich vorgesehen sei, als einfacheres und gleich effektives Mittel zur Durchsetzung des hier streitgegenständlichen Begehrens vorrangig.

Gegen diesen Beschluss hat die Antragstellerin am 24.05.2007 Beschwerde erhoben, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt. Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen (Verfügung vom 25.05.2007).

II.

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin hat in der Sache überwiegend Erfolg. Anders als das SG hält der Senat ein Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin für die Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes für gegeben. Das Rechtsschutzbedürfnis ist im Hinblick auf andere Möglichkeiten des Rechtsschutzes nur dann zu verneinen, wenn es einfachere oder effektivere Möglichkeiten des Rechtsschutzes gibt; gleich einfache oder effektive Möglichkeiten reichen nicht aus. Die Möglichkeit an die Aufsichtsbehörde heranzutreten, besteht daher grundsätzlich neben der Möglichkeit der Klage. Etwas anderes mag gelten, wenn die Behörde bereits verbindlich erklärt hat, sie werde gegen das beanstandete Verfahren alsbald aufsichtsrechtlich einschreiten (vgl. zur Situation beim Sofortvollzug eines Verwaltungsaktes Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage, § 86b Rn. 7).

Die sofortige Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes durch die Antragstellerin ist, anders als die Antragsgegnerin meint, auch nicht deshalb rechtsmissbräuchlich, weil sich die Antragstellerin in einem mit umgekehrten Rubrum vor dem LSG Saarland geführten Wettbewerbsverfahren auf die - zur Überzeugung des Senats nicht zutreffende - Rechtsauffassung des dortigen Gerichts zum fehlenden Rechtsschutzbedürfnis beruft. Es ist nicht rechtsmissbräuchlich, wenn sich ein Beteiligter auf die unterschiedliche Rechtsauffassung verschiedener Gerichte bei seiner Argumentation einstellt.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG bei wettbewerbsrechtlichen Streitigkeiten der gesetzlichen Krankenkassen sind in der den Beteiligten bekannten Rechtsprechung des LSG Rheinland-Pfalz geklärt (vgl. nur Beschluss des 1. Senats vom 03.05.2005 - L 1 ER 11/05 KR; des erkennenden Senats zuletzt vom 14.06.2006 - L 5 ER 57/06 KR); hierauf nimmt der Senat weiterhin Bezug. Danach erfahren die Kassen bei der Mitgliederwerbung Beschränkungen, die sich aus der Pflicht der Kassen zur Aufklärung, Beratung und Information der Versicherten (§§ 13 bis 15 SGB I) sowie aus dem Gebot, bei der Erfüllung dieser und anderer gesetzlicher Aufgaben mit den übrigen Sozialversicherungsträgern zusammen zu arbeiten (§ 15 Abs. 3 SGB I; § 86 SGB X), ergeben und unter Berücksichtigung auch von § 4 Abs. 3 SGB V ein Gebot zur Rücksichtnahme auf die Belange der anderen Krankenversicherungsträger umfassen. Ferner sind die "Gemeinsamen Wettbewerbsgrundsätze der Aufsichtsbehörden" zu beachten. Diese definieren Werbemaßnahmen als solche, die auf Gewinn und Halten von Mitgliedern gerichtet sind. Letzteres beinhaltet i.V.m. dem Gebot zur Rücksichtnahme auf die Belange der anderen Krankenversicherungsträger zugleich die Verpflichtung der (potentiell) aufnehmenden Kasse (hier: der Antragsgegnerin) Maßnahmen zu unterlassen, die zulässige auf das Halten der umworbenen Versicherten gerichtete Anstrengungen der (potentiell) abgegebenden Kasse (hier: der Antragstellerin) rechtswidrig beeinträchtigen. Nach der "Gemeinsamen Vereinbarung der Spitzenverbände der Krankenkassen zum Krankenkassenwahlrecht" vom 22.11.2001, Nr. 5.2 (Seite 20) kann die Wahl bzw. der Aufnahmeantrag in den Fällen des § 175 Abs. 4 Sätze 1 und 2 SGB V noch bis zum Ende der Kündigungsfrist "korrigiert" werden, sodass Bemühungen der Antragstellerin als (potentiell) abgebende Krankenkasse eine Rücknahme der Kündigungserklärung zu erreichen, grundsätzlich nicht zu beanstanden sind. Anders als das SG Speyer im (bindend gewordenen) Beschluss vom 27.06.2006 - S 11 ER 176/06 KR - angenommen hat, misst daher der Senat der Verletzung des § 175 Abs. 2 Satz 2 SGB V durchaus auch Marktrelevanz im Hinblick auf den Wettbewerb der Kassen um das Anwerben bzw. Halten von Mitgliedern zu. Dass die Antragsgegnerin nach Erlass des Beschlusses des SG Speyer vom 27.06.2006 (S 11 ER 176/06 KR) weiterhin gegen die Regelung des § 175 Abs.2 Satz 2 SGB V verstößt, obwohl sie sich auf die unmissverständliche Anfrage des SG vom 22.06.2006 im seinerzeitigen Verfahren dahin erklärt hat, sie habe alle Mitarbeiter eindringlich durch gezielte Arbeitsablaufpläne auf das stringente rechtliche Einhalten bei der Ausstellung der Mitgliedsbescheinigung hingewiesen, hat die Antragsteller im Antragsverfahren in einer Mehrzahl von Fällen in der Antragsschrift vom 05.04.2007 und dem Schriftsatz vom 26.04.2007 glaubhaft gemacht. Angesichts der von der Antragstellerin zutreffend dargelegten Schwierigkeiten, nach einem erfolgten Kassenwechsel überhaupt von den abgeworbenen Mitgliedern nähere Informationen zum Vorgehen der Antragsgegnerin zu erhalten, kann insoweit von der Antragstellerin ein weiterer Nachweis zur Glaubhaftmachung nicht verlangt werden, wobei insbesondere die von der Antragsgegnerin im Verfahren SG Speyer S 11 ER 176/06 KR abgegebene Zusage, künftig ein rechtskonformes Verhalten ihrer Mitarbeiter sicherzustellen, zu berücksichtigen ist.

Soweit der Senat dem Antrag statt gibt, ist der Erlass der einstweiligen Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile der Antragstellerin erforderlich. Durch das Bezeichnen der potentiellen Neukunden als neue Mitglieder, das Übersenden von Krankenversicherungskarten und die Übersendung von Mitgliedsbescheinigungen an diese oder deren Arbeitgeber schon vor Vorlage der Kündigungsbestätigung erweckt die Antragsgegnerin vorzeitig den Eindruck, dass der Krankenkassenwechsel bereits abgeschlossen ist. Hierdurch werden zulässige Anstrengungen der Antragstellerin, die abgeworbenen Versicherten doch noch zu halten, rechtswidrig erschwert. Der Einwand der Antragsgegnerin, der Antragstellerin sei in den aufgeführten Beispielsfällen kein Schaden oder wirtschaftlicher Nachteil entstanden, rechtfertigt keine andere Beurteilung, weil der wettbewerbswidrige Nachteil für die Antragstellerin gerade darin liegt, dass in anderen Fällen ihre Haltebemühungen durch das Vorgehen der Antragsgegnerin erschwert bzw. vereitelt werden.

Etwas anderes gilt hinsichtlich der vorzeitigen Auszahlung einer Werbeprämie im Rahmen der Aktion "Mitglieder werben Mitglieder". Für dieses Verhalten der Antragsgegnerin hat die Antragstellerin lediglich einen einzelnen Beleg angeführt, indem zudem die Versendung des Verrechnungsschecks fast einen Monat nach Kündigung der Mitgliedschaft der betroffenen Versicherten bei der Antragstellerin erfolgt war. Anders als die Übersendung von Krankenversicherungskarten und/oder Mitgliedsnachweisen an (potentielle) Neukunden und/oder ihre Arbeitgeber lässt zudem dieses Verhalten angesichts der geringen Höhe der Werbeprämie von 20,00 EUR nicht ernsthaft befürchten, dass Haltebemühungen der Antragstellerin wegen der bereits ausgezahlten Prämie ein Überdenken der Wahlentscheidung maßgeblich vereiteln würden.

Die Androhung eines Ordnungsgeldes für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die Untersagungsverfügung sowie die Androhung von Ordnungshaft - letzteres mit der Maßgabe, dass diese ggf. an einem der vertretungsberechtigten Vorstandsmitglieder zu vollziehen ist (vgl. BGH 16.05.1991 - I ZR 218/89) - beruht auf § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. §§ 928, 890 ZPO. Dem Gesichtspunkt, dass Behörden aus rechtsstaatlichen Gründen gehalten sind, einstweiligen Anordnungen von sich aus ohne Vollstreckung nachzukommen, kommt in diesem Zusammenhang keine Bedeutung zu (vgl. BGH 22.10.1992 - IX ZR 36/92). Der Gesetzgeber hat zudem durch die einschränkungslose Aufnahme der Verweisung auf § 928 ZPO und damit auch auf § 890 ZPO in § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG zu erkennen gegeben, dass er in Ausnahmefällen auch Behörden gegenüber die Anwendung von Zwangsmitteln für gerechtfertigt erachtet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Abweichend vom SG setzt der Senat den Streitwert nicht auf den halben, sondern auf den vollen Regelstreitwert fest. Dies erscheint bei solchen Wettbewerbsstreitigkeiten angemessen, die in der Regel den gesamten Streit erledigen (Beschluss des Senats vom 14.06.2006 - L 5 ER 57/06 KR m.w.N.). Hinweise darauf, dass vorliegend noch mit einem anschließenden Hauptsacheverfahren zu rechnen ist, sind nicht ersichtlich.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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