Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 34/07
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 SO 28/07
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 26.02.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.04.2007 verurteilt, dem Kläger unter entsprechender Rücknahme der die Zeit vom 01.02.2003 bis 31.08.2006 betreffenden Bewilligungsbescheide weitere Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.02.2003 bis 31.08.2006 in Höhe von 6.622,00 EUR zu zahlen. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt der Beklagte. Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf weitere Leistungen der Grundsicherung (GSi) bei Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.02.2003 bis 31.08.2006 in Höhe von monatlich 154,00 EUR, insgesamt 6.622,00 EUR.
Der am 00.00.1960 geborene Kläger ist schwerbehindert und dauerhaft erwerbsgemindert. Er lebt im Haushalt der Mutter, die für ihn Kindergeld bezieht. Der Kläger erhält seit 01.02.2003 Leistungen der GSi bei Erwerbsminderung, bis 31.12.2004 nach dem Grundsicherungsgesetz (GSiG), seit dem 01.01.2005 nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Auf diese Leistungen rechnete der Beklagte bis 31.08.2006 das Kindergeld, das der Mutter des Klägers gezahlt wurde (monatlich 154,00 EUR), als Einkommen des Klägers an. Die entsprechenden Bewilligungsbescheide wurde bestandskräftig.
Mit Schreiben vom 23.09.2006 teilte die Mutter des Klägers dem Beklagten mit, dass sie das ihr zustehende Kindergeld nicht an ihren Sohn weitergeben könne und auch in der Vergangenheit nicht weitergegeben habe. Sie bat um rückwirkende Überweisung der in der Vergangenheit nicht überwiesenen Leistungen. Am 30.10.2006 beantragte der Kläger die Überprüfung der GSi-Leistungsbewilligungen seit der (Erst-)antragstellung und Korrektur der Berechnungen ohne Anrechnung des Kindergeldes auf die GSi-Leistung.
Durch Bescheid vom 14.11.2006 bewilligte der Beklagte die GSi-Leistungen ab 01.09.2006 ohne Anrechnung des monatlichen Kindergeldes von 154,00 EUR.
Durch Bescheid vom 26.02.2007 lehnte der Beklagte eine Korrektur der Berechnungen und Nachbewilligung der GSi-Leistungen ohne Anrechnung des jeweils gezahlten Kindergeldes für die Zeit vor dem 01.09.2006 ab. Den dagegen am 01.03.2007 eingelegten Widerspruch wies er durch Widerspruchsbescheid vom 24.04.2007 zurück. Er führte darin u.a. aus: "Nach §§ 28a, 68 Nr. 18 des Sozialgesetzbuches Erstes Buch (SGB I) in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung gilt das Grundsicherungsgesetz bis zu seiner Einordnung in das Sozialgesetzbuch als dessen besonderer Teil. In § 37 Satz 1 SGB I wird bestimmt, dass das Erste und Zehnte Buch Sozialgesetzbuch für alle Sozialleistungsbereiche dieses Gesetzbuches und damit auch für das Grundsicherungsgesetz gelten. Damit findet auch § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB X Anwendung, der bestimmt, dass für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden der Länder, der Gemeinden und Gemeindeverbände zur Ausführung von besonderen Teilen dieses Gesetzbuches, die nach In-Kraft-Treten der Vorschriften dieses Kapitels am 01. Januar 1981 Bestandteil des Sozialgesetzbuches werden, die Vorschriften des 1. Kapitels des SGB X nur gelten, soweit diese besondere Teile des Sozialgesetzbuches mit Zustimmung des Bundesrates die Vorschriften dieses Kapitels für anwendbar erklären. Diese Vorbehaltsklausel in § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB X, die hinsichtlich der Anwendbarkeit von Verwaltungsverfahrensvorschriften die Gesetzgebungskompetenz der Länder wahren soll (Artikel 84 Abs. 1 GG) greift hier. Da das Grundsicherungsgesetz erst nach dem 01. Januar 1981 Bestandteil des Sozialgesetzbuches geworden ist, gelten für die mit dem Vollzug dieses Gesetzes beauftragten Landesbehörden, Gemeinden und Gemeindeverbände (vgl. § 4 GSiG) die Vorschriften des 1. Kapitels des SGB X, das sind die §§ 1 bis 66 SGB X, nicht, weil das Grundsicherungsgesetz sie nicht gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB X für anwendbar erklärt. Die mit dem Vollzug des Grundsicherungsgesetzes beauftragten Landesbehörden, Gemeinden und Gemeindeverbände haben mithin jeweils ihre landesrechtlichen Vorschriften zum Verwaltungsverfahren anzuwenden. Insoweit findet hier das Verwaltungsverfahrensgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVfG NW) in der Fassung der Bekanntmachung vom 12.11.1999 (GV NW S. 602) Anwendung. Nach § 48 VwVfG NW kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt,auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), darf nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden."
Der Beklagte führte weiter aus, dass er sich zur Rücknahme der Bescheide nach pflichtgemäßer Ausübung des eingeräumten Ermessens außerstande sehe; hierfür sprächen vor allem Gründe der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens. Anzumerken sei weiter, dass der Kläger die Möglichkeit gehabt habe, gegen die Bescheide innerhalb der Frist Widerspruch einzulegen. Das öffentliche Interesse an der Bestandskraft der Bescheide wiege hier schwerer als die privaten Interessen des Klägers.
Dagegen hat der Kläger am 02.05.2007 Klage erhoben.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 26.02.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.04.2007 zu verurteilen, ihm unter entsprechender Rücknahme aller die Zeit vom 01.02.2003 bis 31.08.2006 betreffenden Bewilligungs- bescheide weitere Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbs- minderung für die Zeit vom 01.02.2003 bis 31.08.2006 in Höhe von 6.622,00 EUR zu bezahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide des Beklagten beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Er hat Anspruch auf Rücknahme der Bewilligungsbescheide für die Zeit vom 01.02.2003 bis 31.08.2006, soweit hierdurch das seiner Mutter gezahlte Kindergeld als sein Einkommen berücksichtigt worden ist, und Nachzahlung der dadurch zu wenig erbrachten GSi-Leistungen. Dies folgt aus § 44 SGB X.
Der Anwendung dieser Vorschrift steht § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB X nicht entgegen. Dort ist bestimmt, dass für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Gemeinden und Gemeindeverbände zur Ausführung von besonderen Teilen dieses Gesetzbuches, die nach In-Kraft-Treten der Vorschriften dieses Kapitels Bestandteil des Sozialgesetzbuches werden, die Vorschriften des Ersten Kapitels des SGB X nur gelten, soweit diese besonderen Teile mit Zustimmung des Bundesrates die Vorschriften dieses Kapitels für anwendbar erklären. Das hier anzuwendende Gesetz über die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG), das in der Zeit vom 01.01.2003 bis 31.12.2004 in Kraft war und seit 01.01.2005 durch das Vierte Kapitel des SGB XII abgelöst worden ist, enthielt – anders als z.B. das Bundeserziehungsgeldgesetz (§ 22 Abs. 1 BErzGG) oder das Elfte Buch Sozialgesetzbuch über die Pflegeversicherung (§ 46 Abs. 2 Satz 4 SGB XI) – keine Bestimmung zur Anwendung des Ersten Kapitels des SGB X. Dies war jedoch keine vom Gesetzgeber nicht gewollte Lücke im GSiG (so: Linhart/Adolph, NDV 2003, 137). Es bedurfte keiner solchen Regelung, weil das GSi-Recht kein besonderer Teil des Sozialgesetzbuchs ist, der nach In-Kraft-Treten des SGB X (am 01.01.1981) Bestandteil des Sozialgesetzbuches geworden ist. Die durch das GSiG geregelte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist eine besondere Form der Hilfe zum Lebensunterhalt und gehört zu den Leistungen der Sozialhilfe im weitem Sinne des § 9 Abs. 1 SGB I. Diese Vorschrift lautet: " Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die seinem besonderen Bedarf entspricht, ihn zur Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschenwürdigen Lebens sichert. Hierbei müssen Leistungsberechtigte nach ihren Kräften mitwirken."
Dies trifft auf die GSi-Leistungen zu. Diese Leistungen waren deshalb wie die übrigen in §§ 3-10 SGB I aufgeführten Sozialleistungen schon vor dem In-Kraft-Treten des SGB X, nämlich seit dem In-Kraft-Treten des SGB I am 01.01.1976, Bestandteil des Sozialgesetzbuches. Dies erschließt sich auch daraus, dass die GSi-Leistung zunächst als besondere Sozialhilfeleistung in das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) integriert werden sollte (vgl. Artikel 8 des Entwurfs eines Altersvermögensgesetz, BT-Drucksache 14/4595, S. 30). Da es hiergegen jedoch politische Widerstände gab, wurde die Leistung in einem besonderen Gesetz, dem GSiG, normiert (vgl. dazu den Bericht des Ausschusses für Arbeit- und Sozialordnung, BT-Drucksache 14/5150, S. 48-51). Seit dem 01.01.2005 ist die GSi-Leistung Bestandteil des SGB XII ("Sozialhilfe") in dessen Viertem Kapitel (§§ 41-46 SGB XII). § 8 Nr. 2 SGB XII bestimmt nunmehr ausdrücklich, dass die Sozialhilfe die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung umfasst. War und ist aber diese Leistung Bestandteil der Sozialhilfe, die schon bei In-Kraft-Treten des SGB X Bestandteil des Sozialgesetzbuches war, so galt und gilt das Erste Kapitel des SGB X für diese Leistungen auch ohne besondere Anwendungsbestimmung. Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzel- fall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
Bei Erlass der Bewilligungsbescheide, soweit die Zeit vom 01.02.2003 bis 31.08.2006 betroffen ist, hat der Beklagte das Recht unrichtig angewandt. Er hat das der Mutter des Klägers gewährte Kindergeld als Einkommen des Klägers berücksichtigt, obwohl dies nach § 3 Abs. 2 GSiG i.V.m. §§ 76-88 BSHG bis 31.12.2004 und seit 01.01.2005 nach §§ 41 Abs. 2, 82 bis 84 SGB XII nicht zulässig war. Denn Kindergeld ist sozialhilferechtlich Einkommen dessen, an den es ausgezahlt wird (BVerwG, Urteil vom 28.04.2005 – 5 C 28/04; OVG NRW, Beschluss vom 02.04.2004 – 12 B 1577/03; Sächsisches OVG, Urteil vom 25.01.2005 – 4 B 580/04; BSG, Urteile vom 08.02.2007 - B 9b SO 5/06 R, B 9b SO 6/06 R und B 9b SO 5/05 R). Da das Kindergeld nicht dem Kläger, sondern einem Elternteil ausgezahlt wurde, stellte es kein berücksichtigungsfähiges Einkommen des Klägers dar und war es nicht geeignet, den Bedarf des grundsicherungsberechtigten Klägers zu mindern. Durch die Berücksichtigung des Kindergeldes als Einkommen des Klägers hat der Beklagte in entsprechender Höhe Leistungen nach dem GSiG nicht erbracht, für 43 Monate jeweils 154,00 EUR, zusammen 6622,00 EUR. Diese GSi-Leistungen sind Sozialleistungen im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X (vgl. § 28a SGB I, in Kraft vom 01.01.2003 bis 31.12.2004; seit 01.01.2005: § 28 Abs. 1 Nr. 1a SGB I).
Dies begründet den Anspruch des Klägers auf teilweise Rücknahme der den Zeitraum vom 01.02.2003 bis 31.08.2006 betreffenden Bewilligungsbescheide trotz ihrer Bestandskraft auch mit Wirkung für die Vergangenheit und Nachzahlung der Sozial- leistungen gem. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Danach werden Sozialleistungen nach der Rücknahme des Verwaltungsakts mit Wirkung für die Vergangenheit längstens für einen Zeitraum bis zu 4 Jahren vor der Rücknahme erbracht. Der Anwendung dieser Vorschrift steht nicht die Rechtssprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) entgegen. Das BVerwG hat aus dem Grundsatz "keine Sozialhilfe für die Vergangenheit" abgeleitet, dass § 44 SGB X – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auf das Leistungsrecht nach dem BSHG nicht anwendbar ist. § 44 Abs. 1 und 4 SGB X gelte – so das BVerwG – für zu Unrecht nicht erbrachte Sozialhilfeleistungen deshalb nicht, weil sich aus dem BSHG ergebe, dass Sozialhilfe Nothilfe sei und ein Anspruch auf Sozialhilfeleistungen grundsätzlich einen gegenwärtigen Bedarf voraussetze. Habe ein Bedarf, für den das BSHG Hilfeleistungen bestimme, in der Vergangenheit bestanden, bestehe er aber jetzt nicht (mehr) (fort), fehle es an einer für den Sozialhilfeanspruch wesentlichen Anspruchsvoraussetzung; es bestehe kein Anspruch auf Hilfe für die Vergangenheit (BVerwG, Urteil vom 13.11.2003 – 5 C 26/02 = FEVS 55, 320 = ZFSH/SGB 2004, 371 = DÖV 2004, 793 = info also 2004, 261). Diese vom Bundesverwaltungsgericht herausgestellte Eigenart der Sozialhilfe, dass nämlich der Sozialhilfefall "gleichsam täglich neu regelungsbedürftig" ist (vgl. BVerwG a.a.O.), ist dem Recht der Grundsicherung nicht immanent. Dies haben das Verwaltungsgericht Aachen (Urteile vom 19.07.2005 – 2 K 469/04 und 2 K 2904/04), das VG Augsburg (Urteil vom 21.12.2004 – Au 3 K 04.617) und der VGH München (Beschluss vom 13.04.2005 – 12 ZB 05.262 = FEVS 56, 574) überzeugend begründet. Die Grundsicherung sei zwar bedarfsorientiert, nicht aber am sozialhilferechtlichen Bedarfsdeckungsprinzip ausgerichtet. Anders als der Regelfall in der Sozialhilfe könne deshalb bei der Grundsicherung zur Zeit der Rücknahme nach § 44 Abs. 1 SGB X und der Leistungserbringung nach § 44 Abs. 4 SGB X durchaus ein Anspruch auf Grundsicherungsleistung noch bestehen, weil die Grundsicherung eben nicht am sozialhilferechtlichen Bedarf ausgerichtet sei (VGH München a.a.O.). Weiter heißt es in dem Beschluss:
"Für die Anwendbarkeit des § 44 SGB X im Recht der Grundsicherung spricht auch dessen Konzeption als eine auf Dauer angelegte Sozialleistung. Abweichend von der üblicherweise monatsweisen Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt werden Leistungen der Grundsicherung für zwölf Kalendermonate bewilligt (§ 6 Abs. 1 GSiG; 3 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Der Bewilligungsbescheid über Grundsicherung ist deshalb ein Dauerverwaltungsakt (vgl. Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Stand: 2005, RdNr. 1 zu § 44; Rothkegel, Strukturpinzipien des SGB XII/BSHG). Anders als die "gleichsam täglich neu regelungsbedürftige" und deshalb üblicherweise monatsweise bewilligte Hilfe zum Lebensunterhalt, sind die auf einen jährlichen Bewilligungszeitraum gerichteten Leistungen der Grundsicherung bei Änderung in den Voraussetzungen von Amts wegen neu festzusetzen. Nach Änderung der Verhältnisse muss der alte Bescheid gerade wegen seiner Dauerwirkung aufgehoben und ein neuer erlassen werden. Stellt sich nachträglich heraus, dass eine Grundsicherungsleistung zu Unrecht abgelehnt oder – wie hier – nicht in der zustehenden Höhe zuerkannt worden ist, muss der rechtswidrige Bescheid gemäß § 44 Abs. 1 SGB X zurückgenommen werden können /vgl. Kunkel – Das Grundsicherungsgesetz, ZFSH/SGB 2003, 330; auch Wahrendorf in Grube/Wahrendorf a.a.O., RdNr.1 rückwirkend zu erbringen (vgl. Kunkel, a.a.O.).
Schließlich sehen aber auch die Vorschriften des Grundsicherungsrechts selbst Leistungen für die Vergangenheit vor. Für die Erstbewilligung regelte § 6 Satz 2 GSiG eine Ausnahme für den Beginn der Bewilligung. Hier war die Leistung bei einer Änderung rückwirkend zum Ersten des Antragsmonats zu gewähren, also auch dann, wenn der Antrag erst am Ende des Monats gestellt worden war. Auch nach § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB XII beginnt bei der Erstbewilligung oder bei einer Änderung der Leistung der Bewilligungszeitraums am Ersten des Monats, in dem der Antrag gestellt worden ist oder die Voraussetzungen für die Änderung eingetreten oder mitgeteilt worden sind. Auch danach ist die Leistung rückwirkend zum Ersten des Antragsmonats zu gewähren."
Dem schließt sich die Kammer im vollem Umfang an. Ein vergleichender Blick auf die bis 31.12.2004 geltende Arbeitslosenhilfe zeigt, dass auch diese Leistung bedürftigkeitsabhängig und steuerfinanziert, gleichwohl die Anwendbarkeit von § 44 SGB X im Recht der Arbeitslosenhilfe unbestritten war.
Nach alledem sind die bestandskräftigen Bescheide des Beklagten über die Bewilligung von GSi-Leistungen für den Zeitraum 01.02.2003 bis 31.08.2006 zurückzunehmen, soweit dadurch das Kindergeld als Einkommen des Klägers berücksichtigt worden ist. Die für die Zeit vom 01.02.2003 bis 31.08.2006 zu wenig gezahlte GSi-Leistung in Höhe von 6622,00 EUR (43 Monate á 154,00 EUR) ist dem Kläger nachzuzahlen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Kammer hat die Sprungrevision zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§§ 161 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 161 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf weitere Leistungen der Grundsicherung (GSi) bei Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.02.2003 bis 31.08.2006 in Höhe von monatlich 154,00 EUR, insgesamt 6.622,00 EUR.
Der am 00.00.1960 geborene Kläger ist schwerbehindert und dauerhaft erwerbsgemindert. Er lebt im Haushalt der Mutter, die für ihn Kindergeld bezieht. Der Kläger erhält seit 01.02.2003 Leistungen der GSi bei Erwerbsminderung, bis 31.12.2004 nach dem Grundsicherungsgesetz (GSiG), seit dem 01.01.2005 nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Auf diese Leistungen rechnete der Beklagte bis 31.08.2006 das Kindergeld, das der Mutter des Klägers gezahlt wurde (monatlich 154,00 EUR), als Einkommen des Klägers an. Die entsprechenden Bewilligungsbescheide wurde bestandskräftig.
Mit Schreiben vom 23.09.2006 teilte die Mutter des Klägers dem Beklagten mit, dass sie das ihr zustehende Kindergeld nicht an ihren Sohn weitergeben könne und auch in der Vergangenheit nicht weitergegeben habe. Sie bat um rückwirkende Überweisung der in der Vergangenheit nicht überwiesenen Leistungen. Am 30.10.2006 beantragte der Kläger die Überprüfung der GSi-Leistungsbewilligungen seit der (Erst-)antragstellung und Korrektur der Berechnungen ohne Anrechnung des Kindergeldes auf die GSi-Leistung.
Durch Bescheid vom 14.11.2006 bewilligte der Beklagte die GSi-Leistungen ab 01.09.2006 ohne Anrechnung des monatlichen Kindergeldes von 154,00 EUR.
Durch Bescheid vom 26.02.2007 lehnte der Beklagte eine Korrektur der Berechnungen und Nachbewilligung der GSi-Leistungen ohne Anrechnung des jeweils gezahlten Kindergeldes für die Zeit vor dem 01.09.2006 ab. Den dagegen am 01.03.2007 eingelegten Widerspruch wies er durch Widerspruchsbescheid vom 24.04.2007 zurück. Er führte darin u.a. aus: "Nach §§ 28a, 68 Nr. 18 des Sozialgesetzbuches Erstes Buch (SGB I) in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung gilt das Grundsicherungsgesetz bis zu seiner Einordnung in das Sozialgesetzbuch als dessen besonderer Teil. In § 37 Satz 1 SGB I wird bestimmt, dass das Erste und Zehnte Buch Sozialgesetzbuch für alle Sozialleistungsbereiche dieses Gesetzbuches und damit auch für das Grundsicherungsgesetz gelten. Damit findet auch § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB X Anwendung, der bestimmt, dass für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden der Länder, der Gemeinden und Gemeindeverbände zur Ausführung von besonderen Teilen dieses Gesetzbuches, die nach In-Kraft-Treten der Vorschriften dieses Kapitels am 01. Januar 1981 Bestandteil des Sozialgesetzbuches werden, die Vorschriften des 1. Kapitels des SGB X nur gelten, soweit diese besondere Teile des Sozialgesetzbuches mit Zustimmung des Bundesrates die Vorschriften dieses Kapitels für anwendbar erklären. Diese Vorbehaltsklausel in § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB X, die hinsichtlich der Anwendbarkeit von Verwaltungsverfahrensvorschriften die Gesetzgebungskompetenz der Länder wahren soll (Artikel 84 Abs. 1 GG) greift hier. Da das Grundsicherungsgesetz erst nach dem 01. Januar 1981 Bestandteil des Sozialgesetzbuches geworden ist, gelten für die mit dem Vollzug dieses Gesetzes beauftragten Landesbehörden, Gemeinden und Gemeindeverbände (vgl. § 4 GSiG) die Vorschriften des 1. Kapitels des SGB X, das sind die §§ 1 bis 66 SGB X, nicht, weil das Grundsicherungsgesetz sie nicht gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB X für anwendbar erklärt. Die mit dem Vollzug des Grundsicherungsgesetzes beauftragten Landesbehörden, Gemeinden und Gemeindeverbände haben mithin jeweils ihre landesrechtlichen Vorschriften zum Verwaltungsverfahren anzuwenden. Insoweit findet hier das Verwaltungsverfahrensgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVfG NW) in der Fassung der Bekanntmachung vom 12.11.1999 (GV NW S. 602) Anwendung. Nach § 48 VwVfG NW kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt,auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), darf nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden."
Der Beklagte führte weiter aus, dass er sich zur Rücknahme der Bescheide nach pflichtgemäßer Ausübung des eingeräumten Ermessens außerstande sehe; hierfür sprächen vor allem Gründe der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens. Anzumerken sei weiter, dass der Kläger die Möglichkeit gehabt habe, gegen die Bescheide innerhalb der Frist Widerspruch einzulegen. Das öffentliche Interesse an der Bestandskraft der Bescheide wiege hier schwerer als die privaten Interessen des Klägers.
Dagegen hat der Kläger am 02.05.2007 Klage erhoben.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 26.02.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.04.2007 zu verurteilen, ihm unter entsprechender Rücknahme aller die Zeit vom 01.02.2003 bis 31.08.2006 betreffenden Bewilligungs- bescheide weitere Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbs- minderung für die Zeit vom 01.02.2003 bis 31.08.2006 in Höhe von 6.622,00 EUR zu bezahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide des Beklagten beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Er hat Anspruch auf Rücknahme der Bewilligungsbescheide für die Zeit vom 01.02.2003 bis 31.08.2006, soweit hierdurch das seiner Mutter gezahlte Kindergeld als sein Einkommen berücksichtigt worden ist, und Nachzahlung der dadurch zu wenig erbrachten GSi-Leistungen. Dies folgt aus § 44 SGB X.
Der Anwendung dieser Vorschrift steht § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB X nicht entgegen. Dort ist bestimmt, dass für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Gemeinden und Gemeindeverbände zur Ausführung von besonderen Teilen dieses Gesetzbuches, die nach In-Kraft-Treten der Vorschriften dieses Kapitels Bestandteil des Sozialgesetzbuches werden, die Vorschriften des Ersten Kapitels des SGB X nur gelten, soweit diese besonderen Teile mit Zustimmung des Bundesrates die Vorschriften dieses Kapitels für anwendbar erklären. Das hier anzuwendende Gesetz über die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG), das in der Zeit vom 01.01.2003 bis 31.12.2004 in Kraft war und seit 01.01.2005 durch das Vierte Kapitel des SGB XII abgelöst worden ist, enthielt – anders als z.B. das Bundeserziehungsgeldgesetz (§ 22 Abs. 1 BErzGG) oder das Elfte Buch Sozialgesetzbuch über die Pflegeversicherung (§ 46 Abs. 2 Satz 4 SGB XI) – keine Bestimmung zur Anwendung des Ersten Kapitels des SGB X. Dies war jedoch keine vom Gesetzgeber nicht gewollte Lücke im GSiG (so: Linhart/Adolph, NDV 2003, 137). Es bedurfte keiner solchen Regelung, weil das GSi-Recht kein besonderer Teil des Sozialgesetzbuchs ist, der nach In-Kraft-Treten des SGB X (am 01.01.1981) Bestandteil des Sozialgesetzbuches geworden ist. Die durch das GSiG geregelte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist eine besondere Form der Hilfe zum Lebensunterhalt und gehört zu den Leistungen der Sozialhilfe im weitem Sinne des § 9 Abs. 1 SGB I. Diese Vorschrift lautet: " Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die seinem besonderen Bedarf entspricht, ihn zur Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschenwürdigen Lebens sichert. Hierbei müssen Leistungsberechtigte nach ihren Kräften mitwirken."
Dies trifft auf die GSi-Leistungen zu. Diese Leistungen waren deshalb wie die übrigen in §§ 3-10 SGB I aufgeführten Sozialleistungen schon vor dem In-Kraft-Treten des SGB X, nämlich seit dem In-Kraft-Treten des SGB I am 01.01.1976, Bestandteil des Sozialgesetzbuches. Dies erschließt sich auch daraus, dass die GSi-Leistung zunächst als besondere Sozialhilfeleistung in das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) integriert werden sollte (vgl. Artikel 8 des Entwurfs eines Altersvermögensgesetz, BT-Drucksache 14/4595, S. 30). Da es hiergegen jedoch politische Widerstände gab, wurde die Leistung in einem besonderen Gesetz, dem GSiG, normiert (vgl. dazu den Bericht des Ausschusses für Arbeit- und Sozialordnung, BT-Drucksache 14/5150, S. 48-51). Seit dem 01.01.2005 ist die GSi-Leistung Bestandteil des SGB XII ("Sozialhilfe") in dessen Viertem Kapitel (§§ 41-46 SGB XII). § 8 Nr. 2 SGB XII bestimmt nunmehr ausdrücklich, dass die Sozialhilfe die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung umfasst. War und ist aber diese Leistung Bestandteil der Sozialhilfe, die schon bei In-Kraft-Treten des SGB X Bestandteil des Sozialgesetzbuches war, so galt und gilt das Erste Kapitel des SGB X für diese Leistungen auch ohne besondere Anwendungsbestimmung. Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzel- fall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
Bei Erlass der Bewilligungsbescheide, soweit die Zeit vom 01.02.2003 bis 31.08.2006 betroffen ist, hat der Beklagte das Recht unrichtig angewandt. Er hat das der Mutter des Klägers gewährte Kindergeld als Einkommen des Klägers berücksichtigt, obwohl dies nach § 3 Abs. 2 GSiG i.V.m. §§ 76-88 BSHG bis 31.12.2004 und seit 01.01.2005 nach §§ 41 Abs. 2, 82 bis 84 SGB XII nicht zulässig war. Denn Kindergeld ist sozialhilferechtlich Einkommen dessen, an den es ausgezahlt wird (BVerwG, Urteil vom 28.04.2005 – 5 C 28/04; OVG NRW, Beschluss vom 02.04.2004 – 12 B 1577/03; Sächsisches OVG, Urteil vom 25.01.2005 – 4 B 580/04; BSG, Urteile vom 08.02.2007 - B 9b SO 5/06 R, B 9b SO 6/06 R und B 9b SO 5/05 R). Da das Kindergeld nicht dem Kläger, sondern einem Elternteil ausgezahlt wurde, stellte es kein berücksichtigungsfähiges Einkommen des Klägers dar und war es nicht geeignet, den Bedarf des grundsicherungsberechtigten Klägers zu mindern. Durch die Berücksichtigung des Kindergeldes als Einkommen des Klägers hat der Beklagte in entsprechender Höhe Leistungen nach dem GSiG nicht erbracht, für 43 Monate jeweils 154,00 EUR, zusammen 6622,00 EUR. Diese GSi-Leistungen sind Sozialleistungen im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X (vgl. § 28a SGB I, in Kraft vom 01.01.2003 bis 31.12.2004; seit 01.01.2005: § 28 Abs. 1 Nr. 1a SGB I).
Dies begründet den Anspruch des Klägers auf teilweise Rücknahme der den Zeitraum vom 01.02.2003 bis 31.08.2006 betreffenden Bewilligungsbescheide trotz ihrer Bestandskraft auch mit Wirkung für die Vergangenheit und Nachzahlung der Sozial- leistungen gem. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Danach werden Sozialleistungen nach der Rücknahme des Verwaltungsakts mit Wirkung für die Vergangenheit längstens für einen Zeitraum bis zu 4 Jahren vor der Rücknahme erbracht. Der Anwendung dieser Vorschrift steht nicht die Rechtssprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) entgegen. Das BVerwG hat aus dem Grundsatz "keine Sozialhilfe für die Vergangenheit" abgeleitet, dass § 44 SGB X – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auf das Leistungsrecht nach dem BSHG nicht anwendbar ist. § 44 Abs. 1 und 4 SGB X gelte – so das BVerwG – für zu Unrecht nicht erbrachte Sozialhilfeleistungen deshalb nicht, weil sich aus dem BSHG ergebe, dass Sozialhilfe Nothilfe sei und ein Anspruch auf Sozialhilfeleistungen grundsätzlich einen gegenwärtigen Bedarf voraussetze. Habe ein Bedarf, für den das BSHG Hilfeleistungen bestimme, in der Vergangenheit bestanden, bestehe er aber jetzt nicht (mehr) (fort), fehle es an einer für den Sozialhilfeanspruch wesentlichen Anspruchsvoraussetzung; es bestehe kein Anspruch auf Hilfe für die Vergangenheit (BVerwG, Urteil vom 13.11.2003 – 5 C 26/02 = FEVS 55, 320 = ZFSH/SGB 2004, 371 = DÖV 2004, 793 = info also 2004, 261). Diese vom Bundesverwaltungsgericht herausgestellte Eigenart der Sozialhilfe, dass nämlich der Sozialhilfefall "gleichsam täglich neu regelungsbedürftig" ist (vgl. BVerwG a.a.O.), ist dem Recht der Grundsicherung nicht immanent. Dies haben das Verwaltungsgericht Aachen (Urteile vom 19.07.2005 – 2 K 469/04 und 2 K 2904/04), das VG Augsburg (Urteil vom 21.12.2004 – Au 3 K 04.617) und der VGH München (Beschluss vom 13.04.2005 – 12 ZB 05.262 = FEVS 56, 574) überzeugend begründet. Die Grundsicherung sei zwar bedarfsorientiert, nicht aber am sozialhilferechtlichen Bedarfsdeckungsprinzip ausgerichtet. Anders als der Regelfall in der Sozialhilfe könne deshalb bei der Grundsicherung zur Zeit der Rücknahme nach § 44 Abs. 1 SGB X und der Leistungserbringung nach § 44 Abs. 4 SGB X durchaus ein Anspruch auf Grundsicherungsleistung noch bestehen, weil die Grundsicherung eben nicht am sozialhilferechtlichen Bedarf ausgerichtet sei (VGH München a.a.O.). Weiter heißt es in dem Beschluss:
"Für die Anwendbarkeit des § 44 SGB X im Recht der Grundsicherung spricht auch dessen Konzeption als eine auf Dauer angelegte Sozialleistung. Abweichend von der üblicherweise monatsweisen Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt werden Leistungen der Grundsicherung für zwölf Kalendermonate bewilligt (§ 6 Abs. 1 GSiG; 3 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Der Bewilligungsbescheid über Grundsicherung ist deshalb ein Dauerverwaltungsakt (vgl. Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Stand: 2005, RdNr. 1 zu § 44; Rothkegel, Strukturpinzipien des SGB XII/BSHG). Anders als die "gleichsam täglich neu regelungsbedürftige" und deshalb üblicherweise monatsweise bewilligte Hilfe zum Lebensunterhalt, sind die auf einen jährlichen Bewilligungszeitraum gerichteten Leistungen der Grundsicherung bei Änderung in den Voraussetzungen von Amts wegen neu festzusetzen. Nach Änderung der Verhältnisse muss der alte Bescheid gerade wegen seiner Dauerwirkung aufgehoben und ein neuer erlassen werden. Stellt sich nachträglich heraus, dass eine Grundsicherungsleistung zu Unrecht abgelehnt oder – wie hier – nicht in der zustehenden Höhe zuerkannt worden ist, muss der rechtswidrige Bescheid gemäß § 44 Abs. 1 SGB X zurückgenommen werden können /vgl. Kunkel – Das Grundsicherungsgesetz, ZFSH/SGB 2003, 330; auch Wahrendorf in Grube/Wahrendorf a.a.O., RdNr.1 rückwirkend zu erbringen (vgl. Kunkel, a.a.O.).
Schließlich sehen aber auch die Vorschriften des Grundsicherungsrechts selbst Leistungen für die Vergangenheit vor. Für die Erstbewilligung regelte § 6 Satz 2 GSiG eine Ausnahme für den Beginn der Bewilligung. Hier war die Leistung bei einer Änderung rückwirkend zum Ersten des Antragsmonats zu gewähren, also auch dann, wenn der Antrag erst am Ende des Monats gestellt worden war. Auch nach § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB XII beginnt bei der Erstbewilligung oder bei einer Änderung der Leistung der Bewilligungszeitraums am Ersten des Monats, in dem der Antrag gestellt worden ist oder die Voraussetzungen für die Änderung eingetreten oder mitgeteilt worden sind. Auch danach ist die Leistung rückwirkend zum Ersten des Antragsmonats zu gewähren."
Dem schließt sich die Kammer im vollem Umfang an. Ein vergleichender Blick auf die bis 31.12.2004 geltende Arbeitslosenhilfe zeigt, dass auch diese Leistung bedürftigkeitsabhängig und steuerfinanziert, gleichwohl die Anwendbarkeit von § 44 SGB X im Recht der Arbeitslosenhilfe unbestritten war.
Nach alledem sind die bestandskräftigen Bescheide des Beklagten über die Bewilligung von GSi-Leistungen für den Zeitraum 01.02.2003 bis 31.08.2006 zurückzunehmen, soweit dadurch das Kindergeld als Einkommen des Klägers berücksichtigt worden ist. Die für die Zeit vom 01.02.2003 bis 31.08.2006 zu wenig gezahlte GSi-Leistung in Höhe von 6622,00 EUR (43 Monate á 154,00 EUR) ist dem Kläger nachzuzahlen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Kammer hat die Sprungrevision zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§§ 161 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 161 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
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